MIKIS ON

Tage ohne Musik

Tag 7

Abend. Das Schiff fährt von Athen nach Chania. 

Berlin, aprikosenfarbener Himmel. Wenn so ein Abendhimmel schon manchmal zu sehen war, wie heute wurde er noch nicht gesehen. Der Erzengel Michael hat seine eigene Wahrheit. Unter dem Kopfkissen der Zweig. Wir saßen Stunden dort bei den Platanen mit den großen Kronen. Nicht Erde, nicht Wasser. „Ins Offene muss ich, ins Ungebundene will mein Körper“. Im Monat des Erzengels Michael, wenn die kosmische Energie ihren Strom wieder ändert, wenn der Drache bekämpft werden muss und Erzengel Michael dieser fürchterlich Starke sein wird, um es aufnehmen zu können mit einem Untier, in diesem Monat wird die eine Reise doch an ihr Ende kommen. Kreta, Chania. Galatas. Es soll ein Orangenbaum dort stehen. Es soll dieser Punkt sein auf Erden. Alles muss zueinander finden. Alles muss fließen. Das Meer trägt das Schiff. Diese Welt existiert. „Jetzt werden Zwerge herrschen“, schrieb Mikis für das Neruda-Requiem. „Ich dachte, er ist immer da“, sagte A., sagte M., sagte H. „Immer wieder stand er auf und war wieder da, so eine lange Zeit, immer.“ Wieder und wieder. „Seine Musik war … ist Teil meines Lebens. In meinem Körper. Hier drin.“ Die Hand liegt auf dem Solarplexus. Früher wird es dunkel, so beginnt der Herbst. Es war so unendlich viel Zeit. „Doch das genügt nicht.“ Der Planet Mikis verlässt seine Umlaufbahn. Zwerge gehen und kommen. Keine einzige Wolke. Dunkelndes Gold. Ein Falter kämpft sich frei.

Tag 8

Die Erde muss sich drehen. Duft von Phlox macht aus dem Raum ein Griechenland. Dort die Sonne. Fassaden verbrennen in ihrem Weiß. Der Himmel kann höher nicht sein. Sein Blau leicht und makellos. Unzählige Sterne werden erscheinen. Unzählige Blumen lässt du hier. „Die trockene Erde meines Herzes / hat einen Kaktus wachsen lassen.“ Über dem Kaktus die Kuppel. Unter der Kuppel unvertonte Musik.

Tag 9

Kurze Gewitter. Regen. Die Insekten zeigen sich, bevor sie ganz verschwinden.

Immer wieder das Wort „Versöhnung“. Die Musik für alle, nicht nur für diejenigen, die die Ticketpreise zahlen können in den noblen Opernhäusern von gestern, die Mitgliedschaft in den begehrten Locations von heute. Musik für immer. „Mikis forever.“ Spaltung, Spaltschnitt. „Jeder Mensch hat eine Wunde in sich“, schrieb Mikis. Diese Musik war die Möglichkeit zusammenzusein, der Zwist ruht, der Tanz wird erlebt, jeden Tag die Möglichkeit zur Feier, am Heiligen Tag, immerwährend. „Tanzt, tanzt – sonst seid ihr verloren.“ Pina – das heißt auf Griechisch: Hunger. Hunger nach Leben. Durst. „Meine Musik ist wie das Wasser. Dort sind die Menschen, die dürsten, verdursten, und hier ist das Wasser, dazwischen der Graben. Bis der Regen fällt. Der Regen vereint uns.“ Es regnet Musik.

Links, rechts, vorn, hinten, Griechenland, Deutschland, Bulgarien, Russland, Amerika, China – Wörter wie Blöcke. Dahinter verschwindet der Einzelne, das Individuum, das probiert, versucht, wach ist, wach bleibt, sich aufrafft, nicht abwendet, sich nicht zufriedengibt, das sagt: Ich will erfahren. Ich kann sehen. Ich werde gehen. „Weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube.“ – „Ich glaube an das kreative Potenzial in jedem Menschen. Ich verabschiede mich nicht davon. Ich hab den Tod gesehen, viele Male, ich hab das Töten, das Getötetwerden hautnah erlebt, alles, was menschlicher Körper ist, musste ich sehen, alles, was menschliche Stimme ist, hab ich gehört, ich hab Widerstand erlebt, ich hab mich kennengelernt, ich hab den Klang ertragen, ich wurde vom Klang getragen. Ich habe das Ufer erreicht. Es kam mir entgegen. Es trug mich.“

Er war kein Nörgler. Er kannte Ärger. Und dann musste er lachen. „Warum liebst du mich nicht, Theodorakis?“, fragte der eine Folterer. „Warum liebst du auch mich?“, fragte der andere Folterer. Die Antwort war immer ein Lied. Dass dieser Versuch, dieses Bemühen um das Zusammensein der Menschen im Tanz, in der Musik, in der Poesie, naiv gewesen sein soll, erklärt jegliches Bemühen für letztendlich vergeblich.

Das System ist so, dagegen kannst du nicht an, du wirst scheitern, lass es sein, gegen diese Mächte wirst du nichts ausrichten, du wirst Schiffbruch erleiden, krachen gehen, dein Leben vergeudest du. Das System Leben, das System Musik, das System Nerven, das System Mathematik. Halten wir also inne, hören wir auf, sagen wir Atlas Adieu, der den Himmel jeden Tag stemmen muss und jeden Tag etwas mehr Kraft geben als nötig. Fügen wir uns drein in die bestehende Situation und sind froh, dass wir richtig klug sind, weil wir erfahren haben, es nützt nichts. Ist das vernünftig, aber unkreativ. Madame und Monsieur Allwissend, guten Morgen – ausgeschlafen?

Diese Musik erreicht Menschen überall auf der Welt, diese Musik, die einer Naivität entsprungen sein soll. Das Universum ist kindlich und überlebt aus diesem Grund. In den Folterlagern verloren die Menschen ihre Seelenruhe, vieles wurde ihnen geraubt, manches Gesicht nicht. In den Folterlagern erlebte Mikis Veränderungen, Menschen, die andere wurden, Menschen, die erstaunliche Wechsel vollzogen. Krieg. So auch beim Kampf um etwas, was man unbedingt haben will, um jeden Preis, im Frieden.

Er erlebte erstaunliche Metamorphosen, da wie dort, beim einen und beim anderen, viele Male, den Wolf im Schafspelz, die Puppe und den Schmetterling, das Schaf und die Ziege, den Menschen und das Tier, Kentauren, Harpyen, Geflügelte Schlangen, Pan, brennendes Eis, Erdbeben, fließenden Stein, schwindenden Mut, den Atomkern der Hoffnung. Die Hoffnung, selbst wenn sie naiv ist, bleibt stark. Sie schaut hinter der toten Farbe hervor. Und wieder Klang. „Sonst seid ihr verloren.“ Überlebensmut auf hohem Niveau.

September 2021 

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Der Tag seines Todes

und die Tage nach seinem Tod haben deutlicher als je zuvor gemacht, dass die jahrelangen (oder jahrzehntelangen) Nörgeleien an Mikis Zeitverschwendung waren. Denn jetzt, wo er als einer, mit dem man diskutieren kann, nicht mehr da ist, in diesem Augenblick wird man gewahr, dass die Nörgelei nicht das war, was passiert, wenn ein Schiffshebewerk seine Arbeit tut. Es geht bei der Arbeit des Hebewerks darum, dass ein Schiff seinen Weg fortsetzen kann. Allerdings haben zwei unterschiedliche Flüsse, deren Weg das Schiff folgen kann, nicht das gleiche Niveau. Ein Schiffshebewerk „vermittelt“ zwischen diesen beiden Flüssen, das eine Flussbett weiter oben, das andere weiter unten. Und das Schiffshebewerk als Fahrstuhl für das Schiff bringt es nach weiter oben oder nach weiter unten. Und weiter geht die Fahrt.

Mikis wurde des Diskutierens nicht müde, es interessierte ihn jede andere Meinung, die von der seinigen abwich, wenn sie einen bedenkenswerten Aspekt enthielt. „Sag!“, forderte Mikis auf. Und er hörte zu. Diese Offenheit war einzigartig – gern schriebe ich diesen Satz und ließe ihn so stehen. Nein, sie war nicht einzigartig, aber eben sehr selten. Ich erlebte auch andere Menschen, nicht nur Mikis, die zuhörten und einer anderen Ansicht Raum gaben, Menschen, die die Erfahrung gemacht hatten, dass keine Allwissenheit das Ein und Alles ist, sondern dass man sich irren kann, auch wenn man Auschwitz nicht leugnen würde und wenn man manche Menschen nicht unbedingt in seiner Küche sitzen haben möchte.

Die heutige Zeit erlaubt nur sehr selten eine längere Unterhaltung über schwierige Fragen. Phänomenal, dass gerade Mikis, der von morgens bis abends hätte immerzu Musik schreiben können, die Zeit für eine längere Unterhaltung immer wieder aufbrachte. Er war interessiert an Gegenpositionen. Er hatte, was Menschen, die ihn bei sich zuhause aufsuchten, manchmal nicht gewahr wurden, weil es so selbstverständlich da war: ein tiefes Vertrauen in Höflichkeit, obwohl Mikis schon so viel Dreistigkeit erlebt hatte und jeden Augenblick auf sie gefasst war. Jannis Ritsos beispielsweise hatte sich anders nicht vor Überbeanspruchung und Zeitraub zu schützen gewusst, als dass er, ein im Vergleich mit Mikis ganz sicher als viel höflicher geltender Mensch, sich ausbat, dass die Besuchszeit bei ihm strikt eingehalten werden möge, denn in der anderen Zeit arbeite er. Von Mikis war so etwas überhaupt nie zu vernehmen.

Dass es Parallelwelten gibt, ist mir seit einiger Zeit klar. Anders war es nicht zu machen, dass Mikis gleichzeitig genügend Zeit für so viele Besucher und Gespräche ohne Zeitdruck hatte, ebenso aber die Zeit für die Beschäftigung mit der Musik fand wie auch für die Beschäftigung mit der griechischen Tagespolitik und der Weltpolitik und und und. Kann sein, dass er zwischendurch auch Mittagsschlaf hielt. Ich kann es mir nicht vorstellen. Mikis hat nie gegähnt. Mikis war immer ausgeschlafen, egal, zu welcher Uhrzeit. Ließ seine Energie nach, tankte das energetische Zentrum in ihm lediglich auf, so dass er kurz danach wieder voll da war und sagte: „Weißt du …“, und dann holte er etwas aus dem Nebenraum, aus einem Schrank, von einem Tisch, er spielte etwas aus einem Film oder ein Musikstück vor. 

Mikis day by day. 

Berlin, 02. September 2021 / 2022

© Ina Kutulas

Über die Apassionata-Frauen

Apassionata-Tagebuch, Berlin, 2. November 2017

Apassionata – Hausherrin oder Dame des Hauses …
Der Legende nach existierte Apassionata einst als Frauensperson. Hört man davon, klingt das beinahe so, wie es im Werbeslogan für ein Kraftfahrzeug heißt: “Mercedes war eine Frau”. Mercedes war eine Frau, und auch Apassionata soll eine Frau gewesen sein. Welches Leben hat sie geführt? Mercedes: der Name der Tochter eines Geschäftsmannes, der sogar die Erlaubnis erhielt, sich Jellinek-Mercedes zu nennen. Ein Mann, der den Namen seiner Tochter annahm. Diese Tochter wurde nicht sehr alt. Und Apassionata … Kann man sie sich vorstellen als Hausfrau, kinderlos oder mit einem, zwei oder mehr Kindern, die eine Kräuterspirale angelegt hat, zur Wassergymnastik geht, Patchworkarbeiten fertigt und diese manchmal in Gemeinschaftsausstellungen zeigt, die das Einwecken beherrscht, auf Senfwickel schwört und die als Vorsitzende des örtlichen Vereins der Neophytenbeobachter von den einen belächelt, von den anderen geachtet wird, als weiblicher Kassenwart aber von allen anerkannt wäre? Ist Frau Apassionata Mikrobiologin mit Migrationshintergrund? Moderatorin? Architektin? Malerin? Hat sie eine Führungsposition inne? Ist sie beruflich ständig unterwegs, verlässt sie die Wohnung fast immer geschminkt, verbringt sie die Nächte allein oder zu dritt, kleidet sie sich klassisch sportlich, hat sie eine Haushaltshilfe, macht sie Dehnungsübungen, kommt sie ohne Navigationssystem aus, weiß sie genau, was sie will? Kann Apassionata überhaupt dem Klischee einer Frau entsprechen?

Die Nomadin
Apassionata könnte eine Frau sein, eine exotische Nomadin, die sich ausgefallen kleidet, schminkt und frisiert, die umherzieht mit ihren Tieren und ihrem Zelt, mit ihren Peitschen, Vorräten und Futtersäcken, eine Nomadin, die vor sich hinsummt und wachsam ist, die alte Wege aufspürt, sich an schwer lesbaren Zeichen orientierend, die das Feuer zu entfachen versteht, die Schamanen konsultiert und zuständige Beamte. Dreimal kann man raten, ob diese Nomadin zuerst die einen oder die anderen aufsucht, bevor sie ihr Zelt aufbaut. Die Nomadin Apassionata hat aus uralten Zeiten eine tragbaren Schrein übernommen, den sie stets mit sich führt. Unter anderem befinden sich darin Waschpulver, Salbe und ein wenig Kitsch. Denn Kitsch ist das einzige Mittel, das hilft gegen Schutzlosigkeit, Überdruss und tiervertreibendes Unwetter. Kitsch bringt ein starkes Funkeln in die Welt. Und Apassionata, die Nomadin, hat ein Funkeln im Blick. In den großen Städten wirkt sie lasziv, in den mittelgroßen Städten kameradschaftlich, in kleineren Städten bodenständig. Doch tatsächlich ist sie immer alles zugleich. Ihre Anpassungsfähigkeit lässt sie überleben. Sie verliert sich nie. Sie wohnt im Unwohnlichen. Dieser uralte Schrein ist ihre einzige Bürde. Er wiegt so viel wie ein ganzes Stück Welt.

Der Apassionata-Himmel
Apassionata – das sind Männer und das sind etliche Frauen. So, wie die Karyatiden das Dach des Erechthion-Tempels auf dem Akropolis-Hügel in Athen tragen, so tragen die Apassionata-Frauen den Himmel der Apassionata, der immer mit der Show wandert und in dem über die Show entschieden wird. Der Himmel über Apassionata ist wechselwettrig, und es bedarf eines Overstage-Passes, um in besonderer Angelegenheit dort vorsprechen zu können. “Chef” ist hier nicht zuhause. Der Organismus “Chef” residiert in der Vielverortung. Der Apassionata-Himmel verengt und weitet sich, er verschiebt seine Etagen und Trennwände und variiert die Deckenhöhen. Es ist ein Himmel, der von vielen Armen getragen werden muss. Der Apassionata-Himmel ist kein Erechthion-Tempel. Dem Apassionata-Himmel würden fünf oder sechs Frauen als Stützen nicht genügen. Im Apassionata-Himmel stauen sich hin und wieder die Gebete. Dann macht er eine Metamorphose durch; er wird federleicht, so dass ein Windstoß ihn fortfegen könnte, wären da nicht die Apassionata-Frauen, die darauf achten, dass dieser Himmel nicht abhebt.

Die Stärke der Apassionata-Frauen
Amelie versteht sich auf Anschlusskabel und die Hebebühne und auf das unmerkliche Einwirken der Dichtung des Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau auf die Realisierung der Apassionata-Show; Amelie versteht sich außerdem auf ein spezifisches Vokabular, das international beherrscht wird von Frauen und Männern mit Leuchten.
Liliana versteht sich auf komplexe Zusammenhänge und netzartige Strukturen in Verbindung mit Unendlichkeitsschleifen, Stoffwechselkreisläufen, Fahrplänen und wahrscheinlich auch Blüten-Teemischungen, wenn erforderlich.
Susanne versteht sich auf Farben, Verdünner, Schattenverläufe, auf das Höhen von Weiß, auf Pinsel und das Reparieren von Stoßstellen an Wolken.
Ondria versteht sich auf Bartreiniger und die Bedürfnisse von Dauerwellen-Kitty, außerdem aber auch auf seelisches Fieber, mit dem man, wie mit dem Feuer, nicht spielt.
Brigitte versteht sich auf Stroh und Stall, auf riesige Pferde und alle anderen Pferde jeglicher Größe und Schwere und auf die Beantwortung jeder Frage während der Stallführungen und zu allen Zeiten, da Fragen aufkommen.
Lotti versteht sich auf Geschichte, Koordination von Tänzerinnen, Tänzern, auf das Tragen eines Hütchens und den choreographierten Einsatz von Jojo-Bällen; vor allem weiß sie jegliches Stolpern in einen erstklassigen Wechselschritt zu verzaubern. Lotti ist der Spiegel, der in Erscheinung treten lässt, was sich zeigen soll.
Kerstin versteht sich auf die Große Freiheit, die Freiheit ihrer Tochter Hannah und auf der Freiheit besondere Unfreiheit, die sich in Freiheit wandeln will; Kerstin trägt ein Funkeln in die Arena, das die Nomadin Apassionata auszeichnet.

Anita versteht sich auf die Eigenwilligkeit der Zeiten, auf Pferde, die jung sind, Pferde, die sich verirren, Pferde, Pferde, Pferde, auf Vermittlung zwischen Pferd und Nichtpferd und auf die Liebe, die in alles hineingelegt werden muss, was ewig halten soll.
Heike, Isa, Laura, Dagmar, Alexandra verstehen sich auf das Anmessen der Gewänder, auf Taille und Bizeps, auf Woppi, den Apassionata kundigen Hund, und auf seine Bannkreise, sie verstehen sich auf das tiefe Schweigen, das in der Kostümbildnerei phasenweise vorherrschen muss, damit der richtige Reißverschluss für ein Kleid entdeckt werden kann, wenn er sich in einer riesigen Tüte vergraben hat.
Die Frauen vom Catering verstehen sich auf Ausdauer und ein feines Lächeln, auf den Kaffeeautomaten und seinen Beschützer, der obenauf steht und einen Helm trägt, sowie auf den Heißwasserbereiter und darauf, dass immer etwas zu essen da sein muss, und sie verstehen sich ebenso auf die Reinhaltung der kreisrunden weißen Tischplatten, die energetische Zentren bilden, gefüllt mit einer besonderen Himmelsmilchfarbe, die alle über ihre Tellerränder schauen lässt.
Die Reiterinnen verstehen sich darauf, stets sattelfest zu sein, in jeglicher Hinsicht, sie verstehen sich darauf, Prioritäten zu setzen, auf Pünktlichkeit und Improvisation und auf die Kommunikation mit den voneinander verschiedenen Reitern.
Die Drei Katharinen verstehen sich auf Gemütsfürsorge, auf das Mysterium des Universums und auf manches natürliche Mittel, um dieses Mysterium für die Apassionata wirksam werden zu lassen.
Die Apassionata-Frauen verstehen sich jede Einzelne und alle zusammen hervorragend auf Apassionata.

“Chefin”
Beide Frauen, Mercedes und Apassionata, haben mit Pferdestärken zu tun. Die eine Tochter eines Geschäftsmanns, die andere Nomadin, die ihr Zelt immer wieder abbaut und einpackt. Beide vom Unterwegssein verlockt. Mercedes ist jung gestorben; ihr Name lebt fort. Apassionata nimmt ihren Weg unter dem Apassionata-Himmel, emporgehoben von allen unerschrockenen Apassionata-Frauen als Trägerinnen dieses Himmels – kein Tempel aus urewiger Zeit. Wovon die Apassionata-Frauen träumen, das verwirklicht sich sichtbar in ihrem täglichen Tun, jetzt sogleich sofort. Von ihren Schwestern, den Karyatiden des Erechthion, unterscheiden sie sich. Die Apassionata-Frauen stehen nicht still. Doch auch sie setzen sich den Wettern aus, und wie ihre das Tempeldach tragenden, reglosen Schwestern wissen sie, die Regsamen, um die Hybris, die selbst den Stolzesten eines Tages tief stürzen lassen kann. “Chef” sieht alles, “Chef” kann alles, “Chef” weiß alles. Die Apassionata-Frauen sind “Chefin” und gehen zusammen mit “Chef” die Wege der Nomaden. Den Apassionata-Himmel führen sie mit sich. So weit ihre Zügel reichen. Bis hin zu den Gefilden der Luftschiff-Flüsterer.

