Das Männschliche und die Blätter, gefallen auf Laubrupfenbraun

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Das Universum fährt seine eigenwillige Tour, es ist all hier, es lässt sich Zeit. Auf jede Zeit der Welt verlässt sich’s kaum; dem Menschen allerdings, dem überlässt es zeitweilig den einen oder anderen Erdenkram, dass er, der Mensch, sich an Extra-Schlamassel probiere, diesen zunächst gar paradiesischer Natur wähne, irrtümlich, um dann enttäuscht aufzuschrecken, wenn der Schlamassel sich nicht als Guthumussubstrat erweist, sondern ihm eine Patsche ist. Beim Gang durch die Straße der Widerwärtigkeiten sind des wahren Erdenlebens Überraschungen zu erleben: voll des Garstigen, des Unerklärlichen, Aberwitzigen, Misslichen, Hinderlichen, des dem Paradieseszustand Abholden. Ausgeliefert an solches Gemenge, mürbe gemacht wähnt sich ein Mann nach Jahren, wenn dieser Weg nicht zur Straße der Sonne wurde, sondern der Boden sich auftun zu wollen scheint und das Erdige morastige Vertiefungen ausformt, als wollte eine davon den Mann schlucken und dunklen mineralischen Schichten einverleiben. Wie gefallenes Laub, das eben noch goldlichternd tanzte in Lüften, endlich fortgelassen vom Baum, niedergegangen dann, entrauscht.

Hin und wieder allerdings wird vom Universum ein Pausieren des Menschen-Karma veranlasst. Dann geschieht ganz und gar nichts mehr überhaupt sowieso. Dann ist zu erleben, was der Mann anstellt. Nicht länger ausgeliefert, kann nun er ausliefern, der Mann, wenn er will. Sich die Freiheit nehmen und damit tun und lassen, wonach der Sinn ihm steht. Dann übernimmt das Universum kurzzeitig nicht weiter die unabänderliche, ihm obliegende Führung; es öffnet seinen doppelten Boden, schlüpft aus seiner Verantwortung, macht einen Kuraufenthalt mit Detox-Anwendungen, Ölstirnguss, Maniküre, Pediküre, Wechselbädern, Moorpackungen.
Jetzt – gelöst aus der Karma-Umklammerung, plötzlich doch noch auf der Straße der Sonne gelandet – handelt der Mensch selbstabhängig, seine Tat kann dem völlig eigenwilligen Entschlussimpuls folgen. Sie wird erdacht, beschlossen und totalabsichtlich ausgeführt vom Homo Sapiens. Falls nicht ein hemmendes Zögern der Tat vorgeschaltet wird und diese zu guter Letzt wegen eines “lieber doch nicht” unausgeführt bleibt. Dann mag er seinen zeitlichen Spielraum nutzen, der Mann, beim Müßiggang, im Liegestuhl, auf der Bank, Wippe oder auf dem Schaukelbrett vor der Laube, auf dem Rasenstück, oder davon träumend zumindest, in störungsfreier Zone, als sei auch er ein ganzes Universum, der Mann, ein Allumfassendes, das sich endlich frei nimmt von sich selbst. Und seine Bilder beginnen zu fluten …

Tänzer erscheinen nicht selten als vom Schwerelosen regierte Menschenexemplare, ununterbrochen gefordert, sich dünn zu machen, weniger bodenverhaftet, ins Fliegerische sich hineinzusteigern, Tänzer sind Flüchtige, Blattleichte, nicht sehr lastend, es sei denn, sie machen sich absichtlich massig, bleiern, betont träge. Die Köpfe balancieren sie locker wie gläserne Bälle, die im Nu verloren oder zerbrochen werden könnten. Beinah unerdgebunden, fast universenschwerelos bringen Tänzer sich flugs auf die Idee, selbstkönnerisch einen Plan für den Tag zu machen, ein Konzept, mit ihren Gedanken etwas voraus, um ein paar Schritte noch schneller zu sein, endlich über die Horizontlinie zu springen und dort dem eigenen Schatten entgegenzuwarten. Das Leben wie ein Kunststück zu beherrschen – dem Tänzer steht der Sinn danach. Wer vorangehen will, könnte vorvorausdenkerisch sehen müssen. Und ihr Blätter, wollt ihr tanzen. Und ihr Tänzer, wollt ihr blättern. Und ihr Männer, wollt ihr männschlich genannt werden.

