MIKIS ON

Tage ohne Musik

Tag 7

Abend. Das Schiff fährt von Athen nach Chania. 

Berlin, aprikosenfarbener Himmel. Wenn so ein Abendhimmel schon manchmal zu sehen war, wie heute wurde er noch nicht gesehen. Der Erzengel Michael hat seine eigene Wahrheit. Unter dem Kopfkissen der Zweig. Wir saßen Stunden dort bei den Platanen mit den großen Kronen. Nicht Erde, nicht Wasser. „Ins Offene muss ich, ins Ungebundene will mein Körper“. Im Monat des Erzengels Michael, wenn die kosmische Energie ihren Strom wieder ändert, wenn der Drache bekämpft werden muss und Erzengel Michael dieser fürchterlich Starke sein wird, um es aufnehmen zu können mit einem Untier, in diesem Monat wird die eine Reise doch an ihr Ende kommen. Kreta, Chania. Galatas. Es soll ein Orangenbaum dort stehen. Es soll dieser Punkt sein auf Erden. Alles muss zueinander finden. Alles muss fließen. Das Meer trägt das Schiff. Diese Welt existiert. „Jetzt werden Zwerge herrschen“, schrieb Mikis für das Neruda-Requiem. „Ich dachte, er ist immer da“, sagte A., sagte M., sagte H. „Immer wieder stand er auf und war wieder da, so eine lange Zeit, immer.“ Wieder und wieder. „Seine Musik war … ist Teil meines Lebens. In meinem Körper. Hier drin.“ Die Hand liegt auf dem Solarplexus. Früher wird es dunkel, so beginnt der Herbst. Es war so unendlich viel Zeit. „Doch das genügt nicht.“ Der Planet Mikis verlässt seine Umlaufbahn. Zwerge gehen und kommen. Keine einzige Wolke. Dunkelndes Gold. Ein Falter kämpft sich frei.

Tag 8

Die Erde muss sich drehen. Duft von Phlox macht aus dem Raum ein Griechenland. Dort die Sonne. Fassaden verbrennen in ihrem Weiß. Der Himmel kann höher nicht sein. Sein Blau leicht und makellos. Unzählige Sterne werden erscheinen. Unzählige Blumen lässt du hier. „Die trockene Erde meines Herzes / hat einen Kaktus wachsen lassen.“ Über dem Kaktus die Kuppel. Unter der Kuppel unvertonte Musik.

Tag 9

Kurze Gewitter. Regen. Die Insekten zeigen sich, bevor sie ganz verschwinden.

Immer wieder das Wort „Versöhnung“. Die Musik für alle, nicht nur für diejenigen, die die Ticketpreise zahlen können in den noblen Opernhäusern von gestern, die Mitgliedschaft in den begehrten Locations von heute. Musik für immer. „Mikis forever.“ Spaltung, Spaltschnitt. „Jeder Mensch hat eine Wunde in sich“, schrieb Mikis. Diese Musik war die Möglichkeit zusammenzusein, der Zwist ruht, der Tanz wird erlebt, jeden Tag die Möglichkeit zur Feier, am Heiligen Tag, immerwährend. „Tanzt, tanzt – sonst seid ihr verloren.“ Pina – das heißt auf Griechisch: Hunger. Hunger nach Leben. Durst. „Meine Musik ist wie das Wasser. Dort sind die Menschen, die dürsten, verdursten, und hier ist das Wasser, dazwischen der Graben. Bis der Regen fällt. Der Regen vereint uns.“ Es regnet Musik.

Links, rechts, vorn, hinten, Griechenland, Deutschland, Bulgarien, Russland, Amerika, China – Wörter wie Blöcke. Dahinter verschwindet der Einzelne, das Individuum, das probiert, versucht, wach ist, wach bleibt, sich aufrafft, nicht abwendet, sich nicht zufriedengibt, das sagt: Ich will erfahren. Ich kann sehen. Ich werde gehen. „Weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube.“ – „Ich glaube an das kreative Potenzial in jedem Menschen. Ich verabschiede mich nicht davon. Ich hab den Tod gesehen, viele Male, ich hab das Töten, das Getötetwerden hautnah erlebt, alles, was menschlicher Körper ist, musste ich sehen, alles, was menschliche Stimme ist, hab ich gehört, ich hab Widerstand erlebt, ich hab mich kennengelernt, ich hab den Klang ertragen, ich wurde vom Klang getragen. Ich habe das Ufer erreicht. Es kam mir entgegen. Es trug mich.“

Er war kein Nörgler. Er kannte Ärger. Und dann musste er lachen. „Warum liebst du mich nicht, Theodorakis?“, fragte der eine Folterer. „Warum liebst du auch mich?“, fragte der andere Folterer. Die Antwort war immer ein Lied. Dass dieser Versuch, dieses Bemühen um das Zusammensein der Menschen im Tanz, in der Musik, in der Poesie, naiv gewesen sein soll, erklärt jegliches Bemühen für letztendlich vergeblich.

Das System ist so, dagegen kannst du nicht an, du wirst scheitern, lass es sein, gegen diese Mächte wirst du nichts ausrichten, du wirst Schiffbruch erleiden, krachen gehen, dein Leben vergeudest du. Das System Leben, das System Musik, das System Nerven, das System Mathematik. Halten wir also inne, hören wir auf, sagen wir Atlas Adieu, der den Himmel jeden Tag stemmen muss und jeden Tag etwas mehr Kraft geben als nötig. Fügen wir uns drein in die bestehende Situation und sind froh, dass wir richtig klug sind, weil wir erfahren haben, es nützt nichts. Ist das vernünftig, aber unkreativ. Madame und Monsieur Allwissend, guten Morgen – ausgeschlafen?