Text © Ina Kutulas

Ausgiebige Huldigung an die Brandschutztür

Apassionata-Tagebuch, Berlin, 5. November 2017

Schwellensituation

Die Brandschutztür steht niemals weit offen. Energetisch aufgeladen mit ihrer eigenen Verschlossenheit, weckt sie leise Erwartungen in jedem, der sich ihr nähert. Lauscht man aufmerksam, während man die Entfernung zur Tür verringert, hört man sie umso deutlicher  wispern. Die Spannung wächst. Die Brandschutztür verlangt einem ein wenig Habacht ab. Etwas bereitet sich vor … Hat man die Klinke und leicht gegen den Türflügel gedrückt, lässt die Brandschutztür einen passieren und schließt sich gleich darauf wieder. Es sind nur zwei, drei Schritt von einer Hälfte der Hallenwelt in die andere, und keine von beiden ist die schlechtere. Diese Halle funktioniert als geparkte räumliche Gesamtsituation, die ein Luftschiff, ein Iglu, einen Globus und eine ganze Mannschaft in Obhut hat und die Brandschutztür als Instanz. Die Brandschutztür (mit Wächter1 der Show, mit den Drei Katharinen, mit “Chef” und “Chefin” im Bunde), sie bleibt für Apassionata in Riesa in Stellung. Keine Chance den Feuersbrünsten der Welt! Die Brandschutztür ermöglicht wehrhafte Blockade, sie öffnet sich nur in eine Richtung, sie ist somit wegweisend und wirkt Orientierungslosigkeit entgegen. In der Brandschutztür irrt man nicht.

Transformationen

Die Brandschutztür wandelt freie Bewegung in gerichtete Kraft. Jeder, der durch diese Tür gegangen und so aus dem einen Bereich der Halle in den anderen gekommen ist, wird “drüben” zu einer Erscheinung, für zwei Sekunden, kaum dass er diese Tür hinter sich hat. Jeder hat an dieser Stelle, in diesem Moment Ausstrahlung und Aura. Es würde nicht weiter erstaunen, ließen sich Begrüßungs-, Bewunderungs- oder Hochrufe vernehmen. Stattdessen beinah jedesmal bemerkenswertes Schweigen. Hier ist jeder ein König. Ein ruhiges In-Sich-Gekehrt-Sein hat sich des Erschienenen in Nullkommanix bemächtigt. Die Brandschutztür im Rücken. Nichts weiter als ein schlichter Hintergrund, so hintergründig jetzt wie vordem vordergründig, drüben, auf der anderen Seite, wenn man vor dieser Tür stand, im Begriff, sie zu öffnen. Zwischen Vorher und Nachher, zwischen Dort und Hier liegt die magische Sekundenphase eines Seitenwechsels. Wechselwirkung setzt ein. Blicke erfassen bereits die Gestalt dessen, der plötzlich im Raum steht, als übernähme die Vorderseite seines Körpers die Funktion eines munteren Lebkuchenglanzbildes, das den Lebkuchen an sich aufpeppt. Jeder Erschienene könnte was bringen, könnte Mitteilung machen wollen. Er könnte die Botschaft zu verkünden haben: “Apassionata forever! Herz statt Commerz!” Die Brandschutztür ist ein Heiligtum. Wer durch die Brandschutztür gekommen ist, nimmt sich auf der einen Seite des Flügels wie eine Prophezeiung aus, auf der anderen wie ein Prophet.

Kosmisches und mehr

Man wirkt ein wenig “erweitert”, stärker dimensioniert, ist die Brandschutztür gerade lautlos ins Schloss gefallen, kaum ist man im Hüben angelangt, das eben noch das Drüben war. Man ist itzo eingetroffen und so gestimmt, dass eine spontane Great Performance das Normalste der Welt wäre. Holger könnte hymnischen Gesang anstimmen. Er verhält sich stattdessen. Er ist die Größe π im Allüberall des Apassionata-Wirkungsbereichs. Die Hymne der Apassionata wird täglich neu geschrieben, von unsichtbarer Hand. Sie dringt in jede Ecke der Halle, sie lässt die Farben klingen, sie erfüllt die Vorbereitungszeit der Show wie Zimtaroma die Duftkörbe. Die wohltemperierte Stimme von Stage Manager ist zu hören: “Noch sieben Minuten bis … Noch fünfzehn Minuten bis … Zwanzig Minuten noch bis …” Matthias’ Ansagen wären im Fall des Falles die beste Vorbereitung auf den Start einer weltrettenden Rakete. Eine stark verlangsamte Rakete ist das Apassionata-Luftschiff. “Crew” an Bord und zur Stelle. Die Brandschutztür eine Luke zum All, aus dem alles kommt, in das alles wieder eingeht. SPHÄROS, das Luftschiff, gleitet in großem Bogen von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Woppi on his way

Woppis Anwesenheit konterkariert die Situation Brandschutztür. Woppi beschleunigt nicht, er bummelt nicht, er hat seinen eigenen Spürsinn und ein geflecktes Fell. Woppi ist Extremrealist, ohne Frage. Woppi unterscheidet sich vom Pferd, er geht nicht durch, er macht Leika, der ersten Raumfahrt-Hündin, die schönste Ehre (die gerade heute vor 60 Jahren in die ewigen Jagdgründe einging und Woppis seelische Urgroßmutter sein könnte). Woppi verfällt hin und wieder in leisen Schlummer. Woppi liebt die Woppi-Decke. Von den Pferden weiß man weniger. Oder mehr. Je nachdem, welche Beziehungen man zu ihnen aufgebaut hat. Es war wohl nie zu erleben, dass ein Pferd durch die Brandschutztür geführt wurde und menschenähnliche Wandlung erfuhr. Den Pferden sind das Portal zur Arena mit den beiden Toren, die Black Box und hinter der Black Box eine weitere Lauffläche die Wandlungszonen. Woppi, der Hund, ist im Bereich der Brandschutztür die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Keinerlei Veränderung. Woppi mag einer anderen Weltensphäre angehören. Er huscht durch den Brandschutztürspalt und braucht keine Zehntelsekunde, sich der veränderten Raumsituation anzupassen oder einzufügen. Woppi erwartet womöglich, dass die Raumsituation sich auf ihn einstellt. Häufig tut sie ihm den Gefallen. Tut sie es nicht, macht sich Woppi bemerkbar. Besonders gern in der Kostümbildnerei. Für Woppi vielleicht der beste Ort, um von Zeit zu Zeit etwas Krawall zu schlagen, denn dort hat er ein Alleinstellungsmerkmal als Krawallmacher. So, wie er auch im Bereich der Brandschutztür ein Alleinstellungsmerkmal hat: Woppi, the Cool.

It’s magic!

Alle Kostüme, die aus der Kostümbildnerei in die Halle und von dort zurück in die Kostümbildnerei getragen werden, verwandeln und wiederverwandeln sich. Kein Kostüm ist bis in die letzte Faser zweimal das selbe. Die Brandschutztür nimmt Einfluss auf das Getragenwerden, und das Getragenwerden nimmt Einfluss auf den kostümtragenden Träger. Niemand und kaum etwas bleibt unbeeinflusst und sich selbst einen ganzen Tag gleich. Kein Handy, kein Hütchen, kein Kaffeebecher, keine Wasserflasche, keine Karotte, keine Liste, kein Jojo.

Die Brandschutztür bedeutet eine Unterbrechung für den gedankenverloren Forteilenden, den flinken Hin- oder Hergänger; sie unterteilt das Von-Hier-Nach-Dort in zwei Phasen. Es wird etwas wie ein Vor-Und-Hinter-Dem-Bühnenvorhang daraus. Die Brandschutztür ist Befindlichkeits-Schleuse – und zugleich Schranke. Nur dem Feuer gilt sie als Sperre. Dem Sperrfeuer des Zeitdrucks bietet sie die breite Seite. Sperrangelweit auf stößt diese Tür allein ein mächtiger Sturmwind, der dem Gehetzten, dem schnell weiter eilen Wollenden die Klinke aus der Hand reißt. Dann strömt heftig bewegte Frischluft in den Raum, sich vermischend mit Heizluft, die aus den Löchern des durchsichtigen Schlauchs unter der Decke in den Cateringbereich geblasen wird. Die langen weißen Stoffbahnen vor den Wänden schlagen Wellen, der Flanell wird oberflächlich gekämmt, Staub aus ihm herausgelöst und fortgeweht, hinein in die Lücken zwischen und hinter den Waschmaschinen und Wardrobe-Cases oder hinaus ins Weite, bis nach Oschatz. Dieser Staub soll niemanden kümmern. Die Brandschutztür ist das eigentliche Thema, Apassionata in Riesa durch die Wirkmacht der Brandschutztür reinste Magie.

Conditions

Steht die Brandschutztür länger offen, stimmt etwas nicht. Die Brandschutztür schützt generell vor zu viel Wirbel. Wenn sie zu ist. Wenn sie nicht zu ist, besteht Gefahr. “Crew” könnte durcheinanderkommen. “Crew” sollte nie in der Zugluft sitzen. Eine “Crew” mit steifem Hals oder Hexenschuss, eine “Crew”, die durch den Wind ist, macht keine gute Apassionata. “Crew” wechselt an die Tische im Windschatten. Der Kampf zwischen Abluft und Aufwind findet ohne verschwurbelte “Crew” statt. Keine atemberaubenden Turbulenzen! Die Brandschutztür soll ein wohlfeiles Hindernis sein und zum Atemholen zwingen. Die Brandschutztür ist die Pause der dahinströmenden Gedanken in einem Kopf, den man möglicherweise noch dazu woanders hat. Beim Durchschreiten der Brandschutztür kann er flugs zurechtgerückt werden. Die Brandschutztür bringt jeden wieder ganz zu sich. Das Öffnen, Hindurchgehen, Schließen wird zum Akt kurzzeitiger Besinnung, Konzentration. Hier kriegt man sich ein. Die Linie zwischen Ost- und West-Himmelsrichtung ist von dieser Tür als sensiblem Punkt unterbrochen wie von einer Schaltstelle. Einfach so tatenlos durchrauschen kann man hier nicht. Die Brandschutztür verlangt von Personen ein wenig Engagement. Handlung. Wandlung. Wandlungsfähigkeit. So wird für Apassionata fast unmerklich trainiert und konditioniert. Was uns nicht umbringt, hält uns fit. Die Brandschutztür ist ein immer anwesender Fitmacher.

Text & Fotos © Ina Kutulas

Ariadnos und die verlorenen Fäden

Meine Erinnerung an Tilo

6. Dezember. Der Heilige Nikolaos steigt die Wasserstraßen herunter und hinauf, Seefahrer-Schutzherr, der zu den Quellen will, an der Schnur das Lot, am Garn die Erzählung, Ariadne, komm in die Gänge, klopf die Wände ab, verfolge das Echo im Kanal, das menschliche Herz bleibt ein hörendes.

Ein Gespräch … und der Faden verloren, entglitten, vergessen, was man hatte noch sagen, worauf man hinaus wollte. Lyrik konnte das Fadenverlieren verhindern. Bei einem Workshop mit der Künstlerin Loukia Richards wurden Schnüre, Bänder, Seile aus Vielem gemacht, verwickelte Angelegenheiten, Flicken, Fetzen bald eingeknüpft, eingebunden und all das vernäht und verflochten, wurde zu Gewirken, Gestricken, zu Gewöllen, Gewirren, zu Netzen, zu Gehängen, zu Häkeleien, und etliche Fäden hingen lose, lagen verstreut auf dem Boden, unter dem Tisch und unter Stühlen, lagen hier und da, weiter weg, fanden in kein Objekt, galten als verloren. Diese verlorenen Fäden aber wurden eingesammelt und mitgenommen “für nächstes Mal”.
Monate früher oder später stand Tilo nicht weit entfernt von der Stelle, wo Loukias langer Tisch gestanden hatte. Es war an diesem Tisch um Zeus und Europa gegangen, und Zeus und Europa waren gegangen. Um Minos und Poseidon war es gegangen, um Pasiphae und den weißen Stier, um Dädalos und den Minotauros, um das Labyrinth und die Menschenopfer war es gegangen, und sie alle waren gegangen, um Ariadne und den Minotauros war es gegangen. Und “Syrien ist gegangen”, so schrieb der Dichter Jazra Khaleed einige Jahre später … Wieso Weshalb Warum … Ein langer Nachmittag, der dann Abend hieß. Stunden dauerte die Erzählung, weiter und weiter setzte sie sich fort. Loukia kannte die Legende in- und auswendig. Die Legende vom Minotauros, vom Ariadnefaden – das war ihr der Stoff geworden, der nach Einbruch der Dunkelheit gedrehte Zeitungspapierstreifen, Schleier, Lappen, Voodoofeudel, Nester hatte werden lassen. Gewebe dieser labyrinthischen Erzählstunden. Sechzig, siebzig, achtzig Hände waren eingebunden in die Verbindungen und wieder entbunden. Knoten, Knoten und Widerknoten. Die Erzählung hatte ein Ende am Schluss, andere Enden hingen aus dem Gewirr der Ariadnefäden heraus und ließen andere Schlüsse zu. Adé nun zur Guten Nacht. Ariadne auf Naxos. Ikaros gestürzt ins Meer. Ikaria, die Insel … Wer möchte nicht ewig Märchenhaftes atmen und es wissen, in- und auswendig, um in schriftlosen Zeiten die Erzählung zu beherrschen, die Legende wiedergeben zu können, später, in einer Stille, die ertauben lässt, weil man nichts anderes mehr zu sagen weiß, weil so viele Worte wieder untersagte Worte sind, die Freiheit der Rede beschnitten, überall, zurechtgeschnitten auf ein Stück, aus dem kein Mantel mehr gemacht werden kann, der sich dem Einsamen um die Schultern legt wie ein Zeltraum als Weltraum. Der haltlos Gewordene will zu träumen vermögen, sich entfernen aus den Tälern der Verderbnis, aus Höllen, die nicht nur zu einer einzigen gemacht und nicht nur tief unten zu finden sind. So einfach, wie Lubitsch es vormachen ließ in seinem Film “Heaven can wait”, ist es nicht. Der Höllen sind viele. Falltüren überall. Eingänge zu den Höllen tun sich auf direkt neben Pforten zu den Paradiesen. Auch unterhalb derer. DAS Oben und Unten gibt es nur als vereinfachte Darstellung. Ägeus starb wegen eines schwarzen Segels, das ein weißes hätte sein müssen. Er starb wegen einer zweckmäßigen Vereinfachung, die aber dann doch ein falsches Zeichen war. Klarheit hatte er. Doch wer hatte, als das Zeichen verabredet wurde, damit gerechnet, dass man das weiße Segel zu setzen hätte vergessen können, das bedeuten sollte: Alles gut. Das schwarze Segel, das schlechte Zeichen also sah Ägeus, und er brachte sich um. Einfache Zeichen, zu einfach schließlich. Schwarz oder Weiß. Hätten wir doch wechselfarbige Loukia-Segel hissen können … Dann wäre Zögern, vielleicht. Dann wäre nichts so schnell entschieden, vielleicht, und deshalb nichts irrtümlich falsch gewesen, mit tragischen Folgen. Wäre mehr denkbar, wären mehr Zweifel, wäre mehr Zeit gewesen. Dann wäre vielleicht in letzter Sekunde …

Loukia hatte keine leise Stimme an diesem Tag-Abend. Es war die Stimme einer Frau, die über Inseln hatte rufen sollen, anschreien gegen Wind und winklige Gassen. Durchdringend. Die Stimme hinein zu bringen bis in ein Versteck. Sie hielt wach, sie machte, dass man bei der Sache blieb, zurückfand zum Haupterzählungsstrang, zurückfand zum Märchen, das man einmal erfahren haben wollte, von Anfang bis Ende, und dem man sich verband, mit Fäden, Schnüren, Folien und Papieren, mit Antworten und Fragen. “Das Netz ist langsam”, so heißt es seit einiger Zeit; das Netz wird Geschwindigkeit, das Netz hungert und schmerzt, das Netz fiebert und ermüdet, es ist empfindlich, es schwächelt menschlich beinah, es hängt und hinkt und zögert. Loukia ließ Segel und Netze machen, Wimpel und Webstreifen, ließ Erzählung werden, Disput, Frage Antwort Aber und Doch, Widerrede Widerfrage Widersinn und Sinn, mehrere Ansichten, erneutes Befragen, Überdenken, Bestätigen, Innehalten, Fortfahren, ein Vielseitiges, das doch seinen Abschluss fand.

Tilo spöttelte nicht über solch ein selbstgewirktes Gedicht, über handgemachte Schriftteppiche, die man als Kunsthandwerk belächeln konnte. Er fand das Handgemachte wichtig für diese Zeit. Ein selbstgebundenes Buch – “Logbuch”, sagte Tilo. Wo er eines Tages stand und über “die Griechen” sprach, die er kannte, über Fußball und die hiesige Selbstüberhebung, über den, der mit dem Lot die Tiefen auslotete, den wir den “Sondeur” genannt hatten, weil “Sondeur” besser klang als “Loter”, denn “Loter” klang wie “Lothar”, und “Lothar” hätte in die Irre geführt … Zum Kavafis-Buchtitel “Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit” bemerkte Tilo: “Ich sah es damals schon lieber umgekehrt und sehe es auch heute noch so:

„Die Wahrheit ist nur gealterte Lüge.“ Nicht und nicht einmal in erster Linie, weil ich alle Politiker für Lügenbeutel hielte oder mich von jeher von den Medien genasführt fühlte, weil ich glaubte, Geschichtsschreibung sei fast immer Verzeichnung, Wissenschaft wäre immer Zurechtrücken und Gefällig-, um nicht zu sagen Gefügigmachen von Ereignissen. Vielmehr, weil ich in einem ganz sicher bin: Ja doch, auch unsere privaten Erinnerungen und Bilanzen sind in der Regel nur geschönte Schummeleien, auch unsere eigenen Wahrheiten sind oft genug nur gealterte Flunkereien, und dass wir sie brauchen und uns – öfter als gelegentlich – ihrer bedienen, hat eben auch etwas zutiefst Anrührendes.”*1

Wo Tilo eines Abends stand, eines Nachts und eines Morgens, wo er noch immer steht, dort waren zuvor oder später, während Loukias Erzählstunden, auch stoffliche Verse entstanden, Inselgewirke mit Zeilen und Zeilenbrüchen. Diese Art Lyrik war eine Möglichkeit, mit weniger Worten, mit Wortfetzen mehr sagen zu können.

Tilo akzeptierte Text-Voodoo, selbst, wenn das nicht seine Sache war, so konnte sie doch die eines anderen sein und diese Sache ihm was bedeuten oder der Welt überhaupt. Dass alle in dieser Welt sind, verfangen, war für Tilo keine Frage, wohl aber eine, wo der gute Faden ist, der an etwas zu lassen wäre wie das gute Haar an jemandem, der Faden der Fortsetzung. Loukia stellte Fragen, provozierte Antworten, ließ jede Ansicht gelten, wie auch jeder Faden benutzt werden konnte, um ein Gebilde zu machen, was machte es schon, wenn einige Fäden sich nicht mehr verbanden mit weiteren Fäden, wenn dieses zerfaserte, wenn jenes nicht taugte, wenn einige Ideen zu nichts weiter führten, sondern nur gesagt worden waren, um ausgesprochen, gehört worden zu sein und beiseite gelassen, Schall und Rauch, Kante und Bahn, Wand und Loch, Nein und Doch, Profil und Rahmen, Schacht und Fluglinie, Tunnelzug, Auflösung, Erlösung und Lesung wurden. Alles war noch im Raum, als Tilo dort stand. Alle Farben, Fasern und Facetten, Papiere, Hadern, das Bild einer Mahnung, einer inneren Aussicht, hoch oben an der Wand, nur erreichbar für Dädaloswesen, Frank Lanzendörfer erschien, ein Bild, an das kaum einer herankam, der Ausblick aus dem unerreichbaren Fenster der Le Corbusierschen Capelle. Le Corbusier war unentschieden. Sowohl für die einen als auch für die anderen hätte er gebaut, heißt es. In der “Charta von Athen” war das Bauen von Städten als Konzept fixiert, Städte, aus denen die Gewölle der Loukia-Mitmacher als Fremdkörper hätten entfernt werden sollen, schließlich, vermute ich, denn sie wären von Natur aus verschlungen und ließen Irrtümer, Umwege zu, also die Ungerade, Erfindung, erweiterte Kenntnis. Solche Wirrnisse wären verbannt worden, mutmaße ich. Doch endlich würden diese Gewölle sich doch vermehrt haben und davon zeugen: Schließlich gibt’s nicht.

Tilo stand in einem Fadennest. Hochseefischer, mit Netzen verwachsen. Ariadnos war er geworden. Loukias Schlingen verflochten sich mit seinem Text-Gewebe. Mehr als hundert Zuhörer hatte er, der Vielbändriges zusammenhielt. Tilo las seinen Text zu “den Griechen”, wie er sie kannte. DAS Netz ist abgestürzt. Wer hatte mir gesagt, dass Tilo Fallschirmspringer gewesen sei, zu einer Eliteeinheit gehört habe, früher, etwa 1975, als Nikos Kavvadias starb, der ein dichtender Seemann gewesen war. Fallschirmspringer … Lebhafte Fantasie lässt alles wahr sein. Ich erlebte Tilo also jahrelang als Elite-Fallschirmspringer und hörte ihm als solchem zu, die Korrektur zum Hochseefischer machte aus ihm den Tiefseeischen, Medusenschwebenden an langen Leinen, einen Taucher, der dem Loter entgegenkam … “Seine Griechen” hätten wohl Bilder für solche Wesen.