Berlin brachte ein Weibwesen in Stimmung, etwas Goldschimmerndes auf dem Leib, blaue Schuh’ dazu. Im Umraum oktoberte es, und die Blätter fielen längst, als zählten sie des Weibleibwesens Seufzer, im Außenraum, vor fünf Jahren, vor den Türen und Fenstern des Saals. Fallen ließ die Goldglanztänzerin sich, wieder und wieder, bis zum Gehtnichtmehr fast. Ihr Strecken, ihr Krümmen, ihr Auf und Ab, ihr Fortkommenwollen, ihr Hierbleibenmüssen, ihr Sich-Festhalten-Lassen, ein Hingeben und Hergeben, Entrissensein, blattgleich im Stoßwind. Der Lucky Trimmer war keinesfalls als Rasentrimmer zu verstehen. Zwei Schritt vor und zwei zurück, einmal hin und einmal her, rundherum … Immer und immer wieder die Schritte, nie aber die selben, im Fallen, Aufspringen, im Sich-Hinstrecken, Wälzen – vorangebracht wurde so die Geschichte. Im Nachgang der Vorgang. Im Vorhinein innigliches Außersichsein. Äußerste Geduld, wortlose Übereinkunft der Goldglanztänzerin und des Publikums, all das mitzumachen, die nicht enden wollende Wiederholung, die doch endete im Moment, als Gewöhnung eintreten wollte, Stumpfheit – oder doch spürbare, benennbare Qual, die endlich, schließlich der Gewalt der Anspannung folgen sollte, dass sich wandle das Zermürbende, das Fragenertragenmüssen nach dem Sinn der Übung. Der Schluss wurde da gemacht, an diesem Punkt, der Tanz nicht länger aufgeführt, sondern in Worte gefasst: “How many roads must a man walk down before you call him a man … Und wie viele Türen müssen geöffnet und geschlossen werden, Bänke verschoben, besessen und belassen, Wagen kutschiert, gebremst, zum Halten gebracht, muss der Mann den Insassen gemacht haben, die Sasse den Hasen in sich aufgenommen, der sich duckt vor dem Fuchse, muss der Igel den Hasen getäuscht haben, müssen Mäntel gehoben und gelegt, Räume verschwittert, Wünsche gehegt werden … bevor der Mensch ein Mensch genannt werde, nachdem er was gefressen, bittesehr … Wie viele Teller müssen gewaschen, Tassen zerschlagen, Gläser gekippt, Brote gewogen, gebrochen, zerbröselt, geschnitten, wie oft Schnitte verheilt, in den Goldenen Schnitt das Menschenmaß gepasst, Blätter zwischen Buchseiten gepresst, Bilder gerahmt, Blicke nach außen von hinnen und wieder und wieder nach innen geschickt worden sein … bevor der Mensch ein Mensch, der Mann ein Mann, männschlich genannt werden kann … wie oft der Rasen gemäht, getrimmt, ein Trimmdichpfad gegangen, ein Rasen, viele Rasen von immer dem selben Mann bespielt, erobert von immer dem selben Spieler oder von diesem Spieler, zusammen mit anderen … Wie viele Rasen müssen von einem Mann gehegt worden sein, wie viel Wäsche von einem Mann zum Trocknen an die Leine geklammert, wie viele buntmarmorierte Eier gesucht von einem Mann, wie viele Hasen besungen, Schleifenbänder gewunden, wie viele Löwenzahnblätter gestochen, wie viele Rasenkanten geschnitten, wie viel Schneefall gesehen worden sein, wie viele Schneemänner geworden, wie viele Kindlein geduldet … Wievielmal Kind … Wieviel Kind und wie viele Kinderseelen muss ein Mann zu sein gewünscht haben und wie oft ein Kind, bevor er ein Mann genannt werden kann: Mann … für sich allein oder als Mannschaft und männschlich…” Die Antwort trägt das himmlische Kind mit sich herum, in seinen Windhosentaschenfalten, das Balg in seinem Blasebalg … zu diesem Empfänger hin eher, her zum anderen später.

