Dieses türkische Zuhause, gehütet von einer schnurrbärtigen Berliner Mousafira

Kerem

Hava kurşun gibi ağir

Bağir bağir bağiriyorum

Nazim Hikmet

 

Jemand kommt die Straße herauf und zählt. Was zählst du?, frage ich. Ich zähle nicht, so die Antwort. Ich spreche die Zahlworte aus, damit ich höre, wie sie klingen. Nicht alle Tage klingen sie gleich. Nicht alle Tage wird von Freundschaft gesungen mit dem gleichen Lied. Nicht alle Tage gibt es das gleiche Zuhause. Alles ist zugleich, was es ist und auch, was es nicht ist. Du gehörst nicht zu diesem Land. Und doch hast du seine Grenze in dir. Und doch wird es auch von dir gemacht. So, wie das Licht leuchtet, weil es dunkelt, wo das Licht nicht ist. Die Dunkelheit ist immer anders. Und in einer Erscheinung der Dunkelheit bist du, deshalb kann Licht sein, irgendwo. Eins … Zwei … Drei … Vier … Fünf … Tak tak. Toc toc. Tic tac. Taktik und Straktik. Schiefe Absätze erzählen von allerlei Wegen … Sechs … Sieben … Acht … Neun … Zehn … Kalimeramerhaba.

Als ich in Athen lebte, lebte ich auch ein wenig in der Türkei. Ich lebte in Ägypten und Syrien, in Pakistan und Indien, in Deutschland und in Albanien, sogar auf den Philippinen lebte ich, als ich in Athen lebte, und auch in Australien, in Holland, in Israel und Frankreich, in Japan und China und in vielen anderen Ländern. Forget me not. Kalimeramerhaba.

Es gab nicht nur einen Wunschbaum, es gab viele. Lerne Sprachen sagte er und wusste, warum. Er hatte den Krieg mitgemacht. Lerne Sprachen sagte er, lange vor der Zeit. Lange, bevor ich in den Ländern wohnte, die Länder mir innewohnten. Lerne Sprachen. Er wusste, warum. Er war ein Deserteur. Er hatte überlebt, still, ohne sich zu zeigen. Nicht, ohne zu sprechen. Lerne Sprachen. Doch keine brachte er mir bei. Es blieb dabei. Lerne Sprachen. Zwei Worte, wie man sie sich merkt durch Wiederholung. Esperanto, sagte er, lerne Esperanto. Wo und wie, das sagte er nicht. Er hatte möglicherweise den Sinn dafür verloren, dass wir in einem Land lebten, in dem Sprache dazu gut war zu schweigen, das Wort in der Stille zu verbergen und abzuwarten. Auch wenn man darüber starb. Der eine schrie es, der andere rief es, der nächste schwieg es. Er ist schwer, dieser Wind / schwer wie Blei / Ich schrei. Gegen die Wand. Over the Bridge. Sprachen lerne. Er hatte möglicherweise den Sinn dafür gewonnen. Kalimeramerhaba.

Eines Tages kam einer, der Kelim-Teppiche hatte und sie verkaufen wollte. Ein Haus wird ein Zuhause, wenn es einen Teppich hat. Wenn es keinen Teppich hat, bleibt es ein kühlerer Ort. Weil die Hausfrauen die Teppiche nicht saubermachen müssen und ihre Körper sich deswegen nicht erhitzen. Kelim-Teppiche in Kontrastfarben, Kelim-Teppiche in bräunlichen Farbtönen, bunte Kelim-Teppiche, alte Kelim-Teppiche in matten, ausgebluteten Farben, die alles Neusein verloren, die Menschenleben und Licht in sich aufgenommen haben und dafür überschüssige Farbe abgaben. Ich würde wohl keinen brauchen, sagte ich mir, denn meine Blicke hatten die Ornamente gesehen, gebildet von Kette und Schuss. Im Inneren Zuhause liegen so viele Kelim-Teppiche, wie ich will. Das Gelb leuchtend, wie von Schöllkraut und Safran, das Rot von Granatäpfeln braun wie Meerestierblut, das Blau – geriebener Stein und Kornblumenstern, das Grün wird erdacht von einem Geist, nachdem er sich aus der Zuckerdose des Menschengeschlechts bedient hat und seinen Schwarzen Tee geschlürft und zufrieden ist. All we are living … living in a box. Geh nicht zu den Hausfrauen, sie sind furchtsam, sie schließen die Tür ab, wenn du nahst. Sie verriegeln sie, wenn du klopfst. Sie verriegeln sie zweimal, wenn du rufst. Kalimeramerhaba.