Eines Tages setzte Herr M. sich in einem Lokal zu mir. “Ich bin der Vogelmann von gestern”, rief er sich mir in Erinnerung, als derjenige, der tags zuvor einen Vortrag gehalten hatte über Vögel im Urwald, die ihre Melodien variieren, an Geräuschen immer Neues aufnehmend, die bisherigen Melodien erweiternd. Herr M. hatte den Gesang einer bestimmten Vogelart länger studiert. Als er aus dem Urwald zurückkehrte nach Europa, brachte er ein kleines Tier mit, mit dem er sich während seiner Vogelstimmenforschungen befreundet hatte, ein Tier, das sich normalerweise nie mit Menschen befreundet. Die beiden, das Tier und Herr M. waren unzertrennlich. Und deshalb glaubte Herr M. sich nicht von ihm verabschieden zu können. Nach einiger Zeit starb das Tier, denn es ertrug die Zivilisation nicht. Herr M. war darüber tief betrübt, und ob dieser Betrübnis entspann sich zwischen mir und ihm eine Unterhaltung über jenes eigentümliche Wesen, über dessen Lebensweise, über dessen Furcht und Anhänglichkeit, über dessen Tod, über Schuld, über Gemeinschaftlichkeit, über das Reisen, über den Wechsel von Welt zu Welt. Und dann erzählte Herr M. von einem Erlebnis.

Da es mit der Seefahrt zu tun hat, bringe ich es mit Tilo in Verbindung, damit sein Herz Aufnahme findet in diesem Geschehnis, von dem Herr M. mich wissen ließ und das zu einem Symbol wurde – das für mich “Griechenland” bedeutet, Griechenland, wo auch immer in der Welt es gelebt werden kann, dieses Griechenland, das zerstört werden kann, wo auch immer in der Welt. Weil dieses Griechenland, wie es Tilo sah, untrennbar auch unser Leben bedeutet, erlischt dieser Teil unseres Lebens, wenn er in Griechenlands Griechenland erlöschen muss. Und ebenso kann dieser Teil in uns weiterleben, wenn er hier und anderswo gelebt wird. Die Begebenheit:

Herr M. heuerte als junger Mann auf einem griechischen Schiff an, wo er zumeist das Deck schrubbte. Das mag Ende der 50er Jahre gewesen sein. Mir fällt auf, dass nicht ausgeschlossen ist, das Herr M. und Nikos Kavvadias sich eines Tages begegnet sind. Nikos Kavvadias wurde in China geboren, und das, was Herr M. mir erzählte, hat mit China zu tun. Herr M. war also Schiffsjunge. Jeden Tag nach dem Abendessen forderte der griechische Kapitän einen aus der Mannschaft auf: “Giorgos, Gitarre!” Giorgos erhob sich, holte die Gitarre, und dann wurde etwa eine halbe Stunde gesungen. “So lernte ich alle griechischen Lieder”, sagte Herr M. Eines Tages lag das Schiff in einem chinesischen Hafen. Die Fracht wurde entladen. Aufgrund eines Fehlers stürzte ein riesiger Ballen ab, der von einem Kran angehoben worden war, und verursachte beim Aufprall auf dem Schiff einen Schaden an einer Mechanik. Das zuständige Hafenbüro wurde informiert, die Reparatur angefordert. Statt der Reparatur ordneten die Behörden jedoch an, dass das Schiff den Hafen verlassen musste, ohne Ersatzteil. Das Schiff war nur noch schlecht manövrierfähig, die Mannschaft der Situation ausgeliefert, der See mochte, wenn sie sich unberechenbar zeigen würde, von nun an kaum noch beizukommen sein. “Giorgos, Gitarre!” In großer Entfernung vom Hafen empfing man plötzlich die Funksignale eines anderen griechischen Schiffs, das sich näherte. Bald war die Mannschaft dieses zweiten Schiffs über die Misere des ersten unterrichtet. Dann hatten beide Schiffe sich auf Sichtweite genähert. “Und dann”, sagte Herr M., “erlebte ich etwas Wunderbares.” Beide Schiffe positionierten sich, beide Kapitäne begannen zu singen, und beide Schiffe begannen, ein jedes sich um sich selbst zu drehen und beide zugleich umeinander zu kreisen.” Herr M.: “Immer im Kreis immer im Kreis immer im Kreis immer im Kreis …” Er sagte es oft und mit einem Klang in der Stimme, der zum Lied wurde, aus dem ich die griechischen Worte heraushörte, denen etwas in mir antworten konnte. “Immer im Kreis … Eine lange Zeit.” Herr M. hielt inne. “Dann hörte der Gesang auf und die Schiffe entfernten sich voneinander, das andere Schiff steuerte den Hafen an, und unser Schiff setzte irgendwie seine Fahrt fort, und irgendwie erreichte es einen anderen Hafen, wo wir Hilfe bekamen. Wir hatten Glück. Giorgos, Gitarre! …”

Beistand wird man im Griechenland der Welt oft vermissen, kopflos aber sein, glaubt man, Empathie, das gäbe es nur in einem selbst. Wer die Empathie vieler Griechen nicht mehr zu seinem Thema macht, wer den Kulminationspunkt, den zwei während eines Tanzes erschaffen, niemals erleben wollte, der hat die Welt längst aufgegeben. Tilo verwies auf diese Welt. Die Dichter kreisten um diesen Punkt. Es hatte etwas von Tragikkomik, wie wir versuchten, Deutschland zu retten mit unseren Texten zu Griechenland.

Wenn nicht jetzt, dann später – nach dieser Devise schien Tilo zu leben, an etlichen Tagen. An anderen Tagen nach einer anderen. Wenn nicht jetzt, dann damals. Tilo hielt die Erinnerung wach an die Zeit, als die Erinnerung die Zeit wachhielt. So konnte immer wieder etwas, was Thema im Jetzt wurde, verknüpft werden mit etwas aus der Vergangenheit, was nun noch einmal betrachtet wurde und im gegenwärtigen Zusammenhang eine Rolle spielte. Wozu hatten wir sonst Sammeln und Weitergeben gelernt. Fielen die Namen Christa Wolf, Wolfgang Hilbig, Adolf Endler (um nur einige zu nennen), wusste Tilo etwas zu sagen. Er erinnerte sich an Textpassagen, Zimmer, Unterhaltungen, Gesten, die mit den Jahren scheinbar an Relevanz verloren hatten, doch auf einmal waren sie, was sie immer blieben – präsent. Sie kamen in der Zeit an, für die sie viel früher auf die Reise geschickt worden waren. Wie Fadenstücke, die man da noch nicht brauchen konnte, aber hier. Hier werden sie zusammengedreht zur Schnur. Sie legt sich dir um’s Handgelenk. Als Leine musst du sie loswerden wollen. Doch Unabhängigkeit bedeutet Alleinsein, zumeist. Fabian erschien. Ein Einzelgänger. Tilo waren aussichtslose Versuche vielleicht manchmal die wichtigeren. Die eigentlichen, wie er bekundete. Denn seiner Meinung nach ließ sich nicht alles mit Geld bezahlen, in keiner Welt, nicht in der nächsten und nicht in der, die davor kommt. Nach Tilos Meinung brauchte es hin und wieder etwas Vergeblichkeit, ein wenig Umsonst, denn das riefe das Geschriebenwerdenwollen des Lebendigen auf den Plan. Aussichtslos wird manches bleiben. Kein Honorar. Keine Anerkennung. Kein Titel. Tilo lebte ebenfalls “Gegen die Abwertung der Welt”. So auf dem Umschlag eines Essaybandes von John Berger zu lesen.

Oft ergab sich mit Tilo eine vergnügliche Unterhaltung. Das Vergnügliche ist ein Symptom friedlicher Zeiten, weshalb es alsbald wieder verschwindet, wie ein Wesen, das flüchten muss, um nicht getötet zu werden, bevor es von selbst sterben kann. Der bittere Ernst setzt sich stets durch, wirkt immerdar, ist hartnäckig. Tilo sträubte sich nicht ständig gegen Vergnügliches. Doch sein Lächeln zeigte sich nie immerfort, ich glaube, er lachte niemals laut, wenn wir uns etwas erzählten. Auch für ihn war das typisch: Präsenz. Nicht nur, weil er körperlich andere etwas oder viel mehr überragte und weil er oft ein T-Shirt in einem auffälligen Blau trug. Sondern weil er gespannt war, aufgeladen, es knisterte. Man durfte immer gefasst sein auf eine überraschende Äußerung, die ihm fast jeden Augenblick entschlüpfen wollte. In Tilo schien sich ständig etwas vorzubereiten. Seine Geistesgegenwart wirkte bei jedem Treffen als Substanz, die die Unterhaltung im Fluss hielt. Nichts ging in’s Leere. Kein Wort. Man konnte jegliches Thema anschneiden, dann sagte Tilo dazu etwas, was er noch nie zuvor gesagt hatte.

Seine Beschäftigung mit Phänomenen der DDR-Zeit mag als Rückwärtsgewandheit interpretiert worden sein, vielleicht, doch Tilo stand mit beiden Beinen in mehreren Zeiten. Es war eher die Frage, ob man als sein Gesprächspartner ebenso darin stand und eine Brücke sein konnte. Tilo konnte es. Er nahm es zwischen Damals und Dann mit dem Jetzt auf, so sehr, dass sein Tod verdeutlicht, was dieses Jetzt in seiner übermäßigen Komplexität bedeutet. Mörderisches. Diesem Mörderischen entriss Tilo immer wieder Texte und damit Autoren. Das Jetzt ist fatal, bestialisch nicht selten, wenn es sich versperrt, abweist, das Damals nicht wahrhaben will und sich die Ohren zuhält und sich die Augen verschließt, als gehorche das Jetzt ängstlich der Anweisung: “Schau dich nicht um!”, die doch nur gilt für Orpheus in der Unterwelt. Die Oberwelt – alsbald eine Hölle, wenn man hier den Blick auf seine Herkunft scheut und auf das, was vor dem Jetzt liegt. Wir kommen aber auch durch Paradiese. Wir kommen auch durch’s Irdische. Sie sind ohne kein Damals zu haben. Da und Dort. Danach und Davor. Ein Ort allein ist unhaltbar. Keine Zeit gesondert. Es kreuzen Geschöpfe auf, die wieder da sind, die noch kommen werden. Im Reich der Lebenden gilt: Schau dich um!

Fabian. Der Fabian, den Tilo sich als heldloses Idol erdacht hatte, geistert durch die Welt. “Fabian”, so hatte mir einmal eine Frau gesagt, die seit vierzig Jahren bereits mit Kindern malte, “sollte man sein Kind nie nennen. Alle, die Fabian heißen, sind sehr speziell und schwierig. Fabian besser nicht.” Tilo aber dachte anders. Fabian sollte er heißen, alles Unmögliche erleben, so stellte Tilo sich das vor, und zum Schluss sollte ein Roman entstanden sein. Der Roman wurde und wurde. Dass er jede Sekunde fertig ist und im Entstehen, das liegt im Wesen seiner Ungestalt, die ihn zum anwesenden Geist macht. Nichts ist vergangen, nichts geworden. Wir zücken das Messer, Einstein weiß es vielleicht noch besser.

Ich war eines schönen Tages im Kino Babylon, und mitten in einer Reihe von Autoren las Tilo ein Kapitel aus seinem Fabian-Manuskript vor. Stasiuk auch dabei, ganz links. Zu erleben war Tilos Fabian in einer ziemlich durcheinanderischen Situation, nicht unpeinlich für ihn, möglicherweise. Tilo brachte ihn absichtlich in die Bredouille. Das Trinken war von Bedeutung, das Zugfahren auch, die ganze Veranstaltung gehörte dem Thema Alkohol und ob der das Schreiben befördere oder nicht. Keiner wagte zu äußern, dass Alkohol ne prima Sache ist und dass dieser das Schreiben befördere wie ein Zug den Fahrgast so, wie kein anderes Beförderungsmittel es kann. Alkohol ist was Einzigartiges, worüber geschrieben werden könnte, wie Ritsos über das Rauchen geschrieben hat. “Die Reise nach Petuschki” gilt bereits als ein starkes Stück dieser Art Betrunkenheits-Literatur, und unschwer kann geschlussfolgert werden, was Marlene Dietrich gemeint hätte: “Versuche nicht, an der Perfektion zu basteln, wiederhole sie einfach.” Tilo bekundete da, wo es speziell um’s Trinken ging, man solle nicht trinken. “Alkohol ist nicht gut.” Tilo war einfach Anti. Ich wollte laut lachen. Tilo machte kein Gesicht, als habe er das im Scherz gesagt. Fabian saß im Publikum. Tilos Eltern saßen im Publikum. Vielleicht auch Lina. Der gemeinsame Konsens an diesem Abend: Alkohol verhindert gute Texte. In Tilos Lesung ging’s am wenigsten um den Alkohol und am meisten um Fabian und um die, die Fabian sahen und hätten sehen können. Fabian passierte dies und das, ein schiefläuferisches Ereignis reihte sich an das nächste, obwohl für Fabian doch alles ganz richtig und in seiner Ordnung war, so, wie das Leben für Monsieur Hulot aus Jacques Tatis Filmen. Der wirkte verstolpert, wenn er sich von hier nach da begab; er selbst erlebte sich aber wohl als geradewegs flott dahingängerisch. Wie man inzwischen weiß, ist das Erdenleben eines der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, und keine Instanz hat festgelegt, welche die genau gesündeste für den Planeten ist. Hulot, ein herzensguter Mann, der das Leben ernst nahm, der sich um vieles bemühte, der ausgesprochen höflich war und den seine Höflichkeit und Ernsthaftigkeit erst recht in Schwierigkeiten brachten. Man konnte meinen, er wäre im Himmel extra ausgesucht worden, um als freundliche Alternative zur Grausamkeit zur Erde entsendet zu werden. Flügel und Klugheit unkenntlich gemacht. Ein Wesen mit Flügeln – auch wenn sie unkenntlich sind – geht allerdings besser nicht umher wie ein Mensch, mag man sagen wollen, denn dann strauchelt er. Eine Urtype. Tati (angeblich sehr streng und um Perfektion extrem bemüht) konnte im Film einen “Mein Onkel” durch die Räume und Situationen führen und das bis zum Schluss. Tatis Monsieur-Hulot-Filme wurden zu einem irdischen Ende gebracht. Tilo konnte das mit dem Fabian-Roman nicht gelingen, denn die Wirklichkeit, die Tilo und Fabian trieb, war kein Ausschnitt aus einer Gesamtsituation, sie war kein Zugabteil, sondern das große Ganze des Jetzt – und in diesem der Einzelne: eingebunden und von allem tangiert, drangsaliert, Fesselungsversuchen ausgesetzt und nach Entfesselung strebend. Diese Wirklichkeit stellte sich als eine immer tückischer werdende dar, die immer weniger Spaß verstand, und Tilo, der versuchte, der Komplexität der Ereignisse gerecht zu werden, musste immer wieder feststellen, dass noch etwas unbeachtet geblieben worden war, was aber dazugehörte zu Fabians Herumstreunereien, das beschrieben werden wollte, das erwähnt werden musste, möglichst auf den Punkt gebracht. Ständig versuchte Tilo, aus mehreren miteinander konkurrierenden Geschwindigkeiten eine einzige zu generieren, diese in eine Bahn zu bringen, an deren Ende der Fabian-Roman geschrieben wäre.

Es war inzwischen manches und hin und wieder fast alles unfassbar. Tilo war Zeitungsleser, wovon er einige Male erzählte. Die Presse machte ihm zu schaffen, denn sie war so wenig das Jetzt, wie sie es doch war und doch nicht. Sie verriet sich inzwischen selbst immer mehr an das Seelenlose. Für viele Dichter eine lebensfeindliche Gegend. Für sie wurde es immer enger wie für die Dokumentarfilme im öffentlich rechtlichen Fernsehen. Alles, was den Menschen als entscheidende Instanz über den Markt stellt, wird ausweichen müssen nach Hinter-Sowieso. “Seeräuber-Jenny kehrt zurück. Ich muss sie gar nicht erst rufen”, sagte Tilo letztes Jahr. Das wird kein griechisches Schiff sein, mit dem sie eintrifft, wie man weiß. Kein Giorgos mit seiner Gitarre an Bord. Tilo versuchte ab und zu, sich durch das Verzehren einer bestimmten Gebäcksorte gegen das, was ihm das Eigentliche vergiftete, immun zu machen. Er wollte nicht immer wiederholen, was er schon gesagt hatte. Das Eigentliche für ihn war Lyrik. Auch in der Liebe. Ich glaube, nichts anderes. Mit Ausnahme von Lina und Fabina. Wenn jemand Schwächen hat, dann wird er stark.

“Was macht denn Fabian?”, fragte ich Tilo eines schönen Tages auf dem Platz, neben dem Blumenstand. Es ist noch gar nicht lange her. “Fabian”, meinte Tilo, der sein Rad hielt, “will weglaufen, dachte ich. Aber der kommt immer wieder, der ist hartnäckig.” – “Und du bist sein verselbständigter Schatten …”, fabulierte ich. “Ach …”, meinte Tilo, “man kann sich nicht einfach davonmachen, so leicht ist das nicht, du siehst doch, wie anhänglich mein Rad hier ist. Fabian ist ein Seemann.” Fabian untersteht Nikolaos. Fabian ist auch ein Sehmann.

Eines anderen schönen Tages, fast vier Jahre zuvor – das Griechenland-Bashing lief seit etwa 16 Monaten, und es schien kein Ende nehmen zu wollen damit, dass enorm viele Menschen in Deutschland eigentlich schon immer irgendwie und seit einiger Zeit ganz besonders gut erkannt haben und nun sich darüber zu äußern nicht mehr bremsen wollten, dass “diese Griechen” unfähig waren, hinterhältig, dreist und faul und sonst nicht nennenswert anders –, eines Tages dieses Tages kam Tilo vorbei. Wir begannen, uns über “die Lage der Nation” zu unterhalten und darüber, ob man in’s Exil gehen sollte nach Atlantis. Es brauchte keine fünf Minuten, da zog Tilo bereits Fazit: “Ja, es ist nichts weiter, als dass gerufen wurde: Haltet den Dieb! Die Griechen! Hinterher! Die Suchrichtung war festgelegt. Und tatsächlich rennen und gehen die Leute da hin und stürzen sich auf die Griechen. Oder sie applaudieren bei dieser Hatz zumindest.” Tilo hatte den Arm, die Hand, den Finger ausgestreckt. Der zeigte direkt nach draußen, zur Kreuzung. Deutschland erwies sich vielfach als zu gebildet, um Widerspruch zu formulieren. Dieses Land hatte begonnen, sich in Rage zu reden. Es verfügte über keine Presse mehr, in der die Widerrede gleichermaßen Raum gehabt hätte wie die Rede. Dieses Land blies sich immer mehr auf und verlor mit jedem Tag sich selbst an seine Einseitigkeit, an seine Verarmung, die erstarkte. Es war überkandidelt. Es war durch den Wind of Change, Wallraff als Kwami Ogonno unterwegs gewesen und in der “Die Welt” als “geschmacklos und perfide” bezeichnet worden. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wallraff, der sich auf dem Verfassungsplatz in Athen angekettet hatte zur Zeit der Diktatur und dafür in den Knast gekommen war. Wallraffs Wirklichkeit hatte zu einem Deutschland gehört, das diesen Wallraff ermöglichte. Dann übersättigte sich Deutschland, und Wallraff war ihm viel zu anstrengend geworden. Pannach und Kunert sangen unüberhörbarer denn je: “Ob im Osten oder Westen / wo man ist / ist’s nie am besten / Suche, Seele, suche …”. Seferis’ Stimme ließ sich vernehmen: “Was suchen denn unsere Seelen reisend / auf Decks überladener Schiffe / … / Wir wußten, schön waren die Inseln / irgendwo hier in der Nähe, wo wir ertasten / etwas weiter höher oder etwas weiter unten / einen winzigen Abstand.” Deutschland war plötzlich zu träge; die Mühe, den Abstand ertasten zu wollen, wollte es sich schon nicht mehr machen. Die Scharfmacher mischten Deutschland auf. Doch Fabian blieb ein Sehmann.
Auch jetzt braucht es ihn, meinte Tilo, einen, der seinen Weg geht, auf seine Weise, und deshalb wird er einigen in die Quere kommen, ein Fabian, der sich so leicht nix erzählen lässt, der hellhörig wird und auf der Hut ist, wenn einer sagt: “Lass dir vom Griechen nichts erzählen und hüte dich vor dem Griechen, der Geschenke bringt.” Fabian war einer, der sich den ansah, der das sagt, Fabian lebte in seiner eigenen Wahrheit, und zu der gehörten auch die Erfahrung von der Vorgeschichte einer Geschichte und das Nachspiel. Tilo sprach von “Nachspielzeit für die Welt, in der alles voller Griechen ist.” Manche konnten nur noch Witze reißen, weil die Sache zu ernst geworden war und die Luft voll “dunkler Ahnungen”, als hätte Saurons Geist sich plötzlich zum Bundeskanzler gemacht. Es genügte Tilo nicht, sich zurückzulehnen und das alles längst vorausgesehen zu haben. Er addierte zu den faulen die dichtenden, die weggelassenen Griechen beharrlich immer wieder dazu. Für ihn war nicht nichts weiter zu sagen. Die unterschiedlichen Tiefen der Versenkung erreichte das Lot, dieses Senkblei hing an einer Schnur, aus Schnüren wurden die Gewebgewirke am Loukia-Tisch, von Händen gemacht, Fäden und Schnüre hielten die Welt zusammen. Der Sondeur blieb wach. Tilo ließ Fabian von der Leine. Fabina, das Griechenliebchen, ging manche Wege. Hellas Filmbox Berlin stand an. Was hatten die Nornen vor … “Die Zeit der Menschen ist vorbei. Die Zeit der Orks ist gekommen.” Sturm wurde gesät, der Orkan würde alsbald brausen.