Einen Mann packt die Wut, seine Wangen färbt Blutglut wie das Blattwerk an mehr oder weniger Stellen, wenn der Mann die Antwort nicht weiß auf die Frage, die sich stellt, wenn fremde Füße Wege hierher führen, den vertrauten Rasen betreten und fremder Hände Finger Blätter aufheben und nicht gewusst werden kann vom männschlichen Menschen womöglich, ob der Rasen darob entfemdet, ein Irrlabyrinth werde dem Manne, das ganze getrimmte Geviert wohl gar, ob das Blattwerk, welches der Mann schaut, zu fremdeln beginnt, welches so traut sich gelegt hatte auf die Halme, während die Halme ein so trautes Wispern vernehmen ließen, als sollte man da heraushören: Helme … Ach, so ein wohlgefälliger, gut bekannter Rasen, ein Feld, als wär es im eigenen Innersten angelegt, im gänzlich eigenen unversehrten Interesse, dass es aufgenommen werde, das Rasenfeld, vom allerhellsten, dem Manneskörper unfremden, ihm innewohnenden Licht – ein Heim ohne Aberheimliches. Ein ungetrübtes bergkristallreines Sich-dem-Manne-klar-Offenbarendes. Es kommt …
Kinder allerdings, urplötzlich erstmalig erblickte, können unheimlich sein oder werden oder werden wollen, ein Unheim in sich tragen; sie kommen des Wegs, diese Plötzlichen, betreten den Rasen, schleichen sich ein und dann an, schließen auf und zu womöglich mit Himmelsschlüsselchenideen, erhalten Schlüsselgewalt, Schlüsselpositionen, können schalten und walten, alle Spinde der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft öffnen, durchwühlen, plündern, sich Schicksale zu eigen machen, die ihnen gar nicht gehören, Primelglück, Farnwurzel, Krokuszwiebeln, das Universum schläft ja, sieht es ja nicht in solchen Zeiten, wenn es pausieret; sie treiben sich um, diese Anderen, und treiben es bunt, man weiß nicht, wie weit sie vom Außen und Äußersten schon ins Innerste gelangt sind, am Innenministerium der Seele vorbei gar in die eigenen Windungen des Hirns, Widerwärtiges im Schilde führend, und ob der Mann noch Mann genannt werden kann oder Mensch und ob er nicht rasch seiner selbst entfremdet sich fühlen wird; manches Mal im Laufe aller Zeit war solches schon geschehen, noch eh es jäh gedacht … Wie soll er das wissen, der betagte Mann, wenn nichts bleibt, wie es war, das Leere nicht leer, das Alte nicht alt, das Gewusste nicht gewiss, das Traute nicht traut, sondern untraut wie Unkraut, der Rasen, der dem Mann längst ein eigener urewiger vorzeitinnerlichster Höhlenraum war, als Gemeinplatz nun betreten wird, die Blätter zum Gemeineigentum erhoben und gehoben werden und in selbigem Momente lebhaftes Schauen und Lachen wahrzunehmen sind, wie man es hier nicht gut kennt, wenn Unruhe sich breitmacht über des Rasens Halmhelmen, Mädchen pflückten sie geschwind, dem Trauten ist jetzt eine Untraude entgegengestellt, Furcht erregend, ein Ungemach bereitend inmitten all der Schutzgemächer, die Dämonin, das Blut wird sie saugen aus den Blättern, und denen wird sie es ins Gesicht spucken wie Gift, die einen zaghaften Blick aus dem Fenster zu werfen gewohnt sind … Sie kommen … Bald werden als Neophythen, als rasch Einwandernde die bis eben noch allerheimischsten Pflanzen gelten, niedergewertet, verkehrtgeweltet, fremdgemacht von Fremden, werden ihre Wurzeln gen Himmel wachsen, ihre Blüten sich in die Böden graben, das Licht wird folgen und in die tieferen Gesteinsschichten ziehen, hinab, das Mineralische jedoch aufsteigen, die Himmel zu Höllen geraten, das Unterste zum Obersten sich erheben, Krummes gerade sich strecken, Gerades zu Verbogenem tendieren … Sie verdrehen ja alles, kommen von der anderen Erdhalbkugel und kennen’s nur so, eben unrecht, sie wühlen dieses perfekte Gehege deshalb um und dumm, zerstören die Gelege, verwirren das Gewege verwegen … behalten Fundstücke für sich … Sie kommen …