Diese Musik erreicht Menschen überall auf der Welt, diese Musik, die einer Naivität entsprungen sein soll. Das Universum ist kindlich und überlebt aus diesem Grund. In den Folterlagern verloren die Menschen ihre Seelenruhe, vieles wurde ihnen geraubt, manches Gesicht nicht. In den Folterlagern erlebte Mikis Veränderungen, Menschen, die andere wurden, Menschen, die erstaunliche Wechsel vollzogen. Krieg. So auch beim Kampf um etwas, was man unbedingt haben will, um jeden Preis, im Frieden.

Er erlebte erstaunliche Metamorphosen, da wie dort, beim einen und beim anderen, viele Male, den Wolf im Schafspelz, die Puppe und den Schmetterling, das Schaf und die Ziege, den Menschen und das Tier, Kentauren, Harpyen, Geflügelte Schlangen, Pan, brennendes Eis, Erdbeben, fließenden Stein, schwindenden Mut, den Atomkern der Hoffnung. Die Hoffnung, selbst wenn sie naiv ist, bleibt stark. Sie schaut hinter der toten Farbe hervor. Und wieder Klang. „Sonst seid ihr verloren.“ Überlebensmut auf hohem Niveau.

September 2021 

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Der Tag seines Todes

und die Tage nach seinem Tod haben deutlicher als je zuvor gemacht, dass die jahrelangen (oder jahrzehntelangen) Nörgeleien an Mikis Zeitverschwendung waren. Denn jetzt, wo er als einer, mit dem man diskutieren kann, nicht mehr da ist, in diesem Augenblick wird man gewahr, dass die Nörgelei nicht das war, was passiert, wenn ein Schiffshebewerk seine Arbeit tut. Es geht bei der Arbeit des Hebewerks darum, dass ein Schiff seinen Weg fortsetzen kann. Allerdings haben zwei unterschiedliche Flüsse, deren Weg das Schiff folgen kann, nicht das gleiche Niveau. Ein Schiffshebewerk „vermittelt“ zwischen diesen beiden Flüssen, das eine Flussbett weiter oben, das andere weiter unten. Und das Schiffshebewerk als Fahrstuhl für das Schiff bringt es nach weiter oben oder nach weiter unten. Und weiter geht die Fahrt.

Mikis wurde des Diskutierens nicht müde, es interessierte ihn jede andere Meinung, die von der seinigen abwich, wenn sie einen bedenkenswerten Aspekt enthielt. „Sag!“, forderte Mikis auf. Und er hörte zu. Diese Offenheit war einzigartig – gern schriebe ich diesen Satz und ließe ihn so stehen. Nein, sie war nicht einzigartig, aber eben sehr selten. Ich erlebte auch andere Menschen, nicht nur Mikis, die zuhörten und einer anderen Ansicht Raum gaben, Menschen, die die Erfahrung gemacht hatten, dass keine Allwissenheit das Ein und Alles ist, sondern dass man sich irren kann, auch wenn man Auschwitz nicht leugnen würde und wenn man manche Menschen nicht unbedingt in seiner Küche sitzen haben möchte.

Die heutige Zeit erlaubt nur sehr selten eine längere Unterhaltung über schwierige Fragen. Phänomenal, dass gerade Mikis, der von morgens bis abends hätte immerzu Musik schreiben können, die Zeit für eine längere Unterhaltung immer wieder aufbrachte. Er war interessiert an Gegenpositionen. Er hatte, was Menschen, die ihn bei sich zuhause aufsuchten, manchmal nicht gewahr wurden, weil es so selbstverständlich da war: ein tiefes Vertrauen in Höflichkeit, obwohl Mikis schon so viel Dreistigkeit erlebt hatte und jeden Augenblick auf sie gefasst war. Jannis Ritsos beispielsweise hatte sich anders nicht vor Überbeanspruchung und Zeitraub zu schützen gewusst, als dass er, ein im Vergleich mit Mikis ganz sicher als viel höflicher geltender Mensch, sich ausbat, dass die Besuchszeit bei ihm strikt eingehalten werden möge, denn in der anderen Zeit arbeite er. Von Mikis war so etwas überhaupt nie zu vernehmen.

Dass es Parallelwelten gibt, ist mir seit einiger Zeit klar. Anders war es nicht zu machen, dass Mikis gleichzeitig genügend Zeit für so viele Besucher und Gespräche ohne Zeitdruck hatte, ebenso aber die Zeit für die Beschäftigung mit der Musik fand wie auch für die Beschäftigung mit der griechischen Tagespolitik und der Weltpolitik und und und. Kann sein, dass er zwischendurch auch Mittagsschlaf hielt. Ich kann es mir nicht vorstellen. Mikis hat nie gegähnt. Mikis war immer ausgeschlafen, egal, zu welcher Uhrzeit. Ließ seine Energie nach, tankte das energetische Zentrum in ihm lediglich auf, so dass er kurz danach wieder voll da war und sagte: „Weißt du …“, und dann holte er etwas aus dem Nebenraum, aus einem Schrank, von einem Tisch, er spielte etwas aus einem Film oder ein Musikstück vor. 

Mikis day by day. 

Berlin, 02. September 2021 / 2022

© Ina Kutulas