2011 erklärte Angela Merkel, es könnte nicht sein, dass der eine ganz viel Urlaub kriegt und der andere ganz wenig. Der eine hier, der andere da. Das überzeugte. Die Spaltung Europas demnach vollzogen. Deutschland kriegte. Das Buch, an dem Tilo zuletzt schrieb, hatte Urlaub in der DDR zum Thema. Tilos Fabian steht zur Wahl, ein Fabian, der singt: “This is the end my friend” und der doch wieder und wieder zurückschaut. Der Blick auf das Damals kann sich ändern, und anders siehst du, wo du stehst, nach wo du gehst, wie anders gibt sich das Feld zwischen Höhe und Tiefe, da und dort, dort und hier. ich. dich. dir.

Eines wieder anderen schönen Tages gab es ein Treffen, einige lasen Texte vor, einige hörten zu, einige sagten eine Meinung. Einer regte sich auf über einen anderen, erzählte, wie er dem beinah eine auf’s Maul gehauen hätte, weil der ihn im Stich gelassen hatte, verarscht undsoweiterundsofort. Dieser Stich – die Nadel zog den Faden durch Herzlebernieren. Tilo beließ es nicht dabei. Er sagte einige Worte, die diesen anderen betrafen, der nicht da war, und rückte dessen Bild damit gerade, er ließ nichts auf denjenigen kommen, der für ihn ein Freund war, jetzt im schlechten Licht, und über den auch er hätte vieles sagen können: dass der ihm nicht geholfen hätte, dass der ihn nicht mehr angerufen hätte, dass der sich nicht mehr für ihn interessiert hätte, dass der sich nicht mehr für ihn einsetzen würde. Tilo suchte keinen solchen Ausweg aus einer Misere. Er jammerte nicht wegen irgendeines Unvermögens dieses anderen, gerade Abwesenden. Er betrachtete stattdessen sich selbst, und er sah seinen Freund, der ihn nicht aus den Augen verloren hatte und der ihm nie dumm gekommen war. Das mochte Tilo wohl am wenigsten: einander dumm kommen. Es gelang ihm oft, wenn wir uns unterhielten, etwas Seltenes: nicht selbstgerecht zu werden. Er fragte nie, ob man was gelesen hat, sondern er ging davon aus, dass “alle alles” gelesen hatten, abgesehen von denen, die nicht lesen mochten. Fühlte er sich etwas im Ungleichgewicht, verabschiedete er sich.

Als ich eines schönen Tages einige Stapel von hier nach da räumte, um nach einem Buch zu suchen, fand ich einen Faden. Und wahrscheinlich werde ich noch einen finden, dann. Wenn wir das Buch aufschlagen und zu der Stelle kommen, wo Fabian …

Fabian war vor einer Zeit – oder besser: Tilo mit “seinem” Fabian war vor einer Zeit. Eine Zeit, die von ihm gedacht werden konnte, die aber vielleicht nicht mehr kommen kann. Einen Satz, von einer Zeit, die nie mehr kommen kann, hätte Tilo wohl nie gesagt. Er war vertrauensvoll. Er hatte Fabian. Tilo war immer schon da, wo ich mit meinen gesagten Worten erst noch hinwollte. Er hielt mir den Faden entgegen, den ich schon bald verloren hatte. Er lächelte, wenn ich eintraf, denn es hätte auch sein können, ich wäre gar nicht angekommen. Er stand immer da mit seinem Rad und schien zu sagen: “Ja, ich weiß schon …” Er verwies auf seine Ähnlichkeiten mit etlichen Männern. Tilo war universal vorhanden. Fabian brauchte mehrere Beschützer.

Tilo hegte eine Leidenschaft für Irini Papas und eine für Monica Bellucci.
Dann entwickelte er auch eine Leidenschaft für Rena Chatzidaki.
Er sah Rena Chatzidaki nicht als eine Frau, die als eine während der Junta Inhaftierte sich mit ihrer “inneren Inhaftierung”, nämlich mit der Qual herumschlug, hinnehmen zu müssen, wie andere sie anschauten und anschauen würden, sie als eine merkwürdig Isolierte betrachtend und zu einer solchen sie machend, sondern er sah sie als die eigentümlich starke Persönlichkeit, die auf unerklärliche Weise imstande war, in einem Poem ihre Liebe zu sagen, offenherzig, ungeschützt, wach, alles wahrhaben müssend, und diese Liebe, die verunmöglicht schien, ständig weiterzuleben, darauf vertrauend, dass sie wiedererinnernd wiedererinnert wird. Rena Chatzidakis’ “Prokrustesbett der Zeit” wurde für uns zu etwas, auf das wir uns manchmal einigten, wenn man keine Worte mehr finden mochte, um die “Lage der Nation” zu beschreiben, in der sich alle befanden. Rena Chatzidaki hatte sich keiner Illusion hingeben können, und so, sehen müssend, das halbe Leben infrage gestellt, angestarrt aus des “Tourist-Kyklopen einem Auge”, schuf sie aus ihrer beinah völligen Hoffnungslosigkeit ein ganzes Paradies. Als fünfundzwanzigjährige Autorin “Marina” hatte sie 1968 “Im Belagerungszustand” während ihrer Inhaftierung im Gefängnis der Sicherheitspolizei geschrieben. Als Rena Chatzidaki ertrank sie. Ihre Verse sind erhalten, weil eine andere sie an sich genommen hatte. Jede und jeder sind universal vorhanden. Fabian zeigt sich so oder so.
Kavafis’ “Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit”, von Tilo für sich selbst umgerückt in “Die Wahrheit ist nur gealterte Lüge” hatte Zukunft. Vermutlich galt Tilo das noch immer als Aussage, mit der er eher etwas anfangen konnte. Umringt von vielen Bildern stand er neben dem Rednerpult, seine Stirn war nass, er lächelte, die Zeitökonomie wird zur Menschenökonomie, lässt den Pulsschlag eines jeden außer Acht, und über diesen ausgeklammerten Pulsschlag wird sie stolpern, die Zeit, eines Tages, denn der Puls ist doch da und wirkt Wunder. Von Rena Chatzidaki erfuhr Tilo aus “die horen”, zu einer Zeit, als Loukia Richards Fäden machen ließ am langen Tisch und aus den Fäden bunte Verfängnisse. Loukias Labyrinthe verzogen sich nach einer Weile. Ließen Ariadnos in einem zeitsparerischen Berlin zurück. Für diesen traten mit Rena Chatzidaki nun deutlicher in Erscheinung Maria Polidouri und Kiki Dimoula als die griechischen Anna Achmatowas, Marina Zwetajewas, Ingeborg Bachmanns und vielleicht auch Ann Cottens.

Der Fabian-Roman braucht seine Zeit. Dieser Roman, diese “Sache” ist noch lange keine, die irgendwann “eben einfach zuende war”. Tilo ging weiter mit Fabian mit, hindurch durch das, was die einen als Alptraum erkennen, die anderen für “einfach die Realität” halten. Der Fabian-Roman wurde von Tilo gelebt. Er selbst war die Tat statt etliche Worte für die Tat zu halten, bei denen es allzu oft bleibt. Ich nehme an, als Tilo aus dieser Welt geriet, hat irgendeine Hand Fabian die Fäden aus der Hand genommen, diese Fäden, die Tilo immer wieder zusammengesammelt hatte für Fabian, Fadenstücke, die anderen gehörten, die sie verloren hatten und nun nicht mehr so einfach hinterher- oder vorausgetragen bekommen werden. Seine Geschenke gab Tilo lächelnd, wie Gebäckstücke aus einer Tüte, auf einfache Weise. Er hatte recht bald damit begonnen, schon vor etwa sieben, acht Jahren. Sie kamen aus allen Zeiten und lösen sich nicht auf wie Rätsel. Bücher wie “Säule Kubus Gesicht” oder “Griechische Volksmärchen”. Tilo stand eines Tages auf, um Fabian suchen zu gehn, der nicht zurückgekommen, sondern irgendwo abgeblieben war, auf einem Weg vermutlich, einen Faden verfolgend, der schließlich aus aller Zeit herausführte. Und kommst du nicht auf diesen Weg, kommt er zu dir und nimmt dich mit, hinaus in’s Zeitenfreie, wo Fabian sich erzählen lässt. Fabian zeigt sich so oder so oder als Heiliger Nikolaos mit Schiff und Fischen oder auch als Nikos Kavvadias, der gehofft hatte, der Tod möge ihn auf See treffen. Rena Chatzidaki, Kavvadias, Kavafis, Ritsos, Seferis, Polidouri, Karyotakis, Elytis, Engonopoulos, Dimoula … Lüge und Wahrheit sind nur verjüngte Universalität. “Bakerman is bakin bread.”

© Ina Kutulas, Dezember 2017

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Nachfolgend der Text, den Tilo Köhler am 2. November 2011 während der Veranstaltung zum 100. Geburtstag des griechischen Dichters Odysseas Elytis in der Griechischen Kulturstiftung Berlin vorlas; hieraus stammt das oben stehende Zitat *1 “… Ich sah es damals schon lieber umgekehrt …”. Einige wenige Stellen, die sich auf Asteris und Ina Kutulas beziehen, wurden weggelassen, da der Text hier vor allem auf Tilo Köhler rückverweisen soll.

Tilo Köhler
Tagebuch eines nichtgesehenen November

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich möchte mich zuerst dafür entschuldigen, dass Dortmund gestern Piräus aus der Champions-Liga gekickt hat, aber natürlich sofort tröstlich hinzufügen, dass es mal geradeso ein 1 : 0 war, ein glanzloser Arbeitssieg ohne jede spielerische Eleganz darüber hinaus, kurz – ein typisch deutscher Triumph.
Dennoch: Ein nachträgliches Sorry.

Eine zweite, vorauseilende Entschuldigung hingegen betrifft die unvermeidlichen Fehler, die ich bei der wiederum unvermeidlichen Erwähnung einiger griechischer Namen in meinem kleinen Ständchen begehen werde; ich hoffe, Sie erkennen die Gennannten dennoch.

Zu Beginn möchte ich mich für die freundliche Einladung bedanken.
Ich kann das allerdings nicht, ohne ein paar unpatriotische Worte über die gegenwärtige unerträgliche deutsche Selbstgewissheit voran zu schicken, für die man sich gerade als guter Europäer bei den Griechen wirklich entschuldigen muss – ich bitte Sie an dieser Stelle also zum nun schon dritten Mal sehr um Nachsicht – in diesem Fall für u n s e r e Politiker.

Ich habe diese wenigen Gedanken unter den Titel „Tagebuch eines nichtgesehenen November“ gestellt – natürlich wissen Sie, dass dies eine Variation von Elytis ist, den wir heute ehren; es ist aber auch eine Erinnerung an den November 89 und an die unglaublich schöne Zusammenarbeit jener mittlerweile auch unglaublich weit zurückliegenden Zeit, auf die ich – später – noch zurück kommen werde.

Nun, die Zeit scheint im Moment nicht gerade nach griechischen Gesängen; höchstens sarkastisch klingt es, wenn Nana Mouskouri noch immer „Weiße Rosen aus Athen“ schickt, um zu sagen „Komm recht bald bald wieder“. Längst erloschen sind mittlerweile auch „Die Sterne von Piräus“, und mit ihnen ist auch der von Vicky Leandros versunken. Und selbst Costa Cordales’ Hymne „Ich träume manches Mal von Athen“ ist in jüngster Zeit – gewissermaßen gleichnishaft – zu mehr als einem nur musikalischen Albtraum geworden.

Indes – die musikalischen Gastarbeiter aus Hellas sind nicht ganz unschuldig an einem Griechenbild in Deutschland, das es manchem Politiker jetzt scheinbar leicht macht, sich in die Brust zu werfen wie ein antiker Held und ihn glauben lässt, den Griechen harte Sanktionen für immerdar antragen zu dürfen. Schließlich haben die Sänger Jahrzehnte lang das folkloristische Bild vom hedonistischen Mittelmeerbewohner geprägt, dem beim Mittagsschlaf im Olivenhain die Früchte in den halbgeöffneten Mund fallen, der sich allabendlich an seinem Ouzo berauscht und sich, wenn überhaupt einmal, allenfalls beim angedeuteten Sirtaki bewegt. Und was selbst Kazantzakis und sein „Sorbaz“ nicht erzählen wollten und bewirken konnten – die singenden Importe von der Akropolis schließlich haben es geschafft, fast ausschließlich diese Bilder von den Griechen endgültig ins deutsche Gemüt zu senken.

Angesichts solcher Vorstellungen scheint es tatsächlich geboten und ganz unstrittig erforderlich, über die Griechen einen Rettungsschirm aufzuspannen, wie er gar nicht groß genug sein kann – und zwar in erster Linie gegen das kulturelle Vergessen. Denn die gegenwärtige Schuldenschelte, die aus Athen nichts weiter als einen – dazu höchst infektiösen – Augiasstall gemacht hat, ist zugleich von einer Hybris, die nur noch von der einmaligen Geschichtsverlorenheit der politischen Gremien übertroffen wird.

Heute wäre Odysseuas Elytis 100 Jahre alt geworden. Odysseuas WER? So fragt man – nicht nur – in Deutschland. Elytis, Lyriker und Nobelpreisträger von 1979, ist den Deutschen fast völlig unbekannt, ein Schicksal, das er mit seinem Kollegen Giorgos Seferis teilt, ebenfalls Lyriker und schon 1963 Empfänger dieser höchsten literarischen Auszeichnung. Dabei ist es in den Jahren davor und erst recht in späteren nicht allzu oft vorgekommen, dass just Lyriker mit dem Nobelpreis geehrt wurden. Aber auch die „Nichtprämierten“, Giannis Ritsos etwa oder Konstantin Kavafis, sind in Griechenland Nationalhelden und wahre „Sänger“, deren Gedichte wirklich jedes Kind und jeder Bauer kennt. Und natürlich sind es vor allem die Vertonungen durch Mikis Theodorakis, die aus diesen lyrischen Preziosen Volkslieder werden ließen und diese schließlich wiederum zu geheiligten Nationalgütern. Theodorakis brachte, wie Ritsos seinerzeit schrieb, „die Dichtung auf den Tisch der kleinen Leute.“ Eine einzige Platte z.B., die Vertonung von Seferis´Gedicht „Am Strand“ verkaufte sich in den fünf Jahren zwischen 1961 und 1966 eine halbe Million mal, bei einer Bevölkerung von gerade sieben Millionen Einwohnern. Und – die Lieder eroberten Europa, schließlich fast die ganze Welt. In England etwa jubelte der legendäre Ron Hall: Es ist, „als hätte Benjamin Britten Verse von Auden vertont, und die Platte, besungen vom Erzbischof von Canterburry, hätte die Beatles aus den Hitlisten verdrängt.“

All dies begab sich übrigens in den frühen 60er Jahren, und es ist ein nicht nur heiterer Gedanke, dass der größere Teil dieser so erfolgreichen Literatur damals unter ungleich dramatischeren Umständen entstand als jenen, die wir heute als ultimative Krisenzeiten beschreiben. Denn nicht wenige dieser im Volk so verankerten Texte entstanden damals auf KZ-Inseln, in Gefängnissen, in der Verbannung oder im Exil, und natürlich gibt es auch zwischen diesen für Griechenland so unseligen Jahren und der deutschen Geschichte eine mehr als nur episodische Verbindung.

Vielleicht genügt eine kleine Phantasie, um zu zeigen, w i e wenig Veranlassung zu hiesiger Selbstüberhebung besteht: Man stelle sich nur einmal vor, ein Komponist wie Hans Werner Henze hätte sich Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Enzensberger, Gernhardt, Fried oder wen auch immer vorgenommen und vertont, Hannes Wader, Konstantin Wecker oder in ihrer Nachfolge Grönemeyer hätten sie gesungen und ins Volk, später gar in die Welt getragen! Unvorstellbar? Absolut! Leider.

Statt Rage auf die Griechen also wäre wohl eher Bewunderung für sie, gegebenenfalls sogar ein klein wenig Neid auf ihre Dichter angezeigt. Große Künstler, die zugleich längst große Europäer sind, haben sich lange VOR der Euro-Krise in diesem Sinne geäußert und einen wirksamen Schutzwall um Griechenland und namentlich seine Künstler errichtet. Milan Kundera, der große tschechische Romancier, erzählt es ungefragt wieder und wieder, dass es ohne die Griechen keines seiner Erzählwerke gäbe, der serbische Regisseur Emir Kusturica gibt Gleiches über die Voraussetzungen seiner Filme zum Besten, sein Landsmann Goran Bregovicz reklamiert Ähnliches für seine Kompositionen usw. Sie alle haben ihren sie wahrhaft prägenden „griechischen Helden“ ihre Referenz erwiesen, nicht zuletzt eben Kavafis, Seferis, Ritsos und – natürlich – Elytis. Und der kannte sich nun wirklich aus – mit Legenden über die Griechen:

„Zahllose Lügen stehen Schlange, an die Stelle der Wahrheit zu treten. Vielleicht, weil sie zufällig häßlich sind, verkünden sie, Gott habe die Welt häßlich erschaffen. Einige gehen noch weiter: weil sie einmal fast ertrunken wären, bestehen sie darauf, das Meer sei nicht blau.“

Apropos, Kavavis, und nun komme ich doch noch dazu, warum mich all dies eigentlich nicht NICHT interessiert – was habe ich mit griechischen Weintrinkern und gewissheitstrunkenen Politikern hierzulande zu tun oder besser – jetzt komme ich doch noch zum erwähnten „nichtgesehenen November“.

Bis 1991 haben Asteris und ich die Zeitschrift „Sondeur“ herausgegeben, die manche als Kampfansage an die berühmte „Weltbühne“ verstanden hatten, was aber nicht stimmte: Unser „Sondeur“ war nur einfach erfolgreicher, und der legendäre Verleger Klaus Wagenbach sagte später von ihr, er sei überhaupt das schönste und galanteste Unternehmen des Übergangs gewesen. (Er wollte den „Sondeur“ damals übrigens sogar kaufen und in seinem Verlag erscheinen lassen, aber wir blieben besser Freunde als Geschäftspartner, „griechisch“ einander verbunden gewissermaßen.) Es war eine Zusammenarbeit – vor und auch nach dem nichtgesehenen November – in einer unglaublichen Zeit, und – beim Wort „unglaublich“ zögere ich schon, künstlich, versteht sich, um listig zu der mich beschäftigenden Frage überzuleiten, zu der Frage, wie glaubhaft das ist, was wir sehen, erleben und erst recht natürlich, wie wir es später in unseren kleineren und größeren Werken abbilden und erinnern.

Ich arbeitete damals an einem Buch mit dem Titel „Stunde 1 oder die Erfindung von Ost und West“ – da stand der eigene Wahrheitszweifel schon auf dem Deckel – und Asteris saß an einer Übersetzung von Kavafis; irgendwie fehlte ihm schließlich der Titel für das Buch – die Entscheidung fiel auf eine Gedichtzeile von Kavavis:
„Die Lüge ist nur gealterte Wahrheit“. Ich sah es damals schon lieber umgekehrt und sehe es auch heute noch so:
„Die Wahrheit ist nur gealterte Lüge.“ Nicht und nicht einmal in erster Linie, weil ich alle Politiker für Lügenbeutel hielte oder mich von jeher von den Medien genasführt fühlte, weil ich glaubte, Geschichtsschreibung sei fast immer Verzeichnung, Wissenschaft wäre immer Zurechtrücken und Gefällig-, um nicht zu sagen Gefügigmachen von Ereignissen. Vielmehr, weil ich in einem ganz sicher bin: Ja doch, auch unsere privaten Erinnerungen und Bilanzen sind in der Regel nur geschönte Schummeleien, auch unsere eigenen Wahrheiten sind oft genug nur gealterte Flunkereien, und dass wir sie brauchen und uns – öfter als gelegentlich – ihrer bedienen, hat eben auch etwas zutiefst Anrührendes.

Und insofern sind Collagen natürlich eine ganz besondere Gelegenheit, sich solchen erkenntnistheoretischen Sophismen zu widmen.