Wie das endet, wohin das führt, wer das bezahlen soll, wer dafür aufkommt, wer es ausbügeln muss oder ausbaden oder dafür geradestehen … Es kann einen rasend machen … Diese Plötzlichen, die uns überrennen wollen, schon von Kindesbeinen an, gehen her und betreten den Rasen, unbefugt, und es steht nicht drangeschrieben an ihnen, dass es Unbefugte sind, sie tarnen sich unter Hüllen des Nichtbeschriftetseins, so dass man nicht weiß, woran man mit ihnen ist, was es auf sich hat mit ihnen – Rasende oder Riesengnome; eine Schwierigkeit zusätzlich im Leben bedeutet es, sie als solche Nichtbefugten oder vielleicht Dochbefugten ausmachen zu müssen, hinaus schauen sollte man jetzt wohl besser Tag für Tag, abermals und abermals, ob sie nahen, schon da sind, gleich wissen, zu welchen diese Plötzlichen gehören, wie man sie zu verstehen hat … Sie sind nicht als diese oder jene ausgewiesen, sie sind nicht bezeichnet, weder urkundlich beglaubigt noch bestätigt als Rasenbetreterbefugte und zu Blattaufhebern Ermächtigte, nicht unter “gleich mit unsereins” verortet, verbucht, nicht zum “Kapitän auf dem Rasen” erklärt, von allen Kapitänen und Königen zum Stürmersteuermann nicht ernannt, nicht etikettiert, legitimiert, das Laubaufheben zu vollziehen, ihr Freudeslachen nicht ausdrücklich genehmigt, nicht schriftlich zu Protokoll gegeben und abgezeichnet, als harmlos nicht verbrieft. Sie kommen …

Der Unbedenklichkeit bestätigende, höchstautoritäre, sie identifizierende Stempelabdruck wohl, wenn erhalten, tückisch verborgen vor den Blicken des betagten, auf seinen Instinkt sich jetzt allein verlassen müssenden Mann; es versteht sich von selbst: vom Manne muss gewusst werden in Bruchteilen von Sekunden, ob Recht hier geschieht oder Unrecht, ein Verbrechen gar begangen wird schon beim Begehen des Rasens, ob dieses Landes Grundgesetz aus den Angeln gehoben wird mit dem Heben der Laubblätter, der Mann soll im Nu bewertet haben, schlussfolgern: handeln oder nicht, so verlangt es das Universum wohl; wenn es den männschlichen Menschen probehalber sich selbst und seiner ganzen Freiheit mitsamt aller Entscheidungsgewalt überlässt, dann sollen die Dinge sich inzwischen augenblicklich selbsterklärend offenbaren oder als solche vom Manne und Menschen erfasst und ausgedeutet werden, als läge jegliches Beurteilungsurteil als einzig richtige Antwort allzeit in der Innenraumluft, in der Zimmerluft bereit, die der Mann stetig atmet hinter der gläsernen Scheibe, Innenraumluft, die ihn schlau und universalerkenntnisfähig gemacht haben sollte, längst. Die Lehr-Erkenntnis muss nur gewonnen worden sein, beizeiten, und nun parat. Sie kommen …

Alter Mann, was tun?? Nun …?? Entscheide! Angriff, Verteidigung, Rückzug, Abwarten, Nichtschießen, Aktivwerden, Zögern, vor oder zurück …?? Das Universum lässt dich allein, prüfend, mit dieser Frage. Bist du Mann, Mensch, wirst du ein solcher genannt werden können? Bist du dafür genug Straßen gegangen in deinem Leben? Gehst du durch als Mannmensch, dann, an des Paradieses Pforte? Steht das hier zur Debatte, während die Plötzlichen auf dem Rasen schon stehen, her und hin schon gehen, sich mehren womöglich, wenn sie erst Fuß gefasst