Die Kelim-Teppiche des Inneren Zuhause bleiben eingerollt. Sie warten lange im Dunkeln, denn irgendwo wird mehr Licht gebraucht. Dort, in meinem türkischen Zuhause, so weit entrückt, dass diese Entfernung Sehnsucht erzeugt. Der eine ist geblieben, der andere ist gekommen, der nächste gegangen. An der Wand entlang. Durch die Wand. Over the Bridge. Besame mucho. Compris? Kaputt! Arrivederci. Zapzarap. Abrakadabra. Que sera … Ti amo! Otschi tschornyje. Mon amour. Shukran. Meintest du vielleicht: Schuhkrem schäkern schussern? Sprachen lerne. Mutabor. Kalimeramerhaba.

Im dritten Sommermonat gibt es türkische Aprikosen, klein und aromatisch, vorher die etwas größeren aus Frankreich, im Juli. Noch ist nicht August. Noch wird der Sommer nicht schon bald wieder zuende sein. Noch träumen wir von diesen Aprikosen und erwarten sie. Noch binden meine Gedanken ein blaues Band an den Zweig des Wunschbaums. Kalimeramerhaba.

Der Kanarienvogel kam geflogen über Griechenland, über Israel, über die Türkei. Rosa Eskenazy, die Geliebte des Sultans Kemal Atatürk, sang Rembetiko. Laura saß in der Mansarde, ihr blondes Haar füllte den kleinen Raum und machte ihn zu einem Palast. Die Mutter meines Vaters, sagte sie, war Physikerin; sie lebte in Izmir, sie lehrte, sie forschte. Renas Großeltern kamen von dort. Petri, der Eismann kam von dort. Aber geboren wurde er in Thessaloniki. Ein Kirschbaum stand im Garten. Und viele andere Bäume. Und viele andere Menschen waren. Und viel Zuhause. Webstühle gingen. Melonen platzten. Aprikosen waren kleiner als Nüsse. Pino saß auf dem Stuhl. Geh-Komm. Hier-Da. Pino Noir-Pino Blanche. Pina Bausch. Herr Bauschke zeichnet Porträt. Eva und Silke, Silke und Daniela, Daniela und Daniel, Daniel und der Löwe, der Löwe und die Maus. Die Zaza und der Tzitzikas. Die Worte wurden gesagt. Die Worte wurden eingewebt. Die Worte wurden gemalt. Die Worte wurden gesungen. Warum kreuzen sie unsere Wege, warum deiner den meinen, warum fahren heut im Hafen viele Kräne hin und her? Sag mir, warum ich gehn muss, sag mir, warum. Sprachen lerne. Um sie zu wissen. Damit spielt man Stille Post. Kein Wort verlieren. Reden wie ein Wasserfall. Schweigen wie ein Grab. Es singt das Santouri. Das Sprechen übernimmt die Luft. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Das Wort nimmt Klang auf. Das Rad die Fahrt. Kalimeramerhaba.

Mein Kanarienvogel, wie laut dein Lied ward, so stark, dass die grelle Farbe schnell wie ein fliehender Schatten aus dem Kelim wich, dass diese Welt stiller wurde, dass Halil Karaduman zu hören war, Yaşar Kemal und Nazim Hikmet … Bleib dran, Löwe! Zwanzig … Einundzwanzig … Zweiundzwanzig … Das nächste Sternbild ist aufgezogen. Es schneit in der Nacht. Schwarzer Tee und Zuckerpulver. Und heute Abend / da will ich singen / nur singen / In dieser Nacht fällt leis der Schnee / Und nicht mal der Wind erhebt sich / In diesem kurzen Moment / als dich trennt / eine Kugel vom Leben. Eine Kugel verbindet dich dem Schnee, dieses Licht liegt auf dem Weg, dieses Dunkel auf dem Kelim, in den Farben die Worte, in den Worten das Lied, im Lied der Atem, im Atem der Raum, im Raum ein einziger Stern, dieses Zuhause meiner Lichtjahre entfernten türkischen Namen. Das Herz hat zahllose Innentaschen. Das Land wird fortgeschafft. Verbracht hinter die Sieben Berge und dort deponiert im Hinterhof der Zeitalter. Gleich hat man Alaska erreicht. Den Gletschern gab man Namen. Die Gletscher können kalben, heißt es. Wir waren schon mal weiter. Forget me not. Kalimeramerhaba.