Wie „wahr“ sind diese Bilder? Wie tendenziell ist jedes dieser bildhaften Arrangements? Wie authentisch ist die eingenommene Perspektive? Und – letztlich – wie „echt“ sind bereits die  Fotos schon zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme? Sehen wir auf ihnen wirklich, was wir erblicken? In der Realität, aber auch in ihren Abbildungen? Oder finden wir lediglich doch immer wieder nur, was wir suchen? Sind halt so Fragen, manche von ihnen älter als die Alten Griechen. Und natürlich könnten wir auch in eben diesen aktuellen griechischen Angelegenheiten nun fragen: Hat die gegenwärtige Lage jetzt die Wahrheit an den Tag gebracht? Und wenn ja, welche? Die gealterte? Oder eher die neuste? Oder – gar die wahre?

Und – wann bringt es die Wahrheit an den Tag, dass auch unser wahrhaft deutscher Erfolgsdünkel nur auf gealterten Schummelbilanzen, auf gewissermaßen ebenso „getürkten“ Inventuren gründet und auf dem gnädigen Verwischen störender Wirklichkeiten? Wann schlägt unsere Stunde der Wahrheit? Und vor allem – wird uns dann noch irgendwie Hilfe?

Ich glaube, da sitzen wir wirklich alle in einem Boot, oder besser: in einer gemeinsamen europäischen Nussschale, und schon vor beinah zweieinhalb tausend Jahren hat – natürlich ein Alter Grieche – uns Heutigen etwas auf den Weg mitgegeben:

„All jene, die sich zu klug dünken, sich mit Politik zu beschäftigen, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die sehr viel dümmer sind als sie selbst“.

Tja, ja, der alte Plato. Aber: Ich politisiere nicht gern, vielmehr denke ich, wie bereits erwähnt, dass wir alle nur kleine Sünderlein sind – auch und vor allem im Privaten und in unseren ganz individuellen Bilanzen. Schließlich sind auch unsere persönlichen Resümees meist, wenn nicht gleich Heldenberichte aus schweren Zeiten, doch in der Regel auch nur erträglich gemachte Collagen, Bilder also unserer durchschnittlichen Großartigkeit und unserer großartigen Durchschnittlichkeit, in denen wir all die Splitter oder auch Trümmer unseres Lebens so zusammenfügen, dass es schließlich ganz ansehnlich gerät – das ist menschlich, allzu menschlich, und irgendwie erfüllt  uns das Wissen darum im besten Fall auch mit freundlicher Nachsicht füreinander.

Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Nachsicht.

Berlin, November 2011

Aber will man wirklich eine Gesellschaft, in der jeder einen Anspruch darauf hat, von dem, was seine Herzensangelegenheit ist, leben zu können?

Der Verfasser stellt in seinem Artikel
der auf Zeit online erschienen ist, die Frage:
„Aber will man wirklich eine Gesellschaft, in der jeder einen Anspruch darauf hat, von dem, was seine Herzensangelegenheit ist, leben zu können?“ 
 
Im Hinblick auf das Gedichteschreiben beantworte ich das mit einem klaren JA. (Allerdings … Journalisten, die solche Fragen schon jetzt in die Welt setzen, denen sollte, wenn sie irgendwann in die finanzielle Bredouille kommen, diese „eine Gesellschaft“ jeden Tag Kuchen und Rotwein ans Bettchen bringen, bis zum Gehtnichtmehr.)
Ich sehe diesen Beitrag aus der Perspektive: Gestern waren’s „die Griechen“, heute sind’s die DichterInnen und -Außen und übermorgen „hol ich der Königin ihr Kind“.
Ach, wie gut, dass heute gerade noch so Kindertag ist. Es kriegt nicht ein Kind ganz viel Urlaub und ein Kind ganz wenig.
 
Der „Abwärts“ hat vor einiger Zeit mal eine schöne Anregung gegeben, etwas zu schreiben zu „Lyrik wäscht sich nicht“. Vielleicht ist dieser schlaumeierische Beitrag wieder so ein beflügelnder Anlass – nicht nur für den „Abwärts“.
Beuys gab die Auskunft, dass er sich durch Kraftvergeudung ernährt. In dieser Art und Weise ernährt sich die Gesellschaft von den Herzensangelegenheiten der Dichter. Hoffen wir nicht nur, dass das so bleiben kann. Lassen wir’s uns eine Freude sein, darüber zu schreiben, wo und wie auch immer. Habt Freude dabei! Alle Dichter, denen es nicht ganz so gut geht, sind mit euch. Vielleicht doch die meisten.
 
Mitte Mai hätte Matthias Baader Holst seinen 55. Geburtstag gefeiert – oder? Ich habe den Eindruck, dass diese hyperkluge Fragestellung die rechte Vorlage für Baader Holst hätte sein können, um – linkisch-elegant-aktionswillig – einige igelzärtliche Kommentarworte zu formulieren, in Gedichtform.
Die „Briefe an die Jugend von 2017“, die einst eingemauert waren in einen Sockel, in einer Gegend in oder bei Bitterfeld, sollen da, hinter der Metallplatte nicht mehr sein. Schade. Es hätte zum Tag der Oktoberrevolution eine nette gemeinschaftliche Aktion geben können, mit Modemodels, viel nacktem Bein, nacktem, bloßem Dichter-Wort und Verlesung der Texte. Beispielsweise. Nu sind se schon wech … Baader Holst jedenfalls las vor Jahren dort / vor Ort, und ich meine, diese, seine „schleppende Art und Weise“ ist der Durchhaltemodus, der für uns (die weniger Ganz-Blitzschnellen) hilfreich sein wird. Nein, ich behaupte, ich weiß das sicher. Diese Schlepptau-Schwere kommt den Athener 36-Grad-Temperaturen nahe, bei denen man es immernoch schaffen kann, Texte ins Deutsche zu bringen, auch, wenn es gar nichts Kühles mehr gibt und diese Hitze nie mehr aufhören will …
Auch derartige Fragen, wie die aus dem Beitrag, werden wohl wieder und wieder „aufploppen“. Ich habe den Eindruck, wir sollten sie zum Thema machen, da, wo jeder gerade ist. Bezug darauf nehmen, darauf aufmerksam machen, sie in den Raum stellen, weitere Fragen aufwerfen. Wie man so sagt: Macht es, wie ihr wollt.
 
Fröhlich besorgt ist möglicherweise nicht gleich jeder von Geburt aus sowieso. Ich musste es werden. Es wurde vor nicht allzu vielen Jahren gesagt, es könne nicht sein, dass in Europa der eine etwas mehr Urlaub macht und der andere etwas weniger. (Zu denen, die etwas weniger Urlaub machten als andere, gehörten die Dichter. Nähmen wir Angela Merkel beim Wort, dann würde das bedeuten, dass es nicht sein könne, dass die Dichter etwas mehr Urlaub machen. Und so, wie ich „die Dichter“ kenne, liegt ihnen kaum etwas ferner als Urlaubmachen. Ebenso „den Griechen“.)
Die Folgen dieser Aussage erleben wir ständig. Wir erleben, was „das mit Europa gemacht hat“, diese Überzeugung, dass „andere“ in ihrem Land überwiegend mehrheitlich noch mehr Urlaub machen als wir fleißigen Deutschen dort. Es wird bereits vorbereitet darauf, dass die nächste Finanzkrise kommt und „der deutsche Steuerzahler“ sein Geld verlieren. Da können die Dichter in diesem Land wohl noch von Glück reden, wenn sie dann nicht die „neuen Griechen“ sein werden, wie auch andere, die nicht die rechte Leistung bringen.
 
Sag mir, wo die Blumen sind; denn auch dass passierte bereits: die Wiederentdeckung dieses Gedankens:
Victor Klemperer: „Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
 
Seid schön gegrüßt und nicht durcheinander gebracht,
 
Ina

Cross Over Marlene Mikis

Vor etwas mehr als einem Jahr stellte ich ein Foto von Marlene Dietrich neben ein Foto von Mikis Theodorakis.

Auf den ersten Blick gehörten sie zusammen. Zunächst „irgendwie“. Auf den zweiten Blick – es waren Monate vergangen – sah ich eines Tages, in welcher Hinsicht Theodorakis und Marlene Dietrich etwas verband.

Es ist nicht nur die Energie eines Atomkraftwerks sowohl Theodorakis als auch Marlene Dietrich eigen. Dass beider Vornamen mit M beginnen und Marlene Dietrichs angeblicher Lieblingsenkel Michael – also Michalis (oder abgewandelt Mikis) – heißt, das gehört in die Spielecke des Felds der Gemeinsamkeiten. Dass sich außerdem Schützen (Marlene Dietrich) und Löwen (Theodorakis) vertragen, ebenfalls. Als Marlene Dietrich am 6. Mai 1992 in Paris starb, feierte Mikis Theodorakis’ Sohn Giorgos noch den Ausklang seines 32. Geburtstages; zur Welt gekommen war er am 5. Mai 1960 in Paris. Die Familie Theodorakis hatte lange Jahre in dieser Stadt einen Lieblingsrückzugsort – wie bekanntlich auch Marlene Dietrich, die ihr Leben in der häufig erwähnten Wohnung gegenüber dem Hotel Plaza Athenée beschloss. Man möchte sich beinah gar nicht vorstellen, was hätte passieren können, wären Theodorakis und Marlene Dietrich sich im Leben begegnet. „Es hätte Booooom gemacht!“, singt es in mir. Völlig ausgeschlossen wäre dieses Booooom nicht gewesen. Es kam nicht dazu. Allerdings … Marlene Dietrich war ohnehin 24 Jahre älter. Allerdings … sie hatte auch eine Beziehung mit Yul Brynner, dem etwa 19 Jahre Jüngeren (manche Veröffentlichungen geben den Altersunterschied zwischen Marlene Dietrich und Yul Brynner mit 28 Jahren an). Marlene Dietrich wollte als 49-jährige von Yul Brynner gern schwanger werden, schrieb ihre Tochter Maria Riva im Buch über ihre Mutter. Maria Riva, so gut wie gleichaltrig mit Theodorakis. Im Internet finden sich Fotos, die Edith Piaf und Mikis Theodorakis zeigen, als sie im Studio „Omorphi Poli“ aufnahmen – ein Lied, das die Friedrich-Hollaender-inspirierte, Claire-Waldoff- und Edith-Piaf-geschulte Marlene Dietrich ebenfalls gemeistert hätte, wie sie auf ihre Art, zärtlich und unikal, „Allein in einer großen Stadt“ zu singen verstand.

Die Lieder, die Theodorakis als Kind und Jugendlicher hörte, Schlager wie „La Paloma“, sie gehörten ebenfalls zu Marlene Dietrichs freudigen musikalischen Erinnerungen an frühere Zeiten. Für beide – sowohl für Theodorakis als auch für Marlene Dietrich – war das Grammophon ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt, um den das Leben zu kreisen schien, die Welt, überhaupt alles …, später abgelöst vom Plattenspieler und natürlich auch von Strawinskys „Le sacre du printemps“. Damit an dieser Stelle genug des Umkurvens der für mich momentan interessanteren Marlene Dietrich und Mikis Theodorakis verbindenden Aspekte.

Wesentlicher finde ich:

Jeden der beiden verfolgte über Jahrzehnte jeweils eine Figur, die er / sie entweder mit erschaffen oder verkörpert hatte und mit der er / sie von da an das ganze Leben identifiziert wurde. Eine jeweils musikalisch hochenergetische Gestalt, die zudem für eine bestimmte Art stand, durch das Leben zu gehen. Die Lola Lola der Marlene Dietrich. Der Zorbas des Mikis Theodorakis. Sofort sehe ich einen großen Film vor mir, der dem Kinopublikum ermöglicht dabeizusein, wenn diese beiden Gestalten, Lola Lola und Zorbas, sich (mithilfe filmischer Mittel und ungebremst von Zeitschranken) begegnen und „gemeinsam was anstellen“. Eine „Monte Carlo Story“ wird dabei nicht herauskommen. Eine nette Ganoverei anderer Art könnte es wohl werden.

Ob Zorbas am Strand tanzte oder Lola Lola im Varieté „Der Blaue Engel“ ihre Beine zeigte und sang – beide gelten sie als subtile, meisterhafte Verführer, „schräg“, in ihrer Widersprüchlichkeit authentisch – und irgendwie ehrlich, da sie sich ihre Kunst der Verstellung anmerken lassen. Sie laden den Verführten direkt dazu ein, als präsentierten sie sich persönlich vor Hermann Hesses metaphysischem „Magischen Theater“ und drückten dem Steppenwolf ihre Personalakte in die Hand, ohne Maske, Make-up, ohne Handschuhe zu tragen, als würde der Steppenwolf geradezu aufgefordert, genau hinzukucken, die Augen offenzuhalten, wenn die Künstlerin Fröhlich die Lider senkt und die Lieder singt oder wenn Zorbas mit den Fingern schnippst. Als würde der Steppenwolf freizügig eingeladen, beim Schminken und Umkleiden zuzuschaun und der Verwandlung in ein diabolisch berückendes, entwaffnendes, tänzerisch gestimmtes Wesen beizuwohnen. Lola Lola und Zorbas sind so genannte „Naturtalente“. Vielleicht sogar die Unschuld in Person. Man kann sich Lola Lola ohne weiteres als diejenige vorstellen, die einen Sirtaki auf die Bühne bringt, und Zorbas als einen Typen, der mit Lola Lola ein Ding drehen will, wenn auch auf andere Art als Hans Albers-Mazeppa-Iwan-Masepa hinter der Bühne, hinter dem Rücken von Unrath, während dieser durchdreht.

Zorbas wär ein hervorragender schuldiger Attraktiver, den man einer Lola Lola einfach verzeihen muss und dessen Existenz alles an Ungereimtheiten erklärt. Zorbas hätte auch der bevorzugte ferne, vermutlich irgendwo doch existierende Geliebte sein können, für den Amy Jolly in „Marokko“ und Helen in „Entehrt“ Beziehungen oder Chancen erst recht und nochmals sausen lassen, die ihre Existenz vielleicht doch gesichert hätten, ihnen den Hintern gerettet und ein „Zuhause“ beschert. Zorbas könnte derjenige gewesen sein, abwesend, unerreichbar, doch im Leben der Spanischen Tänzerin vielleicht genau dieser, welcher sie so verschlagen sein lässt, unergründlich und imstande, jeden ernsthaften Liebhaber schließlich abzuwimmeln. Oder derjenige, welcher die undurchschaubare, rätselhafte Shanghai Lily melancholisch und vorsichtig werden ließ, und der die Scharlachrote Kaiserin zu so einigem ermutigen konnte, vor allem als ehemals preußische Prinzessin das Zarenreich an sich zu reißen. Lola Lola wäre ihrerseits für Zorbas die Frau, die – seiner Erfahrung nach – beinah allen Frauen innewohnt und der es nur zu begegnen gilt. Die kretische Witwe, die gelyncht wird vom Mobb, der ein Opfer sucht, sie wird immer wieder auferstehen in Lola Lola, neugeboren, anders, geistesgegenwärtig, flink, auf Zack, schlagfertig, lyrisch veranlagt, fähig, Spiegeleier zu machen und gleichzeitig die Garderobe für den Bühnenauftritt flugs bereitgelegt zu haben. Mit geübten Handgriffen zieht sie schnell noch die Linie ihrer Augenbrauen nach. Dass die kretische Witwe eine viel vollere und dunklere Haarpracht sehen lässt als die Berlinerische Lola Lola … kein Hindernis.

Lola Lola hat immer eine überzeugende Idee, in Misslichem etwas Gewinnbringendes zu entdecken. Oder sie hat eine Perücke, die sie hexerisch zeigte. Jedenfalls findet sie einen Ausweg, für sich oder andere. So auch Zorbas. Dieses deutsch-griechische Gespann vermag Spree-Athen mehr noch als unsicher womöglich sicherer zu machen. Berlin bliebe das, was es seit den 20er Jahren ist, und gewänne etwas von dem zurück, was es verlor nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Berlin konnte diesen atemberaubenden Lebenshauch der so genannten Goldenen 20er Jahre nie wieder in seine Brust einströmen lassen. Doch die Stadt ringt darum, wenn auch wie ein Fisch, halb auf dem Trocknen. Lola Lola und Zorbas würden Berlin ein paar Kinder schenken mit kräftigen Lungen. Eine gelungene Sache – Amour & Kultur.

Lola Lola und Zorbas sind leiderfahren und schelmisch – nicht zuletzt, weil sie den Ersten Weltkrieg überlebt haben und sich durchschlagen müssen in beruhigteren Zeiten. Gemeinsam hätten sie sehr gut angetreten sein können gegen eine Diktatur, die in Griechenland Miniröcke, Rock’n Roll und überhaupt alles verbot, was Menschen zu träumerischen Gefühlsaufwallungen, zur Lust nach Abwechslung und Widerstand hätte bewegen können. Sowohl Marlene Dietrich als auch Mikis Theodorakis verweigerten, sich autoritären Machthabern anzudienen.

Beide kommen eigentlich aus konservativen Elternhäusern, in denen gelesen wurde, aus einer Kindheit und Jugend mit vielen Umzügen, beide hatten musikalisch angehauchte Mütter, die kochen und haushalten konnten, beide lernten Geige spielen. Beide hätten sich jeweils schön gemütlich einrichten können und einfach im Rahmen des Möglichen auch in restriktiven Systemen arbeiten, die Klappe halten und Musike machen, denn sie waren jung, immerzu verliebt, charismatisch, hungrig, sie brauchten Geld, die Bühne, Publikum, Auftrittsmöglichkeiten.

Beide Biografien weisen die Besonderheit auf, dass sowohl Marlene Dietrich (Deutschland) als auch Theodorakis (Griechenland) jeder für sich international immer wieder als bedeutendste Künstler ihres Herkunftslandes gelten. Andererseits waren sie mit Verachtung konfrontiert, und ihnen wurde bedeutet, dass sie angeblich in ihr Heimatland nicht so richtig hineingehören, dass sie abhauen sollen oder den Mund halten. An beiden hat die Presse sich ausgelassen – beide waren immer ein Thema, das „zog“. So oder so. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis man sich in Berlin entschließen konnte, einen Platz nach Marlene Dietrich zu benennen. Und es ist höchst lächerlich und bezeichnend, dass weder die griechische Regierung, noch Stadien-Eigentümer in Athen, noch irgendeine frisch entschlossene Gruppe verschiedener griechischer Musiker es fertigbringen wollte, den 90. Geburtstag von Theodorakis Ende Juli 2015 mit einem großen vielfarbigen Konzert in Athen zu feiern. Man war absolut nicht scharf auf so ein Erlebnis, auf eine Nacht voller Musik, man wollte einfach nicht. Von den Gefragten war allerdings Maria Farantouri augenblicklich bereit und bewies damit eine gewisse Courage, die man auch zu DDR-Zeiten brauchte, wenn man nicht am Stumpfsinn verrecken oder vom „es nützt ja doch nichts“ farblos werden wollte. Es offenbarte sich in diesem sturen Verhindern einer großen klangvollen Geburtstagsfeier für den 90jährigen Theodorakis, in diesem Zögern, Hinhalten, Erklären, Zerreden, Verweisen auf die offene Frage, wer Ende Juli die Regierung bilden würde, oder im Verweisen auf Manos Hatzidakis oder auf die Ecken und Enden, an denen alles fehle, eine kolossale Beschränktheit, Engherzigkeit und Intoleranz, eine kackspechtige Verbohrtheit, eine armselige Armseligkeit, Pedanterie, Schlaumeierei und Gehässigkeit, die zwar nicht die von 1972 war, aber die von 1972 in 2015-er Samteinkleidung. Es hätte auch das andersverstimmte, janusköpfige Lechzen sein können, das Marlene Dietrich ihrerseits riechen konnte, wenn sich Vertreter der UFA und andere Personen in den 30er Jahren nach Paris begaben, um sie nach Deutschland zu locken. Einer tanzte gar mit einem Weihnachtsbaum an.

Der eine wird verhindert, der andere soll mit Häppchen geködert werden. Hauptsache man spurt und unterwirft sich einer Nebelkammer-Instanz, die sich als mächtig genug wahrnimmt, um Musikern ans Bein pinkeln zu können. Wenn man nicht kuscht, wird man verrissen oder schleichfüßig über- oder umgangen. Passive Agressivität – so könnte man es auch nennen, weiter genährt nach Diktatorenzeiten. Rache, Überlegenheitsdünkel, kleinkarierte pikierte Geniertheit, die sich in eigentlich friedlichen Zeiten ausgewachsen hat zu Ratlosigkeit, Pedanterie, Frustration und hochengagierter Verhinderungslust, die sich gern vernunftgeleitet und wohlbedacht gibt … Diktaturen mögen vor allem das nicht: Menschenkindern vom Klapperstorch mit in die Wiege gelegten Sex-Appeal und Mutterwitz, weder Rock’n Roll noch Jazz noch kretische Mantinaden, weder das Schiff, das kommen wird, noch die Seeräuberjenny, keine Musiker, die sich frischfrech hinstellen und lautstark „Es geht mir gut es geht mir gut es geht mir gut!“ zum Besten geben. Das können die Entscheider, die Spielstättenhaber nicht vertragen. Da kriegen sie Gallenkoliken oder Nierenschmerzen. Dafür stellen sie keine Hallen, Stadien oder öffentliche Plätze zur Verfügung im eigenen Land. Dafür machen sie keinen Raum frei. Gouvernanten, die für sich in Anspruch nehmen, die Programmgestaltung besser machen zu können als die Musiker. Ich rieche Menschenfleisch. Ein wohlbekannter Sänger Griechenlands hat jetzt Luft geholt und wohl bekannt, dass er den Theodorakis zu lange verdrängt hat. Damit aber auch den Hatzidakis, letztendlich. Und letztendlich geht Griechenland den Bach runter, ohne die beiden und mit der Verhinderung, meine ich.