haben, wo vorher die Helmhalme allein standen und die Blätter lagen, bunt wie Antworten, sich nicht rührten, nicht lärmten, wo der Boden sich gesetzt hatte, längst, und Menschen in gesetztem Alter ringsherum wohnhaft, im Behausungsverbund mit Jüngeren? Sie kommen … Wie handelt der betagte Mann, nachdem er so viel Straße im Leben abschreiten musste, so viele Fragestellungen ihrem Sinngehalt nach verstehen, so viele Antworten wissen, solche nach den Verkehrsregeln, nach dem Periodensystem der Elemente, nach der Brandschutz-, der Abfüll-Verordnung, nach den Erste-Hilfe-, den Sofortwiederbelebungs-Maßnahmen, nach der Rangordnung, nach den Bestimmungen, nach der ersten Bürgerpflicht, nachdem er so müde sich gekämpft, sich aufgerappelt und wieder verausgabt hat, vieltausendmal, erfolgreich oder nicht der Rede wert, vergeblich, völlig umsonst? Ist der Mann in des Wissens Stand erhoben und kann ermessen: Darf ein Lachen erschallen auf diesem Rasen, oder schädigt ein solches an sich die gute Bodensubstanz, beeinträchtigt Zellwachstum, Wurzelbildung, Begrünungsgrad? Bringt es den ph-Wert durcheinander und damit das Grundwasser in ungünstigen Stand? Sie kommen … Darf sich heimisch gefühlt werden von solchen, die noch nie zuvor hier sich zeigten, wäre ein Befremden und gleichzeitiges Fremdwerden der hiesigen Anwohner jetzt zu vermeiden, ist ein sofortiges Vertreiben der unbekannten, plötzlichen Auslöserverursacher vonnöten, sogar direkt erforderlich, ein Erzeugen von abschreckendem Lärm, ein Klappenschlagen, ein Rufkartätschen-Abfeuern, ein übermächtiges Brüllen, ein Blut-und-Boden-Hämmern ans Fensterglas, und wenn ja, in welcher Stärke – eher, wie wenn ein Hase, ein Starenvogel, ein Fuchsräuber, ein Eierdieb, ein Mückentückentuckmuck oder wie wenn ein Löwe, ein Olifant, ein Dinosaurier, ein Gigantoobermonsteratus zu verscheuchen wäre, was fordert das Universum mit allen Elementen vom betagten Mann, dessen Augen schon so viel gesehen haben könnten, dessen Füße so viele Wege schon gegangen sein dürften, dass er Mann genannt werden müsste von anderen. Von Hiesigen, solchen, jenen oder Abholden, Aushäusigen, Dortigen, Überschärigen, Urplötzlichen? Welche Antwort legitimiert den Mannmenschen, sich als wohnhaft wahrnehmen zu können, mehr als es anderen zugestanden sein kann … niemals jedoch gesondert von allen anderen Wohnhaften der Welt, ewiglich eingebunden in den Kreislauf von Aufgenommenwerden und Entlassenwerden vom Nichts ins Nichts … Sie kommen … Wirst du verloren sein, betagter Mann, wenn die Kindlein da auf dem Rasen stehen und einhergehen, wo sie vordem noch nie anwesend waren? Ist dir, Mann, gekommen aus dem Nichts, die Rückkehr ins Nichts versperrt, wenn sie dort stehen und gehen und lachen gar? Verunmöglichen sie dem Universum das Einssein mit dir? Oder sind sie nur eine Probe, deinen Männschensinn zu erfahren? Wirst du ausflocken, zerstieben wie ein zu Pulver sich zersetzender Kunstschneemann im Wind, weil diese Kinder den Leerraum über dem Rasen in seiner Homogenität beschädigen, zerstören, konterminieren, unterminieren womöglich, dort, da gewöhnlich dein Schauen seinen Platz findet und dein Leben einen Fix-, Flucht-, Angel- oder Knackpunkt? Wo Schneck und Spinnlein, Tausendfüßer und Ameis ihr Reich errichtet haben. Dieser Prüfungsstress … Du kannst jetzt nicht sagen: Da hab ich gefehlt, in dieser Unterrichtsstunde des Universums, als das Kapitel “Wer als Plötzlicher kommt und geht, bleibt und fehlt, flieht und steht” durchgenommen wurde. Du kommst …