Sezen Aksu, an deinem 62. Geburtstag las ich, dass ein neues Blau entdeckt wurde, schon 2009, aber es geriet in Vergessenheit. Irgendwann wurde alles entdeckt und geriet wieder in Vergessenheit. Auch Rosa Eskenazy. Und wir, kurz bevor wir geboren werden, vergessen alles Weltwissen und brauchen, sobald wir entbunden sind, ein ganzes Leben, uns dessen wieder zu erinnern. Als würde es immer schneien, dass der Schnee sich auf die Erde legt und auf den Schnee der Kelim-Teppich. Mit jedem Wort werden wir wiedergeboren. Schreibe ich deinen Namen. Mutabor. Im Haus ist es etwas kühler. Die Bänder flattern im Wind, durch das Zuhause rollte ein Stern. Gegen die Wand. Crossing the Bridge. Jede Hand will ihn fassen, doch er ist unfassbar. Alle sitzen auf dem blanken Boden. Alle warten auf die kleinen Aprikosen mit den kleinen Kernen. Alle zählen. Alle vergewissern sich des Klangs der Worte. Obwohl alle schweigen. Obwohl es in allen ruft: Herein, wenn’s kein Schnitter ist! Sie hören. Sie schärfen ihre Sinne. Bahar, der Herbstfrühling kommt nach diesem Sommerschnee. Khan, wilde Erdhummeln kreisen über dem See, unter dem Wasserspiegel das Kind, das die Luft anhalten muss. Erol, quer gehst du, dieses Insekt aus deiner Sammlung hat die längsten Fühler, die man sich vorstellen kann. Ganz sicher wurden damit die Verse geschrieben. An die Wand. Over the Bridge. Kalimeramerhaba.

Bringt Fische, bringt Zitronen, bringt Zimt, bringt Nelken, bringt Kümmel, bringt den Teppich, bringt die Bänder, lasst Kleider machen, lasst Stühle stehen, lasst Seltsames geschehen, lasst Farbe sich vertiefen, lasst eine Zaubersalbe in einem Schraubglas sein, lasst das Haus wachsen, lasst die Türen sich öffnen, lasst Rosmarin, Jasmin und Aprikosen, Oliven und Feigen herfinden, lasst ein reines Tuch bereitliegen, lasst etwas Altstaub auf einem Bord, lasst etwas Altasche im Kamin, lasst etwas vergorene Neumilch im Krug für das Milchmädchen und für Tewje, den Milchmann, lasst etwas da, was von anderswo kommt, um ganz und gar und anders wach zu bleiben, scheret euch nicht um das Neudunkel, immer wieder will es werden zur Althülle des Neulichts. Jeder Ausnahmezustand ist zugleich Einnahmezustand. Kalimeramerhaba.

Die Mousafira streckt ihre Beinchen. Die Mousafira zwirbelt ihre Bartspitzen. Die Mousafira reibt Lauras Blond in die Fasern, um Laura zu erinnern. Die Mousafira vertut ihre Zeit nicht. Ihr türkisches Zuhause schläft nie. Ihr Berliner Einbrecher schläft nie. Ihr Athener Einbrecher schläft nie. Ihr Istanbul-Zuhause wohnt. Es ist nichts mehr im Keller. Die Worte sind nicht in Wohnhaft. Eileen im Büro. Omi Mama im Haus. Mimi Mia am Fenster. Mami am Zaun. Omi am Schrank. Osman im Zug. Mia Mimi im Bett. Nina Mimi Ina im Sandkasten. Zülfü im Garten. Nevzat, Ferhat, Göksun im Bus. Taner am Tor. Ciğdem im Badehaus. Mama Omi Mia am Klettergerüst. Ina an Moni. Moni an Mia. Mia an Mimi. Mimi an Nina. Nina an Ina. Ina an Moni. Na Moni. Moni im Sandkasten. Cem im Flugzeug. Renan im Kino. Ermine am Baum. Ali Lilo am Beet. Tafi Gino Gina am Platz. Lilo im lila Kleid. Sema im Lied. Das Taxi am Taksim. Gingi in den Küchen. Memed im Hafen. Ein Schiff wird kommen. Ein Schiff ohne Kanonen. Vergiss mich nicht … Kalimeramerhaba.