Nach einer langen Eiszeit wird wieder und wieder das Frühlingsopfer vollzogen, die alten Götter ziehen sich zurück, der „alte Winter in seiner Strenge“, die jungen Götter brechen auf und nahen von hinten und von vorn, mit Pinseln und mit Notenschlüsseln, mit Windfahnen, Kameras, auf Schwalbenflügeln, mit Papierdrachen und Phönixen, mit Marlene Dietrichs Kochtöpfen und Theodorakis’ Zigarren, die Erde übergießt sich mit Krokussafran, Anemonenblut, Blausternseen, mandelbaumrosafarbenem Märzenmarzipan, Anne Franks April-Kastanie und der weiße Maien-Flieder blühen wild, auch wenn es regnet. Einer wird sich an den Konzertflügel setzen, Chopin spielen und dann, sehr langsam, leise, so, dass aus den Fragen Antworten hervorgehen, auch das: „Sag mir, wo die Blumen sind“, ein Lied, ein Blues, der in dieser Zeit auf eine zärtliche, kräftige Erneuerung wartet, gesungen von einer starken Stimme – im „Blauen Engel“ von Athen, von Hitchcocks Roter Lola. Sagen wir so.

Marlene Dietrich und Mikis Theodorakis lassen sich von der Quadriga kutschieren – in mancherlei Hinsicht scheinen sie vom selben Planeten zu stammen. Sie sind vielleicht von dort, wohin der Kleine Prinz verschwunden ist. Darüber kann der Fuchs uns mehr sagen und auch das Äffchen, das auf des Leierkastenmanns Box tanzt. Lola Lola und Zorbas – die besten Botschafter für Berlin und Athen. Auch unrunde Geburtstage können gefeiert werden. Ab dem 90. liegt das in der Natur der Sache, Musikern am Herzen und im Sinn. Jedes Jahr zählt von da an ein Menschenjahrzehnt. Jeder Mensch ist ein Musiker. Ich atme musikalische Radio-Aktivität. Ich will wieder wissen, wo die Blumen sind, ein Vierteljahrhundert, nachdem Marlene Dietrich sich in den Schatten weißblühenden Flieders legte. Lola Lola und Zorbas – nach ihre Beene is ja janz Berlin verrückt.

Text & Photos © by Ina Kutulas

 

Das Männschliche und die Blätter, gefallen auf Laubrupfenbraun

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Das Universum fährt seine eigenwillige Tour, es ist all hier, es lässt sich Zeit. Auf jede Zeit der Welt verlässt sich’s kaum; dem Menschen allerdings, dem überlässt es zeitweilig den einen oder anderen Erdenkram, dass er, der Mensch, sich an Extra-Schlamassel probiere, diesen zunächst gar paradiesischer Natur wähne, irrtümlich, um dann enttäuscht aufzuschrecken, wenn der Schlamassel sich nicht als Guthumussubstrat erweist, sondern ihm eine Patsche ist. Beim Gang durch die Straße der Widerwärtigkeiten sind des wahren Erdenlebens Überraschungen zu erleben: voll des Garstigen, des Unerklärlichen, Aberwitzigen, Misslichen, Hinderlichen, des dem Paradieseszustand Abholden. Ausgeliefert an solches Gemenge, mürbe gemacht wähnt sich ein Mann nach Jahren, wenn dieser Weg nicht zur Straße der Sonne wurde, sondern der Boden sich auftun zu wollen scheint und das Erdige morastige Vertiefungen ausformt, als wollte eine davon den Mann schlucken und dunklen mineralischen Schichten einverleiben. Wie gefallenes Laub, das eben noch goldlichternd tanzte in Lüften, endlich fortgelassen vom Baum, niedergegangen dann, entrauscht.

Hin und wieder allerdings wird vom Universum ein Pausieren des Menschen-Karma veranlasst. Dann geschieht ganz und gar nichts mehr überhaupt sowieso. Dann ist zu erleben, was der Mann anstellt. Nicht länger ausgeliefert, kann nun er ausliefern, der Mann, wenn er will. Sich die Freiheit nehmen und damit tun und lassen, wonach der Sinn ihm steht. Dann übernimmt das Universum kurzzeitig nicht weiter die unabänderliche, ihm obliegende Führung; es öffnet seinen doppelten Boden, schlüpft aus seiner Verantwortung, macht einen Kuraufenthalt mit Detox-Anwendungen, Ölstirnguss, Maniküre, Pediküre, Wechselbädern, Moorpackungen.
Jetzt – gelöst aus der Karma-Umklammerung, plötzlich doch noch auf der Straße der Sonne gelandet – handelt der Mensch selbstabhängig, seine Tat kann dem völlig eigenwilligen Entschlussimpuls folgen. Sie wird erdacht, beschlossen und totalabsichtlich ausgeführt vom Homo Sapiens. Falls nicht ein hemmendes Zögern der Tat vorgeschaltet wird und diese zu guter Letzt wegen eines “lieber doch nicht” unausgeführt bleibt. Dann mag er seinen zeitlichen Spielraum nutzen, der Mann, beim Müßiggang, im Liegestuhl, auf der Bank, Wippe oder auf dem Schaukelbrett vor der Laube, auf dem Rasenstück, oder davon träumend zumindest, in störungsfreier Zone, als sei auch er ein ganzes Universum, der Mann, ein Allumfassendes, das sich endlich frei nimmt von sich selbst. Und seine Bilder beginnen zu fluten …

Tänzer erscheinen nicht selten als vom Schwerelosen regierte Menschenexemplare, ununterbrochen gefordert, sich dünn zu machen, weniger bodenverhaftet, ins Fliegerische sich hineinzusteigern, Tänzer sind Flüchtige, Blattleichte, nicht sehr lastend, es sei denn, sie machen sich absichtlich massig, bleiern, betont träge. Die Köpfe balancieren sie locker wie gläserne Bälle, die im Nu verloren oder zerbrochen werden könnten. Beinah unerdgebunden, fast universenschwerelos bringen Tänzer sich flugs auf die Idee, selbstkönnerisch einen Plan für den Tag zu machen, ein Konzept, mit ihren Gedanken etwas voraus, um ein paar Schritte noch schneller zu sein, endlich über die Horizontlinie zu springen und dort dem eigenen Schatten entgegenzuwarten. Das Leben wie ein Kunststück zu beherrschen – dem Tänzer steht der Sinn danach. Wer vorangehen will, könnte vorvorausdenkerisch sehen müssen. Und ihr Blätter, wollt ihr tanzen. Und ihr Tänzer, wollt ihr blättern. Und ihr Männer, wollt ihr männschlich genannt werden.

Berlin brachte ein Weibwesen in Stimmung, etwas Goldschimmerndes auf dem Leib, blaue Schuh’ dazu. Im Umraum oktoberte es, und die Blätter fielen längst, als zählten sie des Weibleibwesens Seufzer, im Außenraum, vor fünf Jahren, vor den Türen und Fenstern des Saals. Fallen ließ die Goldglanztänzerin sich, wieder und wieder, bis zum Gehtnichtmehr fast. Ihr Strecken, ihr Krümmen, ihr Auf und Ab, ihr Fortkommenwollen, ihr Hierbleibenmüssen, ihr Sich-Festhalten-Lassen, ein Hingeben und Hergeben, Entrissensein, blattgleich im Stoßwind. Der Lucky Trimmer war keinesfalls als Rasentrimmer zu verstehen. Zwei Schritt vor und zwei zurück, einmal hin und einmal her, rundherum … Immer und immer wieder die Schritte, nie aber die selben, im Fallen, Aufspringen, im Sich-Hinstrecken, Wälzen – vorangebracht wurde so die Geschichte. Im Nachgang der Vorgang. Im Vorhinein innigliches Außersichsein. Äußerste Geduld, wortlose Übereinkunft der Goldglanztänzerin und des Publikums, all das mitzumachen, die nicht enden wollende Wiederholung, die doch endete im Moment, als Gewöhnung eintreten wollte, Stumpfheit – oder doch spürbare, benennbare Qual, die endlich, schließlich der Gewalt der Anspannung folgen sollte, dass sich wandle das Zermürbende, das Fragenertragenmüssen nach dem Sinn der Übung. Der Schluss wurde da gemacht, an diesem Punkt, der Tanz nicht länger aufgeführt, sondern in Worte gefasst: “How many roads must a man walk down before you call him a man … Und wie viele Türen müssen geöffnet und geschlossen werden, Bänke verschoben, besessen und belassen, Wagen kutschiert, gebremst, zum Halten gebracht, muss der Mann den Insassen gemacht haben, die Sasse den Hasen in sich aufgenommen, der sich duckt vor dem Fuchse, muss der Igel den Hasen getäuscht haben, müssen Mäntel gehoben und gelegt, Räume verschwittert, Wünsche gehegt werden … bevor der Mensch ein Mensch genannt werde, nachdem er was gefressen, bittesehr … Wie viele Teller müssen gewaschen, Tassen zerschlagen, Gläser gekippt, Brote gewogen, gebrochen, zerbröselt, geschnitten, wie oft Schnitte verheilt, in den Goldenen Schnitt das Menschenmaß gepasst, Blätter zwischen Buchseiten gepresst, Bilder gerahmt, Blicke nach außen von hinnen und wieder und wieder nach innen geschickt worden sein … bevor der Mensch ein Mensch, der Mann ein Mann, männschlich genannt werden kann … wie oft der Rasen gemäht, getrimmt, ein Trimmdichpfad gegangen, ein Rasen, viele Rasen von immer dem selben Mann bespielt, erobert von immer dem selben Spieler oder von diesem Spieler, zusammen mit anderen … Wie viele Rasen müssen von einem Mann gehegt worden sein, wie viel Wäsche von einem Mann zum Trocknen an die Leine geklammert, wie viele buntmarmorierte Eier gesucht von einem Mann, wie viele Hasen besungen, Schleifenbänder gewunden, wie viele Löwenzahnblätter gestochen, wie viele Rasenkanten geschnitten, wie viel Schneefall gesehen worden sein, wie viele Schneemänner geworden, wie viele Kindlein geduldet … Wievielmal Kind … Wieviel Kind und wie viele Kinderseelen muss ein Mann zu sein gewünscht haben und wie oft ein Kind, bevor er ein Mann genannt werden kann: Mann … für sich allein oder als Mannschaft und männschlich…” Die Antwort trägt das himmlische Kind mit sich herum, in seinen Windhosentaschenfalten, das Balg in seinem Blasebalg … zu diesem Empfänger hin eher, her zum anderen später.

Einen Mann packt die Wut, seine Wangen färbt Blutglut wie das Blattwerk an mehr oder weniger Stellen, wenn der Mann die Antwort nicht weiß auf die Frage, die sich stellt, wenn fremde Füße Wege hierher führen, den vertrauten Rasen betreten und fremder Hände Finger Blätter aufheben und nicht gewusst werden kann vom männschlichen Menschen womöglich, ob der Rasen darob entfemdet, ein Irrlabyrinth werde dem Manne, das ganze getrimmte Geviert wohl gar, ob das Blattwerk, welches der Mann schaut, zu fremdeln beginnt, welches so traut sich gelegt hatte auf die Halme, während die Halme ein so trautes Wispern vernehmen ließen, als sollte man da heraushören: Helme … Ach, so ein wohlgefälliger, gut bekannter Rasen, ein Feld, als wär es im eigenen Innersten angelegt, im gänzlich eigenen unversehrten Interesse, dass es aufgenommen werde, das Rasenfeld, vom allerhellsten, dem Manneskörper unfremden, ihm innewohnenden Licht – ein Heim ohne Aberheimliches. Ein ungetrübtes bergkristallreines Sich-dem-Manne-klar-Offenbarendes. Es kommt …
Kinder allerdings, urplötzlich erstmalig erblickte, können unheimlich sein oder werden oder werden wollen, ein Unheim in sich tragen; sie kommen des Wegs, diese Plötzlichen, betreten den Rasen, schleichen sich ein und dann an, schließen auf und zu womöglich mit Himmelsschlüsselchenideen, erhalten Schlüsselgewalt, Schlüsselpositionen, können schalten und walten, alle Spinde der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft öffnen, durchwühlen, plündern, sich Schicksale zu eigen machen, die ihnen gar nicht gehören, Primelglück, Farnwurzel, Krokuszwiebeln, das Universum schläft ja, sieht es ja nicht in solchen Zeiten, wenn es pausieret; sie treiben sich um, diese Anderen, und treiben es bunt, man weiß nicht, wie weit sie vom Außen und Äußersten schon ins Innerste gelangt sind, am Innenministerium der Seele vorbei gar in die eigenen Windungen des Hirns, Widerwärtiges im Schilde führend, und ob der Mann noch Mann genannt werden kann oder Mensch und ob er nicht rasch seiner selbst entfremdet sich fühlen wird; manches Mal im Laufe aller Zeit war solches schon geschehen, noch eh es jäh gedacht … Wie soll er das wissen, der betagte Mann, wenn nichts bleibt, wie es war, das Leere nicht leer, das Alte nicht alt, das Gewusste nicht gewiss, das Traute nicht traut, sondern untraut wie Unkraut, der Rasen, der dem Mann längst ein eigener urewiger vorzeitinnerlichster Höhlenraum war, als Gemeinplatz nun betreten wird, die Blätter zum Gemeineigentum erhoben und gehoben werden und in selbigem Momente lebhaftes Schauen und Lachen wahrzunehmen sind, wie man es hier nicht gut kennt, wenn Unruhe sich breitmacht über des Rasens Halmhelmen, Mädchen pflückten sie geschwind, dem Trauten ist jetzt eine Untraude entgegengestellt, Furcht erregend, ein Ungemach bereitend inmitten all der Schutzgemächer, die Dämonin, das Blut wird sie saugen aus den Blättern, und denen wird sie es ins Gesicht spucken wie Gift, die einen zaghaften Blick aus dem Fenster zu werfen gewohnt sind … Sie kommen … Bald werden als Neophythen, als rasch Einwandernde die bis eben noch allerheimischsten Pflanzen gelten, niedergewertet, verkehrtgeweltet, fremdgemacht von Fremden, werden ihre Wurzeln gen Himmel wachsen, ihre Blüten sich in die Böden graben, das Licht wird folgen und in die tieferen Gesteinsschichten ziehen, hinab, das Mineralische jedoch aufsteigen, die Himmel zu Höllen geraten, das Unterste zum Obersten sich erheben, Krummes gerade sich strecken, Gerades zu Verbogenem tendieren … Sie verdrehen ja alles, kommen von der anderen Erdhalbkugel und kennen’s nur so, eben unrecht, sie wühlen dieses perfekte Gehege deshalb um und dumm, zerstören die Gelege, verwirren das Gewege verwegen … behalten Fundstücke für sich … Sie kommen …

Wie das endet, wohin das führt, wer das bezahlen soll, wer dafür aufkommt, wer es ausbügeln muss oder ausbaden oder dafür geradestehen … Es kann einen rasend machen … Diese Plötzlichen, die uns überrennen wollen, schon von Kindesbeinen an, gehen her und betreten den Rasen, unbefugt, und es steht nicht drangeschrieben an ihnen, dass es Unbefugte sind, sie tarnen sich unter Hüllen des Nichtbeschriftetseins, so dass man nicht weiß, woran man mit ihnen ist, was es auf sich hat mit ihnen – Rasende oder Riesengnome; eine Schwierigkeit zusätzlich im Leben bedeutet es, sie als solche Nichtbefugten oder vielleicht Dochbefugten ausmachen zu müssen, hinaus schauen sollte man jetzt wohl besser Tag für Tag, abermals und abermals, ob sie nahen, schon da sind, gleich wissen, zu welchen diese Plötzlichen gehören, wie man sie zu verstehen hat … Sie sind nicht als diese oder jene ausgewiesen, sie sind nicht bezeichnet, weder urkundlich beglaubigt noch bestätigt als Rasenbetreterbefugte und zu Blattaufhebern Ermächtigte, nicht unter “gleich mit unsereins” verortet, verbucht, nicht zum “Kapitän auf dem Rasen” erklärt, von allen Kapitänen und Königen zum Stürmersteuermann nicht ernannt, nicht etikettiert, legitimiert, das Laubaufheben zu vollziehen, ihr Freudeslachen nicht ausdrücklich genehmigt, nicht schriftlich zu Protokoll gegeben und abgezeichnet, als harmlos nicht verbrieft. Sie kommen …

Der Unbedenklichkeit bestätigende, höchstautoritäre, sie identifizierende Stempelabdruck wohl, wenn erhalten, tückisch verborgen vor den Blicken des betagten, auf seinen Instinkt sich jetzt allein verlassen müssenden Mann; es versteht sich von selbst: vom Manne muss gewusst werden in Bruchteilen von Sekunden, ob Recht hier geschieht oder Unrecht, ein Verbrechen gar begangen wird schon beim Begehen des Rasens, ob dieses Landes Grundgesetz aus den Angeln gehoben wird mit dem Heben der Laubblätter, der Mann soll im Nu bewertet haben, schlussfolgern: handeln oder nicht, so verlangt es das Universum wohl; wenn es den männschlichen Menschen probehalber sich selbst und seiner ganzen Freiheit mitsamt aller Entscheidungsgewalt überlässt, dann sollen die Dinge sich inzwischen augenblicklich selbsterklärend offenbaren oder als solche vom Manne und Menschen erfasst und ausgedeutet werden, als läge jegliches Beurteilungsurteil als einzig richtige Antwort allzeit in der Innenraumluft, in der Zimmerluft bereit, die der Mann stetig atmet hinter der gläsernen Scheibe, Innenraumluft, die ihn schlau und universalerkenntnisfähig gemacht haben sollte, längst. Die Lehr-Erkenntnis muss nur gewonnen worden sein, beizeiten, und nun parat. Sie kommen …

Alter Mann, was tun?? Nun …?? Entscheide! Angriff, Verteidigung, Rückzug, Abwarten, Nichtschießen, Aktivwerden, Zögern, vor oder zurück …?? Das Universum lässt dich allein, prüfend, mit dieser Frage. Bist du Mann, Mensch, wirst du ein solcher genannt werden können? Bist du dafür genug Straßen gegangen in deinem Leben? Gehst du durch als Mannmensch, dann, an des Paradieses Pforte? Steht das hier zur Debatte, während die Plötzlichen auf dem Rasen schon stehen, her und hin schon gehen, sich mehren womöglich, wenn sie erst Fuß gefasst haben, wo vorher die Helmhalme allein standen und die Blätter lagen, bunt wie Antworten, sich nicht rührten, nicht lärmten, wo der Boden sich gesetzt hatte, längst, und Menschen in gesetztem Alter ringsherum wohnhaft, im Behausungsverbund mit Jüngeren? Sie kommen … Wie handelt der betagte Mann, nachdem er so viel Straße im Leben abschreiten musste, so viele Fragestellungen ihrem Sinngehalt nach verstehen, so viele Antworten wissen, solche nach den Verkehrsregeln, nach dem Periodensystem der Elemente, nach der Brandschutz-, der Abfüll-Verordnung, nach den Erste-Hilfe-, den Sofortwiederbelebungs-Maßnahmen, nach der Rangordnung, nach den Bestimmungen, nach der ersten Bürgerpflicht, nachdem er so müde sich gekämpft, sich aufgerappelt und wieder verausgabt hat, vieltausendmal, erfolgreich oder nicht der Rede wert, vergeblich, völlig umsonst? Ist der Mann in des Wissens Stand erhoben und kann ermessen: Darf ein Lachen erschallen auf diesem Rasen, oder schädigt ein solches an sich die gute Bodensubstanz, beeinträchtigt Zellwachstum, Wurzelbildung, Begrünungsgrad? Bringt es den ph-Wert durcheinander und damit das Grundwasser in ungünstigen Stand? Sie kommen … Darf sich heimisch gefühlt werden von solchen, die noch nie zuvor hier sich zeigten, wäre ein Befremden und gleichzeitiges Fremdwerden der hiesigen Anwohner jetzt zu vermeiden, ist ein sofortiges Vertreiben der unbekannten, plötzlichen Auslöserverursacher vonnöten, sogar direkt erforderlich, ein Erzeugen von abschreckendem Lärm, ein Klappenschlagen, ein Rufkartätschen-Abfeuern, ein übermächtiges Brüllen, ein Blut-und-Boden-Hämmern ans Fensterglas, und wenn ja, in welcher Stärke – eher, wie wenn ein Hase, ein Starenvogel, ein Fuchsräuber, ein Eierdieb, ein Mückentückentuckmuck oder wie wenn ein Löwe, ein Olifant, ein Dinosaurier, ein Gigantoobermonsteratus zu verscheuchen wäre, was fordert das Universum mit allen Elementen vom betagten Mann, dessen Augen schon so viel gesehen haben könnten, dessen Füße so viele Wege schon gegangen sein dürften, dass er Mann genannt werden müsste von anderen. Von Hiesigen, solchen, jenen oder Abholden, Aushäusigen, Dortigen, Überschärigen, Urplötzlichen? Welche Antwort legitimiert den Mannmenschen, sich als wohnhaft wahrnehmen zu können, mehr als es anderen zugestanden sein kann … niemals jedoch gesondert von allen anderen Wohnhaften der Welt, ewiglich eingebunden in den Kreislauf von Aufgenommenwerden und Entlassenwerden vom Nichts ins Nichts … Sie kommen … Wirst du verloren sein, betagter Mann, wenn die Kindlein da auf dem Rasen stehen und einhergehen, wo sie vordem noch nie anwesend waren? Ist dir, Mann, gekommen aus dem Nichts, die Rückkehr ins Nichts versperrt, wenn sie dort stehen und gehen und lachen gar? Verunmöglichen sie dem Universum das Einssein mit dir? Oder sind sie nur eine Probe, deinen Männschensinn zu erfahren? Wirst du ausflocken, zerstieben wie ein zu Pulver sich zersetzender Kunstschneemann im Wind, weil diese Kinder den Leerraum über dem Rasen in seiner Homogenität beschädigen, zerstören, konterminieren, unterminieren womöglich, dort, da gewöhnlich dein Schauen seinen Platz findet und dein Leben einen Fix-, Flucht-, Angel- oder Knackpunkt? Wo Schneck und Spinnlein, Tausendfüßer und Ameis ihr Reich errichtet haben. Dieser Prüfungsstress … Du kannst jetzt nicht sagen: Da hab ich gefehlt, in dieser Unterrichtsstunde des Universums, als das Kapitel “Wer als Plötzlicher kommt und geht, bleibt und fehlt, flieht und steht” durchgenommen wurde. Du kommst …
Blätter liegen auf anderen Blättern und wollen wieder Erde, wieder Blattwerk werden. Dürfen Hände nach ihnen fassen und diesen Prozess verzögern, unterbinden oder überbinden gar, rückverbinden, geht das gegen die Rhythmik der Natur? Schadet das Plötzliche oder eher das Zögerische, Langatmige? Wird der Mann als ein rechter Mann sich erweisen? Schon schlägt gegen das Glas seine Hand die Antwort. Hör seine Trommel, Universum, da hast du eine Probe auf’s Exempel … Er kommt …