Blätter liegen auf anderen Blättern und wollen wieder Erde, wieder Blattwerk werden. Dürfen Hände nach ihnen fassen und diesen Prozess verzögern, unterbinden oder überbinden gar, rückverbinden, geht das gegen die Rhythmik der Natur? Schadet das Plötzliche oder eher das Zögerische, Langatmige? Wird der Mann als ein rechter Mann sich erweisen? Schon schlägt gegen das Glas seine Hand die Antwort. Hör seine Trommel, Universum, da hast du eine Probe auf’s Exempel … Er kommt …

Simon, in Allerweltsauftrag, machte vor kurzem Mitteilung: “Besser ignoriere das Schlechte und fokussiere auf das Gute. Nicht, um wegzuschaun oder um sich in die Wohlfühlzone abzusetzen. Sondern wegen des GESETZES DER ANZIEHUNGSKRAFT. So funktioniert das Universum. Wenn du deine Aufmerksamkeit auf etwas richtest, wirst du noch mehr von diesem bekommen. Verstehst du? Wir alle sind göttlich und miteinander verbunden – unabhängig von Rasse, Religion und finanziellen Möglichkeiten. Also müssen wir die guten Schwingungen stärken, und sie werden sich verstärken wie der Wind. Verstehst du?“
In Betrachtung der Blätter. Den Herbst also beschrieben die Pina-Bausch-Tänzer mit einer schwippschwingenden Bewegung der Hand. In vier Sekunden die ganze Jahreszeit präsent, in zwanzig Sekunden ein ganzes Jahr durchdekliniert. Die Tänzer gingen im Kreis ihre Bahn und wiederholten alle Zeit, Zeit um Zeit um Zeit. Eines Tages schlägt sie dir entgegen. Eines Tages verliert sie dich im Galopp. Im Verlorenwerden lässt diese Zeit sich ermessen … Der Augenblick … Eines Tages lässt Zeit sich finden … In diesem Moment stellt sich dir Chronos. „Chronos und die Trauernde“ – zwei Figuren auf einem Sockel in Radebeul, der Kreisesstadt. Im Kreise des Jahres Tänzer, kreiseltänzerisch Wege zeichnend. Sie fließt noch weiter, die Elbe, strudelt, mäandert. Wasser weicht Papier und lässt Baumblätter modern, Pappeln lodern, Erlen schwärzen, Linden herzen, Birken harzen, Eichen knarzen … Des Flusses Arme satt von Morast. Und die Moral – Last am Zweigesast. Hol tief Luft. Sie kommen … Der Krähenkuckucksvogel verkündet.

Hier die Großstadt und dorten. Färbt sich das Laub der Ahornbäume vor diesem sandgelb gestrichenen Haus, erglüht die Goldnuance der gesammelten Sonnenkraft lichter Monate, der Zeit offenster Himmel, des Frühlingsommers. Blatt für Blatt löst dieses Gold sich jetzt, zerfällt zu tausenden einzelnen Seiten, locker gestreut das Buch der Tage. Des Jahres letzter Teppich jedermann zu Füßen. Regnerische Tage … Sie kommen … Dann ist die Zeit der Dornen heran, die Zeit der Gerüste, der Endlosigkeit, der Epedemien, des kalten Gesteins, der Schlitterpartien und Kristallsplitter, der Bittlichter, der Losigkeit. Gregor Kunz rief vor einem Vierteljahrhundert ins Megaphon Ungarettis Verse: „Soldaten / So / wie im Herbst / am Baum / Blatt um Blatt.“ Die Gesetzeshüterin, die Schwarzrabenkuckuckskrähe aufschreit: „Nicht den Krieg denken! Den Blick umlenken! Schnell den Hebel auf Harmonie umlegen, nach da die Aufmerksamkeit bewegen, eh die Sekunde verzwergt, das Universum den Negativfokus bemerkt und das GESETZ DER ANZIEHUNGSKRAFT sich seiner selbst bewusst wird, schlagartig erwacht und seine Wirkung wirkkräftig macht! Schlechtes wird Schlächter. Du nicht gerechter. Schau doch einfach die Blätter an, das urheilige Friedensgold, und vergiss Soldateska, Söldnersold, den Todesmann und Wolfskinder, Häscher und Gehetzte, Äscher und Verletzte, Tarnanzüge, Elend und Krüppel, Knüppel, Ertrunkene und Gebrannte, Gesunkene, Verrannte, Gekürzte und Gestreckte, Entschürzte, Verreckte. Lass den Wind das Laub verwehn, als teile er PAXmagische Schriftstücke, lass die Blicke wortwärts gehn, längs der Lineaturen von Ulmen, von Buchen, Hainbuchen, Rosskastanien. Hör und überhör die Uhren. Stell dir eine Laube hin, denk im Dickicht ein Gedicht, wäge wohl des Blattgoldes Gewicht. Blatt für Blatt. Rauh und glatt. Laublese nach der ihr eigenen Natur. Sieh sie nur.“