Simon, in Allerweltsauftrag, machte vor kurzem Mitteilung: “Besser ignoriere das Schlechte und fokussiere auf das Gute. Nicht, um wegzuschaun oder um sich in die Wohlfühlzone abzusetzen. Sondern wegen des GESETZES DER ANZIEHUNGSKRAFT. So funktioniert das Universum. Wenn du deine Aufmerksamkeit auf etwas richtest, wirst du noch mehr von diesem bekommen. Verstehst du? Wir alle sind göttlich und miteinander verbunden – unabhängig von Rasse, Religion und finanziellen Möglichkeiten. Also müssen wir die guten Schwingungen stärken, und sie werden sich verstärken wie der Wind. Verstehst du?“
In Betrachtung der Blätter. Den Herbst also beschrieben die Pina-Bausch-Tänzer mit einer schwippschwingenden Bewegung der Hand. In vier Sekunden die ganze Jahreszeit präsent, in zwanzig Sekunden ein ganzes Jahr durchdekliniert. Die Tänzer gingen im Kreis ihre Bahn und wiederholten alle Zeit, Zeit um Zeit um Zeit. Eines Tages schlägt sie dir entgegen. Eines Tages verliert sie dich im Galopp. Im Verlorenwerden lässt diese Zeit sich ermessen … Der Augenblick … Eines Tages lässt Zeit sich finden … In diesem Moment stellt sich dir Chronos. „Chronos und die Trauernde“ – zwei Figuren auf einem Sockel in Radebeul, der Kreisesstadt. Im Kreise des Jahres Tänzer, kreiseltänzerisch Wege zeichnend. Sie fließt noch weiter, die Elbe, strudelt, mäandert. Wasser weicht Papier und lässt Baumblätter modern, Pappeln lodern, Erlen schwärzen, Linden herzen, Birken harzen, Eichen knarzen … Des Flusses Arme satt von Morast. Und die Moral – Last am Zweigesast. Hol tief Luft. Sie kommen … Der Krähenkuckucksvogel verkündet.

Hier die Großstadt und dorten. Färbt sich das Laub der Ahornbäume vor diesem sandgelb gestrichenen Haus, erglüht die Goldnuance der gesammelten Sonnenkraft lichter Monate, der Zeit offenster Himmel, des Frühlingsommers. Blatt für Blatt löst dieses Gold sich jetzt, zerfällt zu tausenden einzelnen Seiten, locker gestreut das Buch der Tage. Des Jahres letzter Teppich jedermann zu Füßen. Regnerische Tage … Sie kommen … Dann ist die Zeit der Dornen heran, die Zeit der Gerüste, der Endlosigkeit, der Epedemien, des kalten Gesteins, der Schlitterpartien und Kristallsplitter, der Bittlichter, der Losigkeit. Gregor Kunz rief vor einem Vierteljahrhundert ins Megaphon Ungarettis Verse: „Soldaten / So / wie im Herbst / am Baum / Blatt um Blatt.“ Die Gesetzeshüterin, die Schwarzrabenkuckuckskrähe aufschreit: „Nicht den Krieg denken! Den Blick umlenken! Schnell den Hebel auf Harmonie umlegen, nach da die Aufmerksamkeit bewegen, eh die Sekunde verzwergt, das Universum den Negativfokus bemerkt und das GESETZ DER ANZIEHUNGSKRAFT sich seiner selbst bewusst wird, schlagartig erwacht und seine Wirkung wirkkräftig macht! Schlechtes wird Schlächter. Du nicht gerechter. Schau doch einfach die Blätter an, das urheilige Friedensgold, und vergiss Soldateska, Söldnersold, den Todesmann und Wolfskinder, Häscher und Gehetzte, Äscher und Verletzte, Tarnanzüge, Elend und Krüppel, Knüppel, Ertrunkene und Gebrannte, Gesunkene, Verrannte, Gekürzte und Gestreckte, Entschürzte, Verreckte. Lass den Wind das Laub verwehn, als teile er PAXmagische Schriftstücke, lass die Blicke wortwärts gehn, längs der Lineaturen von Ulmen, von Buchen, Hainbuchen, Rosskastanien. Hör und überhör die Uhren. Stell dir eine Laube hin, denk im Dickicht ein Gedicht, wäge wohl des Blattgoldes Gewicht. Blatt für Blatt. Rauh und glatt. Laublese nach der ihr eigenen Natur. Sieh sie nur.“

Bob Dylan hat den Literaturnobelpreis bekommen. Ich hab vernommen: „The answer my friend is blowing in the wind“ – das verschränkt sich mir im Sinn wieder und aberwidrig mit: „Sag mir, wo die Blumen sind“. Und das „sind“ reimt sich auf „wind“, „blowing“ auf „flowing“, „flower“ auf „Mauer“, „Laub“ auf „taub“. Anna Bronski in ihren kartoffelbraunen Röcken dachte nicht lang nach, im Oktober; nachher sagte sie: „Wirst schon wissen.“ So schlicht und einfach lässt sich Gewissheit verbreiten. „Sag mir wo die Blumen sind! / Die Antwort weiß allein der Wind / Wo der Wind sie hingetragen / Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“ Ich halte mich vorerst an Annas Worte und sag sie jedem, der nicht mehr weiß, wo oben und wo unten geblieben.

Die Herbstherrlichkeit wird sichtbar in den Blättern, die ihr Grün von den Lüften aussaugen lassen und noch andere Farben zur Anschauung bieten. Bis sie sich verausgabt haben und kartoffelbraun sind und weit weg vom Zweig. Drei Kinderlein kamen des Weges, sie waren wohl keine von solchen, die Unzeiten längst anwohnend sind. Die sahen auf vielen braunen die wenigen bunten Blätter leuchten wie Zeichen, die sahen sie fallen, die sahen sie liegen, sie hörten die Blätter raunen, sie sahen das Licht sich wiegen. Und ganz wie Simon es geraten, so taten sie und machten sie es und fokussierten auf die lichten Blattschönheiten, die sich vornehmlich bereitgelegt hatten, um von diesen drei Kindlein gesehen, erfasst, aufgehoben und geschwenket zu werden, als wollte der Herbst so seinen Staat am besten machen. Als wollte er kleine Könige aus ihnen werden lassen, mit Gold und Weihrauch und Myrrhe in ihren Händen.
Die Kindlein beschallten das Blattwerk mit Lachen. Alles in der kosmischen Ordnung, wie Simon es anempfahl. Aber – welch Trauer in den Blattleselandstrichen von Hans Sachs, von Goethen und Schillern, von Heine und Hölderlin, von Novalis, von Kästner, Brecht, Fried, Celan, von Bachmann, Arendt und Kirsch, von Müller, Inge, und Müller, Heiner, von Braun, Czechowski, Hilbig, Endler, Erb und Struzyk, von Baader Holst, Papenfuß, Lanzendörfer, Köhler und Jansen, von Günderrode, Droste-Hülshoff, Rilke, Eichendorff und Sachs, Nelly, von Dichtern, die Straßen querten, beide Hirnhälften auf jede Straßenseite eingestimmt, von Dichtern, die den Mittelstreifen nutzten, zu beiden Seiten hin, als Balancierbalken, den Sturz, den Unfall gewahr durch Gewahrgewordensein, die Unbehausung Straße, den in die Straßenflucht Geschlagenen …, welch Trauer in unzählbaren Silbenfeldern gefundener Worte – Simons kosmische Ordnung gibt sich löchrig, durchlässig, erlaubt lautmalerische Leerstellen, erfasst mitnichten jedes Rasengeviert, lässt Raum; da kann auf Touren kommen, wer die junge Garde der Blatträuberkrieger mit Stängeln und Halmen ins Licht stechen sieht … Ein wütendes Hämmern gegen Glas, ein brüllendes Rufen: „Macht, dass ihr wegkommt! Haut ab, ihr Pack!“ Drei Kindlein müssen rennen, da der Rasenfeldherrenmann zürnt und ins Toben kommt. Wie auch die Windräder rennen und die Herzen rasen. Nur kommen die Dinge nicht von der Stelle. Die Kinderbeine allerdings. Die Packstation gleich hinter dem Park. Die Wut kann einen Mann packen, wenn bereits endgültig gefallene, vom Wind abgeschriebene Blätter noch einmal gehoben werden, bedeckte Rasenstellen noch einmal vom Licht des Tages beschienen, wenn eingegriffen wird in den Naturkreislauf, womöglich empfindlich, wider die Regeln, entgegen der Fallgesetze und Humusbildegesetze Logik auf Erden. Unnatürliches könnte sich ereignen. Das Universum darob zürnen und sich rächen wollen, womöglich; man weiß ja nicht, wie es reagiert, sagt sich der Mann. Wie soll man das Große kennen, wenn’s doch zu groß ist. Die kleinere Dimension allein ist gerade noch so fassbar. Hier kann der Mann auch einen höheren Auftrag erfüllen, Entscheidungen treffen, dieses ins Verhältnis setzen zu jenem, abwägen, sich bedenken, feststellen. Niemand hat ja erlaubt oder informiert, dass erlaubt wurde, von kultivierten, vertikutierten, getrimmten Rasen farbige, goldene Blätter aufzuheben, niemand hat erlaubt, die braunen aber liegen zu lassen, niemand hat erlaubt, es zu erlauben, niemand hat erlaubt, es nicht zu erlauben, niemand hat eine Erlaubnis ausgestellt, mit deren Erlaubnis die abgefallene Belaubung von Bäumen in die Hände von Geduldeten oder Plötzlichen gelangen und von diesen zum Winken und Schwenken benutzt werden könne, niemand hat die Er- in eine Entlaubnis umgewandelt, niemand hat mit Verlaub eine Belaubungsbeglaubigung beglaubigt und dem Antrag auf Inbesitznahme von URlaub überhaupt und an sich stattgegeben, eines wundersamen uranfänglichen Blattwerks, das, wenn es fällt, in die rechten Hände gerate, nicht etwa in die von Kindlein aus Unanwohnerlanden, die sich wie Laubbuben ausnehmen auf dem hiesigen Rasen und einen darob wütend schreienden Mann fürchterlich be- und vertagt und fürchterlich dumm und fürchterlich universal unausgeglichen aussehen lassen, fast so braun vor Ärger wie Laub, das schon länger liegt und mürbe geworden ist. Mann weiß nicht, woran Mann ist. Er kommt … Sie kommen … Du kommst nicht länger umhin … Laubblätter fallen unter die universalen Verteilungsregeln für vegetabile Gestattungsproduktion. Tanzt, tanzt, so Pina Bausch, sonst seid ihr verloren. Blättertänzer … abgeschworen … Eselsohren … Leuchtazoren … Goldergänzer …
Das Schöne ward erblicket und beachtet. Das Universum allerdings ließ sich alle Zeit, blieb außen vor, hielt sich zurück. Du musst schon selbst entscheiden, Mensch. Hat sich der wütende Mann in seiner Rage dreimal im Kreise gedrehet, wird’s wohl vorbeigerauscht kommen, das Universum, die Allmacht, und zu unterscheiden wissen zwischen Bunt und Braun, Hund und Saum, Mund und Traum, zwischen Baum und Borke, Blatt für Blatt. Flaum. Die Goldglanztänzerin vermag’s allein kaum, Anna Bronski vermag’s allein kaum. Keineswegs. Das Männschliche als Solitär bleibt ohne Gewähr. Es kommt ohne Gewehr daher. Schritt für Schritt. Nach dem Kosmischen Gesetz sind alle Laubblätter ungleich und die Straßen verschieden lang, die ein Mann gehen muss, um Mann genannt werden zu können, Mensch.
Das Glas deiner Scheibe im Fenster ist dünn, betagter Mann – nach dem GESETZ DER AUFMERKSAMKEIT. Nach dem GESETZ DER BEACHTUNG. Nach dem GESETZ DER LAUBIGEN VERGEBUNG. Nach dem BESETZ der Tung-dynastischen Männschlichkeit. Es tritt inkraft mit jedem Hauch.

Berlin – Kreta – Berlin, 21. Oktober bis 15. November 2016

Umkehrungsopfer eines derzeitigen Herbstes in Berleppo in Ablehnung geregelter Mahlzeiten und Konzert-Abonnements

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Dieser Frühling vormals geboren aus Kuckucksrufen und Lehm
aus Strawinskys Atem seine Flugfasern schickt er
von Ost-Aleppo nach Süd West Nord und weiterwärts
hierher ins Brot&ButterBerlin wo auf Hecheln und Hauchen kehliges Röcheln
wartet keine Menschenseele die es nicht ewig schon kostet probt probiert schmeckt
Klangsättigung in der Hauptstadt als sei übergenug Fülle der Lüfte
Hörsättigung in der Hauptsache als sei übergenug Innenohr ob all des Schneckengangs
als sei genügend Sonnengeflecht und zu viel baumelndes Herz am seidenen Strick
als drohe der Stadtkörper zu bersten im Spannungsraum
zwischen zu wenig Unterkunft und noch weniger Auskunft und Auskomm
wer schmeißt denn da mit Geld und Komplimenten mit Worten und Lehm
die Sprachen bleiben kaum bei sich so ganz allein
könntens wohl Wechselbälger ururgrundfürchterliche sein
es braucht keinen Atem Strawinsky nicht noch Dirigat so scheints
das Übervolk leidet abermals an Unterverfolgungszucker
leidet Mangel an bienenfleißiger süßer Philharmonia
Bernsteins Frühlingsopfer verklumpt in den Händen
schwer sinken sie ihm Schwere muss er heben Schwerstdirigent wird man so
Pinas Frühlingsopfer gesäugt von Säuglingsviertelwesen fraßmündigen
achtfüßigen und halblebrigen Sachlageerscheinungen Schwersttänzer wird man so
Ost-Aleppo spiegelt wieder das Echo schwachbrüstiger westlicher Musik
das Gelärme das Kampfesgeblase das Niedergetrommle
und darin das Lebensklügersein zusammengehalten von Dullis
von Klammern und Klemmen die Orchesterklangkörper
verzieren mit ihren Figuren unsere Städte und Gemeinden
sich selbst sind sie die allernächste akustische Garnitur das Hemd gewandet ins Haus
Musik Musik Musik
Applaus Applaus Applaus
als sei unser Dasein uranfänglich vollauf gesichert
das wenigstes wollen wir annehmen
in einem Häusle mit Garten drum herum mit Bäumen und Beeten
im Haushalts- und Spielezimmer
rauchte Marlene Dietrich hörte Radio
und wieder und wieder Le Sacre du Printemps
dazu eine Tasse Kaffee schwarz am Morgen
zwei Katzen Flüchtlingsgäste und der Mann
der seine weglose Liebe hin und her schob auf dem Servierwagen
von Zimmer zu Zimmer Marlene vor dem totalen Gefecht
wusste nicht wohin damit schließlich eine Fehlanschaffung
dieser zischende Schnellkochtopf Remarque Rudolf Sieber Gabin
dieses versalzene Gericht des Paradieses Henkersmahlzeit
weder Shanghai Lily noch Lamplight Lili kam zurecht
mit so viel Schmackeduzchen Hühnersuppe und Leberwurst
du weißt ja nicht wie magenschwer und quer du liegst Berlin Berlin Berleppo
wo sind dein Galgenhumor dein Kästner Kerr deine Waldoff dein Hollaender Tauber
dahin dahin dahin Musik Musik Musik
du hast sie rotieren und laufen lassen anecken in deiner Auffangschale
du hast sie abgespeist nicht wiedererkannt verfremdelt zerfremdelt
du hattest Muse Berlin mit dir selbst mitsamt deinen Unhäusigen
ob sie dich verließen blieben bei dir oder gar erst zu dir kamen
mit Vorgeschichten und Nachreden in deine Lehmklumpengrube
du hast weit mehr verloren als gewonnen
Zerronnen
muss deshalb die Show immer weitergehn Musik spielt und spielt
wie wäre es wenn sie jetzt verstummte dass in Aleppo Licht gedacht und gesehen werde
dass die Welt drumherum nicht mehr irrträumt vom Wunder das einmal geschehen könnte
wie man weiß dieses Wunder gebar Wolfskinder fraß sie sogleich verdarb sich daran
Le Sacre du Printemps sieben acht Jahrzehnte
später mit Kaffeemaschine Kühlschrank Salatschleuder Bügeleisen wir Bedauernswerten
Europäer besitzen ja kaum noch etwas und alle Orchester ratlos tatlos tuten
spielen und spielen und spielen die Zeit rastlos zu Tode
und damit Ost-Aleppo ins Unerlöstsein
vor allem bittesehr uns aber nicht! weh weh weh! uns geht es auch nicht besser! so scheints
zu beißen haben wir weder Wirkliches noch Wahrhaftiges
wir kauen unsere Zähne ab an Blei- Kopier- und Rotstift
noch und nöcher Loch und Löscher in Straße Bahn in Zug und Bus
der Herbst in widrigem Genuss
scharrt und scharrt die Sonne aus jeglichem Himmelspfuhl
und lässt sie aufgehn unter unserem hiesigen heimeligen Horizont
für Dalienwachstum Sternenastern Löwenmaul für Lampionblume
und Arniakamillcalendula für die Gesundungskraft der Lasuren
der balsamischen Tinkturen und Organuhren für Seife aus Aleppo
in annehmbare Formen und Förmchen gegossen das sieht nach Essen aus
Le Sacre du Printemps in jeglicher Erdenblutnässe
in Herzbrotlsteingemengegelage und Verwerfungsschichten
Le Sacre labt sich an den Gesetzen westlicher Musik wieder und wieder Le Sacre lebt auf
gespielt von Haushalts- und Besenkammerorchestern
die besser doch schwiegen zum stummen Lied
das jede untote Seele flugs zur Besinnung brächte
wie wenn ein Wunder geschähe und Leonard Bernstein fände
ein zweites Schweißtuch Angelikawurzel blutstillende Mittel
in seinen Jackentaschen plötzlich als sähe Pina
wer oder was vor ihren Augen den Stolperkreis jäh durchbrach
beim Heben und Senken des Korbes der Blütler in der Brust
Und wieder geht die Maid zur Biegung des Wegs
und wieder zeigt sich dort der Schneider
ohne Hosen ohne Röcke ohne Brautkleidstoffe
schnell naht er winkt überbringt diesen winzigen Koffer
und es tauscht die Maid sich ein gegen das Köfferchen
mit dem man fliegen kann über Wasser und Landzungen
ganz Syrien ist dafür zu haben zusammengefaltet plattgemacht
ein aschweißer Falter gefältelt gecrasht plissiert abgebügelt
es passt in diesen Koffer aus Aleppo der Duft
die allmenschliche Unsterblichkeit
wie ein Hemdkleid das abwechselnd tragen
Marlene und Pina und das Opferkind das komme
der Weltendrehtür nah in diesem Sommerherbst
mit gegenläufiger Tanztendenznatur
Denn wenn das Opferkind nicht weiß
was noch werden soll aus uns endlich vor allem hier in Lehmleberberlin
in Templinkötzschenbrödawienschwerinbautzenköthenneuruppin
wie lange der Treibstoff noch reicht in Berleppo die Nieren noch mitmachen Galle und Milz
dann wirds wohl der Winter wissen und kommen und uns holen ganz sicher
hereinbrechen und uns fressen ganz bestimmt uns Musikwurstgenießer
wir leiden ja Hunger wir darben es knurrt in uns und schnurrt raubtierisch
wir wissen ja ganz und gar nicht mehr weiter als von gestern bis heut
als vom Tellerrand bis zum Untertassenklapperdeckchen bis zum Ende der Gnadenfrist
sonst spielten ja unsere Orchester nicht immer und immerfort diesen Krach dieses Fauchen
die eigengesetzliche westliche musikalische Verlegenheit mit Tönen zuzudröhnen
diese Pein sie lärmt wie das Brummen der Eierkoppfliege im Magen
im gallfarbenen altweibrigen jungmännrigen Vorwinterherbst
O je was müssen wir leiden das Ungewisse im Innern die ganze Welt um uns herum
geizt mit Überlebenscoupons und ist stattdessen höchst spendabel mit Frühlingsopfern
ach wie ists möglich dann sterben müssen auch wir
Oder???
urplötzlich
unvermittelt
schlagartig
viel früher als angenommen
von jetzt auf gleich
mitgefangen mitgehangen
fehlgesondert
ausgeordnet
durch die Bank weg
wieso weshalb warum
He Komplize Vorzugsbehandler! machs weniger kompliziert es geht doch auch ganz einfach
wir waren doch hier zuerst etwas eher höher schneller präziser langlebiger strapazierfähiger
drum haben wir Vorrang gehen vor
denn wir gingen geordnet voraus bestellten Boden und Tagwerk Aufgebot und Pfannekuchen
brachten unter Dach und Fach in trockne Tücher und Butter bei die Brote sind rundgelaufen
musikalisch gebildet sprachlich versiert körperlich trainiert erkenntnisorientiert
wir haben an Ort und Stelle vor Ort auf der Stelle doch alles richtig gemacht
die Nase aus dem Wind genommen gesenkt die Innenohrtemperatur uns beschieden
anwesend in der Zeit flexibel weisungsgebunden aufmerksam im Rahmen des Machbaren
im Großen und Ganzen ganzwegs und halbwegs ins beste Verhältnis ausbalanciert gefügt
nicht über die Stränge geschlagen noch über die Strenge gerochen noch uns ausgesprochen
Und nun was nun
wo bleibt die Belohnung unser Hierseinsehrenbescheid das Exklusivduldungspapier Klasse I
Hunger Hunger betäubender Hunger Durst Durst erstickender Durst
Musik Musik Musik die spielt und spielt und frisst sich in Wolfskinderohren
Wird Aleppo verloren sein zu fern zu nah oder unerhört!! gar wir???
Kuckuck im Herbste nun sage mir …

© Ina Kutulas
Berlin, 29.September / 2.Oktober 2016

Wenn ich dir was wünschen dürfte …

Zu Mikis Theodorakis’ 91. Geburtstag

Vor zwei, drei Wochen, am Tag, als er seinen 91. Geburtstag feierte, stellte ich eine Postkarte mit Marlene-Dietrich-Porträtfoto zu einem Porträtfoto von ihm. Das ergab sich zufällig bei der Durchsicht eines Stapels Papiere. In dem Augenblick, da sie zu ihm gesellt war, bemerkte ich, dass die beiden sich in einem engen, spannungsvollen Zusammenhang befanden. Mikis und Marlene. Zwei Giganten, Performer, Lyriker, die ich mir in einer Show, gemeinsam auf der Bühne, fast nicht vorstellen kann. Oder irre ich. Die beiden hätten es sicher krachen lassen, falls sie nicht bereits vor dem Abend des Auftritts verkracht gewesen wären. Ohne weiteres vorstellen könnte ich mir jedenfalls sofort Mikis auf der Bühne zusammen mit Udo Lindenberg oder mit Rio Reiser. „Tis nichtas sto balkoni – Auf dem Balkon der Nächte“ – das hätte Rio Reiser vielleicht so gesungen und würde Udo Lindenberg vielleicht so singen, wie sie jeder auf seine Art „Wenn ich mir was wünschen könnte“ interpretierten, das Lied, das als eines der von Marlene Dietrich am markantesten gesungenen gilt.
Als das Porträt von Marlene in unmittelbarer Nähe zu Mikis’ Foto zu sehen war, schien mir, dass dieses Lied ein guter Song für seinen 91. ist:

Man hat uns nicht gefragt,
als wir noch kein Gesicht,
ob wir leben wollten
oder lieber nicht.
Jetzt gehe ich allein
durch eine große Stadt,
und ich weiß nicht,
ob sie mich lieb hat.
Ich schaue in die Stuben
durch Tür und Fensterglas,
und ich warte und ich warte
auf etwas.

Wenn ich mir was wünschen dürfte,
käm ich in Verlegenheit,
was ich mir denn wünschen sollte
– eine schlimme oder gute Zeit?
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
möcht ich etwas glücklich sein,
denn wenn ich gar zu glücklich wär,
hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.

Menschenskind,
warum glaubst du bloß,
gerade dein Leid, dein Schmerz,
wären riesengroß?
Wünsch dir nichts!
Dummes Menschenkind,
Wünsche sind nur schön,
solang sie unerfüllbar sind.

Kurz vor Mikis’ Geburtstag war Panajotis aus Griechenland da. Nachdem wir uns etwa eine Stunde unterhalten hatten, sagte er: „Was mir auffällt, bei denen, die ich hier in Berlin erlebe, in den Clubs und Cafés … Die jungen Griechen haben keine Träume mehr. Wenn der Mensch keine Träume mehr hat, ist sein Leben vorbei. Was aus diesen „Kindern“ wird – ich weiß es nicht. Was aus Griechenland wird – ich weiß es nicht. Griechenland existierte, solange die Menschen träumten. Selbst in den Kriegen hatten sie ihre Träume nicht verloren, nicht im Bürgerkrieg, nicht während der Junta. Sondern jetzt. Ich werde mein Kind fernhalten davon. Griechenland muss geträumt werden. Es ist eigentlich ein geträumtes Land.“ Panajotis lächelte und verabschiedete sich.
Inzwischen, so war gestern in Spiegel online zu lesen, ist mehr als jeder Zweite der 15- bis 24-Jährigen ohne Job. Man könnte wohl auch deutlich machen: fast jeder. Man stelle sich das für Deutschland vor und lege dieses vorgestellte Bild seiner Mitdenkerei zugrunde, wenn man von hier aus darüber befinden will, was „die Griechen“ tun müssten.
Mikis’ Lieder sind erfüllt vom Träumen der Menschen, das es in allen Jahren gab, in jeder Realität, durch alle Zeiten hindurch. Es ging immer darum, den Horizont erweitern zu wollen. Mikis erzählt in seinen Texten von Träumen, die er des Nachts sah, so dass nicht mehr unterschieden werden kann, wann der Traum in die Wirklichkeit übergeht oder die Wirklichkeit in den Traum, der Nacht- in den Tagtraum, das Tageserleben ins Visionieren. Deshalb ist seine Musik nichts für Menschen, die nichts erträumen. Sie ist etwas für Menschen, die mehr Träume haben, als sie je verwirklichen können, auch wenn sie nimmermüde wären. Je wacher, desto mehr zu tun im Sinn.
Mikis benannte im Gespräch mit dem Journalisten Eberhard Schade im Jahr 2002 seinen früheren Traum: jeden Tag die Akropolis sehen zu können – der sich ihm erfüllte –, und den bis dahin noch unerfüllten: die Aufführung seiner Opern-Tetralogie zu erleben. Auch dazu ist es gekommen.
Wovon träumt Mikis heute? Oder: Was wünscht er sich? In einem Interview mit Carina Prange zu seiner CD Resistance sagte er vor etwa zehn Jahren: „Ich sehe es so, dass meine lebenslangen Bemühungen nicht nur keine Flucht aus der Realität waren, sondern selbst die “wirkliche Wirklichkeit” darstellen. Deshalb tut es mir Leid, wenn andere Menschen diese Möglichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Schlimmer noch – wenn sie sie nicht einmal erahnen können!“
Dass die Menschen eine Ahnung haben von der Selbstverwirklichung durch Bemühen, das könnte heute durchaus noch immer Mikis’ Wunsch sein, ein Traum, gerade weil dieser Traum in der jetzigen Zeit in die Ferne gerückt ist. Vielleicht wird ihn dort, in einer unermesslichen Distanz, ein Wesen wie Marlene Dietrich empfangen – der solches sehr nah gewesen sein muss: Erfüllung in Anstrengungen finden – und ihn in die Gegenwart zurücksenden. In eine Gegenwart allerdings, in der, wie ich es in einem Artikel benannt fand, „die Gesellschaft sich vielen als eine nach unten fahrende Rolltreppe darstellt, gegen die sie anlaufen müssen, um nicht abzusteigen“. Lehrstoff nahm man in sich auf, der zu Leerstoff geworden ist, verpufft in einer Situation, in der die Alternative darin zu bestehen scheint, Menschen von Europa fern zu halten, die nicht aus Europa sind. Eine Situation, in der etliche sich diese Vorstellung vom Glücklichsein machen: ‚Wenn wir doch erst alles nur für uns allein hätten, dann wär alles gut!’ Statt weiter „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ von Marlene Dietrich scheinen sie noch immer Gitte Hænning in sich zu hören, ein stampfendes Fordern: „Ich will alles Ich will alles Und zwar sofort Eh der letzte Traum in mir zu Staub verdorrt“. Wie sollte mit denen, die in diesen 1983er Und-Zwar-Sofort-Schranken denken, Staat zu machen sein? Zeit ist nicht nur Geld. Das erzählen die Traumzeit-Bilder der Aborigines.
Schon ist das Bild von den zwei Inseln außerhalb Europas dagegengesetzt, auf die man Unerwünschte deportieren könnte, getrennt nach Männern und Frauen, ob allein hergekommen oder mit Familie. Es sei kostengünstig. Eine Rückwanderungsbehörde soll die Organisation übernehmen, so der Vorschlag der AfD-Vorsitzenden, von dem vor drei Tagen zu lesen war. Man macht ganz einfach eine Wanderung. Und dort hinten, in der Ferne, wo man hinwandert, ja so gerne, da gibt es Arbeit und Unterkunft und Essen und Duschen. Das Meer wird seekrank und verschluckt den Ruf: „Petri Heil!“ Charon in seinem Boot wendet sich um. „How many roads must a man walk down / before you call him an man / How many seas must a white dove sail …“ Da steht König Midas, noch einmal quicklebendig, am ersten Hafentor. Und wieder ruft er: „Bacchus, Bacchus, sei mir hold, mach, dass alles wird zu Gold!“ Und die Seeräuberjenny steht am zweiten Hafentor und ruft: „Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird entschwinden mit mir.“ Und Lale Andersen ruft vom dritten Hafentor her: „Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den einen / Den ich so lieb wie keinen, und der mich glücklich macht. / Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen / Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.“ Und Marlene am vierten Hafentor singt: „Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund / Hebt mich wie im Traume Dein verliebter Mund. / Wenn sich die späten Nebel drehn, / Werd‘ ich bei der Laterne stehn, / Wie einst Lili Marleen, wie einst Lili Marleen.“
Man könnte meinen, die Jugend hätte diesen Traum zu träumen verdient: Von Tor zu Tor gehen, jeder Stimme zuhören zu können, ein blauer Himmel darüber, Wolken, die dahinziehen wie prächtige Schiffe, und in der Mitte der Insel ein langer, gedeckter Tisch, an dem alle Dichter und Sänger sitzen und ihre Mantinaden erdenken. Sollten die Kinder es nicht besser haben? Marlene Dietrich selbst schrieb einen Liedtext, damit Kindern gesungen werden könnte:

Sch … kleines Baby, wein‘ nicht mehr,
die Mami kauft dir einen Teddybär.

Und wenn der Teddybär nicht mehr springt,
kauft dir die Mami einen Schmetterling.

Und fliegt der Schmetterling ganz weit,
kauft dir die Mami ein rotes Kleid.

Und wenn das rote Kleid zu rot,
kauft dir die Mami ein Segelboot.

Und wenn das Segelboot zu nass ,
kauft dir die Mami den größten Spaß.

Und ist der größte Spaß zu klein,
kauft dir die Mami den Sonnenschein.

Und wenn die Sonne wird dunkel sein,
kauft dir die Mami ein Vögelein.

Und wenn das Vöglein nicht mehr singt,
kauft dir die Mami einen goldenen Ring.

Wenn dir das Ringlein nicht gefällt,
kauft dir die Mami die ganze Welt.

Wenn dir die ganze Welt zu groß,
kauft dir die Mami das große Los.

Wenn sich das große Los nicht lohnt,
kauft dir die Mami den Silbermond.

Und wenn der Mond verweht im Wind,
bist du noch immer das schönste Kind.

Der von Marlene Dietrich hochgeschätzte Erich Kästner zeigt den Erwachsenen derweil allerdings noch immer Das Riesenspielzeug:

Eins habt ihr leider nicht bedacht:
daß Kinderhaben auch verpflichtet.
Ihr wart auf uns nicht eingerichtet,
ihr habt uns nur zur Welt gebracht.

Ihr habt uns mancherlei gelehrt,
Latein und Griechisch, bestenfalles.
Nun sind wir groß, doch das ist alles.
Und was ihr lehrtet, ist nichts wert.

Ihr habt uns in die Welt gesetzt.
Wer hatte euch dazu ermächtigt?
Wir sind nicht existenzberechtigt
und fragen euch: Und was wird jetzt?

Schon sind wir eine Million!
Wir waren fleißig und gelehrig.
Und ihr? Ihr schickt uns, minderjährig,
fürs ganze Leben in Pension.

Wir leben wie im Krankenhaus
und lassen uns von euch verwalten.
Wir werden von euch ausgehalten
und halten das nicht länger aus!

Sind wir denn da, um nichts zu tun?
Wir, die gebornen Arbeitslosen,
verlangen Arbeit statt Almosen
und fragen euch: Und was wird nun?

Einst wußtet ihr noch euren Text,
als ihr uns noch für Puppen hieltet
und wie mit Spielzeug mit uns spieltet.
Doch wir sind Spielzeug, welches wächst!

Auf eigne Rechnung und Gefahr
will jeder, was er lernte, nützen.
Die Tage regnen in die Pfützen,
und jede Pfütze wird ein Jahr.

Die Zeit ist blind und blickt uns an.
Die Sterne ziehn uns an den Haaren.
Das ganze Leben ist verfahren,
noch ehe es für uns begann.

Vernehmt den Spruch des Weltgerichts:
Ihr gabt uns seinerzeit das Leben,
jetzt sollt ihr ihm den Inhalt geben!
Daß ihr uns liebt, das nützt uns nichts.

Man könnte meinen, Kästner habe seinen Text nicht 1930, sondern soeben erst geschrieben. Und das Land, welches als die Wiege der europäischen Kultur galt, ist inzwischen vielleicht zu deren Luftschaukel geworden.
Was für eine Situation, in der in so vielen einzelnen Elternhäusern die Erwachsenen offenbar doch ein gleiches Verhalten an den Tag legten, gleich im Hinblick auf diese Tatsache, dass sie ihre heranwachsenden Kinder immer wieder gemahnten: „Nicht … Nicht … Nicht … Nein, befass dich nicht damit, nein, hör bloß nicht auf den, gib nichts auf das, was der sagt!“ Eine Erziehung, die darauf orientierte, sich fern zu halten von diesem und jenem, auf das nichts zu geben, was außerhalb der Familie gesagt wird, sich mit diesem und jenem nicht auseinander zu setzen, es nicht zu lesen, sich dazu nichts erzählen zu lassen, es nicht mal zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich zu verschließen. Den Kindern zu erklären: „Gefährliche Gedanken, falsche, allerorten. Lass sie nicht an dich heran!“
Ich habe inzwischen viele junge Leute zwischen 20 und 35 erlebt, die davon sprachen, von diesem „Nicht … Nicht … Nicht …“. Die Interesselosigkeit im Hinblick auf andere Ansichten, die Unfähigkeit und Motivationslosigkeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen, dieses Nicht-einmal-Ahnen-dass …, sie ließen diese Generation mutlos, orientierungslos und unträumerisch werden wie keine zuvor. Sie gilt vor allem deshalb als eine verlorene, nicht, weil das Land für alle Zeit verschuldet ist. Sondern weil dieser Generation die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit unmöglich gemacht wurde. So stelle ich mir das Ende der Welt vor. Wenn jeder „andere“ mein Feind ist und auch mein Zuhause nicht mehr existiert, nicht einmal mehr in meinen Träumen. Beladen mit dem unheilvollen Geschenk der gänzlichen Verweigerung gegenüber „anderen“, mit dieser Last aus Angst, Aversion und Abwehr, die immer wieder zum „Nein“ führt, nicht aber zu Konstruktivität, zur Handlung, zum Sich-die-Nächte-um-die-Ohren-Schlagen in einem Langzeitprojekt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und beladen mit der zweiten Last: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit … Eine fatale Paarung von Verweigerung und Verweigertsein. Diese Last und die andere Last wird mitgetragen, nach überall, auch in Städte, die ihre Mauer losgeworden sind. Auch in Länder, die jetzt Mauern hochziehn.
Diejenigen, die die große Ausnahme darstellen, tun das eigentlich Undenkbare: Sie schreiben, machen Filme, machen Musik, bauen, installieren was, malen, und jeden Tag singen sie: „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. Ich habe sie nicht verächtlich erlebt, keine riesige Kluft aufreißend zwischen Theodorakis und Hatzidakis beispielsweise oder dem einen Sänger und dem anderen, zwischen dem einen Autor oder Filmemacher und dem anderen. Sie sind in aller Poesie zuhause, in aller Musik, und käme ich ihnen mit Marlene Dietrich – sie würden auch zu ihr etwas zu sagen haben, sie würden mir zeigen, dass diese Marlene Dietrich schon längst in ihrem Traum eine Rolle spielt, dass sie performt auf einer Bühne, zusammen mit Theodorakis, damit das Unvorstellbare einen Augenblick wahr sein kann. In ihren Träumen ist es wahr. In ihren Träumen gibt es auch eine Marlene Dietrich schon immer in Griechenland. Es sind die Kinder von Eltern, die auf wundersame Weise aufgeschlossen blieben. Ob sie Flüchtlinge waren oder nicht. Ob ihnen zugehört wurde oder nicht. Ob mit ihnen geteilt wurde oder nicht. Sie hatten Teil an der Welt. Sie erzählten ihren Kindern nicht, dass diese Welt sich auf Lug und Betrug gründe. Sondern sie erzählten ihnen von der Vielfalt des Lebens, die es gibt trotz der Lüge und des Betrugs, trotz des Todes und der Demütigung, trotz der Langweile, trotz allen Mordens.
Oft versammelt sich ein Teil dieser insgesamt nicht fassbaren Vielfalt schon im Erlebnisraum eines einzelnen Menschen, der ein Vielfaches aufnimmt und dessen Charisma davon spricht. Für Marlene Dietrich gilt das, für Mikis gilt das, für nicht wenige kreative Menschen. Wenn ich eingangs schrieb, ich könnte mir die beiden nicht zusammen vorstellen, auf einer Bühne, dann stelle ich es mir dagegen sehr wohl höchst spannend vor, hätten Marlene und Mikis heutzutage, von einer Wohnung zur anderen, miteinander telefonieren gekonnt.
Immer, vor jedem Konzert, bei dem ein Orchester spielt, erlebe ich, wenn die Musiker sich einstimmen, dass ich an die Bäume denke, aus deren Holz die Instrumente gemacht sind. Vor meinem Inneren Auge entsteht ein wirklicher Wald. Ein großes Leuchten geht vom Orchester aus, das seinen Klang zu zentrieren beginnt. Und bevor die Musik gespielt werden kann, vereinigen alle Bäume ihr Wesen in einem einzigartigen Ton, um die Menschen diesen Ton erleben zu lassen. Von diesem Ton geht alles aus. Auf Erden, in den Konzertsälen kann man ihn hören.
Wenn ich dir was wünschen könnte, Mikis, dann wäre es dieses Jahr eine Melodie, die hereinkommt durchs offene Fenster, ein Lied, das die Zeit geschrieben hat, mit einer beinah glücklichen Hand, und das hörbar wird, gesungen von Marlene Dietrich: Wenn ich mir was wünschen dürfte … Oder vielleicht besser noch: Look me over closely.

Kisses
Lili Marlina

15. August 2016