Bob Dylan hat den Literaturnobelpreis bekommen. Ich hab vernommen: „The answer my friend is blowing in the wind“ – das verschränkt sich mir im Sinn wieder und aberwidrig mit: „Sag mir, wo die Blumen sind“. Und das „sind“ reimt sich auf „wind“, „blowing“ auf „flowing“, „flower“ auf „Mauer“, „Laub“ auf „taub“. Anna Bronski in ihren kartoffelbraunen Röcken dachte nicht lang nach, im Oktober; nachher sagte sie: „Wirst schon wissen.“ So schlicht und einfach lässt sich Gewissheit verbreiten. „Sag mir wo die Blumen sind! / Die Antwort weiß allein der Wind / Wo der Wind sie hingetragen / Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“ Ich halte mich vorerst an Annas Worte und sag sie jedem, der nicht mehr weiß, wo oben und wo unten geblieben.

Die Herbstherrlichkeit wird sichtbar in den Blättern, die ihr Grün von den Lüften aussaugen lassen und noch andere Farben zur Anschauung bieten. Bis sie sich verausgabt haben und kartoffelbraun sind und weit weg vom Zweig. Drei Kinderlein kamen des Weges, sie waren wohl keine von solchen, die Unzeiten längst anwohnend sind. Die sahen auf vielen braunen die wenigen bunten Blätter leuchten wie Zeichen, die sahen sie fallen, die sahen sie liegen, sie hörten die Blätter raunen, sie sahen das Licht sich wiegen. Und ganz wie Simon es geraten, so taten sie und machten sie es und fokussierten auf die lichten Blattschönheiten, die sich vornehmlich bereitgelegt hatten, um von diesen drei Kindlein gesehen, erfasst, aufgehoben und geschwenket zu werden, als wollte der Herbst so seinen Staat am besten machen. Als wollte er kleine Könige aus ihnen werden lassen, mit Gold und Weihrauch und Myrrhe in ihren Händen.
Die Kindlein beschallten das Blattwerk mit Lachen. Alles in der kosmischen Ordnung, wie Simon es anempfahl. Aber – welch Trauer in den Blattleselandstrichen von Hans Sachs, von Goethen und Schillern, von Heine und Hölderlin, von Novalis, von Kästner, Brecht, Fried, Celan, von Bachmann, Arendt und Kirsch, von Müller, Inge, und Müller, Heiner, von Braun, Czechowski, Hilbig, Endler, Erb und Struzyk, von Baader Holst, Papenfuß, Lanzendörfer, Köhler und Jansen, von Günderrode, Droste-Hülshoff, Rilke, Eichendorff und Sachs, Nelly, von Dichtern, die Straßen querten, beide Hirnhälften auf jede Straßenseite eingestimmt, von Dichtern, die den Mittelstreifen nutzten, zu beiden Seiten hin, als Balancierbalken, den Sturz, den Unfall gewahr durch Gewahrgewordensein, die Unbehausung Straße, den in die Straßenflucht Geschlagenen …, welch Trauer in unzählbaren Silbenfeldern gefundener Worte – Simons kosmische Ordnung gibt sich löchrig, durchlässig, erlaubt lautmalerische Leerstellen, erfasst mitnichten jedes Rasengeviert, lässt Raum; da kann auf Touren kommen, wer die junge Garde der Blatträuberkrieger mit Stängeln und Halmen ins Licht stechen sieht … Ein wütendes Hämmern gegen Glas, ein brüllendes Rufen: „Macht, dass ihr wegkommt! Haut ab, ihr Pack!“ Drei Kindlein müssen rennen, da der Rasenfeldherrenmann zürnt und ins Toben kommt. Wie auch die Windräder rennen und die Herzen rasen. Nur kommen die Dinge nicht von der Stelle. Die Kinderbeine allerdings. Die Packstation gleich hinter dem Park. Die Wut kann einen Mann packen, wenn bereits endgültig gefallene, vom Wind abgeschriebene Blätter noch einmal gehoben werden, bedeckte Rasenstellen noch einmal vom Licht des Tages beschienen, wenn eingegriffen wird in den Naturkreislauf, womöglich empfindlich, wider die Regeln, entgegen der Fallgesetze und Humusbildegesetze Logik auf Erden. Unnatürliches könnte sich ereignen. Das Universum darob zürnen und sich rächen wollen, womöglich; man weiß ja nicht, wie es reagiert, sagt sich der Mann. Wie soll man das Große kennen, wenn’s doch zu groß ist. Die kleinere Dimension allein ist gerade noch so fassbar. Hier kann der Mann auch einen höheren Auftrag erfüllen, Entscheidungen treffen, dieses ins Verhältnis setzen zu jenem, abwägen, sich bedenken, feststellen. Niemand hat ja erlaubt oder informiert, dass erlaubt wurde, von kultivierten, vertikutierten, getrimmten Rasen farbige, goldene Blätter aufzuheben, niemand hat erlaubt, die braunen aber liegen zu lassen, niemand hat erlaubt, es zu erlauben, niemand hat erlaubt, es nicht zu erlauben, niemand hat eine Erlaubnis ausgestellt, mit deren Erlaubnis die abgefallene Belaubung von Bäumen in die Hände von Geduldeten oder Plötzlichen gelangen und von diesen zum Winken und Schwenken benutzt werden könne, niemand hat die Er- in eine Entlaubnis umgewandelt, niemand hat mit Verlaub eine Belaubungsbeglaubigung beglaubigt und dem Antrag auf Inbesitznahme von URlaub überhaupt und an sich stattgegeben, eines wundersamen uranfänglichen Blattwerks, das, wenn es fällt, in die rechten Hände gerate, nicht etwa in die von Kindlein aus Unanwohnerlanden, die sich wie Laubbuben ausnehmen auf dem hiesigen Rasen und einen darob wütend schreienden Mann fürchterlich be- und vertagt und fürchterlich dumm und fürchterlich universal unausgeglichen aussehen lassen, fast so braun vor Ärger wie Laub, das schon länger liegt und mürbe geworden ist. Mann weiß nicht, woran Mann ist. Er kommt … Sie kommen … Du kommst nicht länger umhin … Laubblätter fallen unter die universalen Verteilungsregeln für vegetabile Gestattungsproduktion. Tanzt, tanzt, so Pina Bausch, sonst seid ihr verloren. Blättertänzer … abgeschworen … Eselsohren … Leuchtazoren … Goldergänzer …
Das Schöne ward erblicket und beachtet. Das Universum allerdings ließ sich alle Zeit, blieb außen vor, hielt sich zurück. Du musst schon selbst entscheiden, Mensch. Hat sich der wütende Mann in seiner Rage dreimal im Kreise gedrehet, wird’s wohl vorbeigerauscht kommen, das Universum, die Allmacht, und zu unterscheiden wissen zwischen Bunt und Braun, Hund und Saum, Mund und Traum, zwischen Baum und Borke, Blatt für Blatt. Flaum. Die Goldglanztänzerin vermag’s allein kaum, Anna Bronski vermag’s allein kaum. Keineswegs. Das Männschliche als Solitär bleibt ohne Gewähr. Es kommt ohne Gewehr daher. Schritt für Schritt. Nach dem Kosmischen Gesetz sind alle Laubblätter ungleich und die Straßen verschieden lang, die ein Mann gehen muss, um Mann genannt werden zu können, Mensch.
Das Glas deiner Scheibe im Fenster ist dünn, betagter Mann – nach dem GESETZ DER AUFMERKSAMKEIT. Nach dem GESETZ DER BEACHTUNG. Nach dem GESETZ DER LAUBIGEN VERGEBUNG. Nach dem BESETZ der Tung-dynastischen Männschlichkeit. Es tritt inkraft mit jedem Hauch.

Berlin – Kreta – Berlin, 21. Oktober bis 15. November 2016