Jemand geht die Straße hinunter und zählt. Was hast du erzählt … Diese Ohren haben Wände. Sur mes cahier d’écolier / Sur mon pupître et les arbres / Sur le sable sur la neige / J’écris ton nom / Ey Özgürlük … Ob wohl Licht brennt im Istanbuler Goethe-Institut, in diesen Nächten? Ob das Dunkel sich vertieft, der Lesesaal zum Wartesaal wird allen Büchern, gefüllt mit streitbaren Worten, die ihren Klang verbergen, sich zurücknehmen, dass große Stille werden kann. Ob etwas darin sich eingeschlossen hat und zählt? Keftedes bewacht, Loukoumia bewacht, Kourambiedes, Baklava bewacht. Zwei Türen lasst offen für das Lied, eine Tür nach vorgestern, eine Tür nach übermorgen. Der Teppich entrollt sich, von dort her rollt er sich auf bis hier. Gegen die Wand. Over the Bridge. Kali nichta – Gute Nacht, mein junges Athen, mein vielaltriges Istanbul, mein Baby Berlin. Kalimeramerhaba

22. Juli 29016

 

 

Die untergründige Zweite Existenz des b-flat

Die wundersamsten Veränderungen sehen häufig zunächst gar nicht nach einem Zweiten Leben aus. Vor allem nicht, wenn’s keine Fenster zur Straße gibt und somit keinen Ausblick. „Aber dieses b-flat gefällt uns eigentlich noch besser. Auf seine Art …“, sagt Jannis Zotos, Musiker und langjähriger Chef der Jazz-Bar b-flat. „Jetzt gehen wir in den Untergrund!“

Besucht man das b-flat nächstes Mal, dann könnte einen durchaus der Hauch einer inspirierenden Zeit anwehen. Inspirierend, weil schwierig und trotzdem künstlerisch gelebt. Wie vor fast hundert Jahren, als zig Musiker in Athen in Kellerlokalen spielten und sangen und die Zuhörer beim Zuhören nicht an einen Nachhauseweg denken mochten. Meistens stieg man in diese Zuflucht zur Musik mitten in der Stadt einige Stufen runter, ins Souterrain. Ein Lied aus diesen Zeiten, „Fünf Griechen in der Hölle“, könnte man im Ohr haben, wenn man sich das vorstellen will. Es kann auch Jazz sein. Jannis Zotos und etliche seiner Musiker-Kollegen vermögen „Fünf Griechen in der Hölle“ und noch viel mehr leichterdings zu spielen, auf unterschiedlichste Art und Weise. So, wie sie es seit 20 Jahren im b-flat tun, das für einige in Berlin Kult-Status hat, ein Ort, zu dem man sich gern hinbegibt, um dabei zu sein, wenn Jazz zu hören ist, vor allem, aber nicht nur, sondern auch griechisches Rembettiko, Blues, wenn Songwriter-Abende oder – sehr selten und eher die Ausnahmen, die die Regel bestätigen – besondere Lyrik-Performances oder Filmvorführungen zu erleben sind oder die Stühle ganz beiseite geräumt werden für eine besondere Sache.

Das b-flat ist immer wieder für etwas außerordentlich Kulturvolles zwischen Büros, Kleider-, Schuh- und Schmuckgeschäften zu haben und bedeutet als solches eine Wohltat, um den Kopf von peinigenden Fragen nach dem sinnvollsten Erkennungswort auf dem T-Shirt frei zu bekommen. Das b-flat ist eine Instanz. Das b-flat ist Rettung vor dem Motivationstod des Innenstadtherzens. Das b-flat ist ein schützenswerter Topos, unterstellt der Obacht und Fürsorge seines Publikums. Immer wieder kommen auch Touristen hereingeschneit, die „solche Musik“ noch nie gehört haben und deswegen bleiben bis nach dem letzten Lied und sich später viel zu erzählen haben. Das b-flat ist kein Blue Note, aber es lässt daran denken, in seiner Zweiten Existenz vielleicht noch mehr, und es findet sich über diese Brücke im Kopf verbunden mit aller Welt. Das b-flat hat seinen Namen der Kürze wegen, könnte aber auch heißen Danny Bensusan is in.

Oder The Zotos Brothers. Im März diesen Jahres sahen sich Jannis & Thanassis, die „Väter“ und Betreiber des b-flat allerdings jäh mit der Tatsache konfrontiert, dass der Eigentümer ihnen den Mietvertrag nicht verlängert, was das kurzfristige Aus für das b-flat bedeutete und somit einen Herzinnenstadtinfarkt. Schlecht für die Rosenthaler-Straße, in der sich die leise Wehklage eines „The Thrill is Gone“ hätte urplötzlich unterschwellig manifestieren können, fortan, und diese Straße verändern, langsam, Tag für Tag, ihr den Atem und die Lust nehmen, sie inspirativ ausbluten lassen, in ihrer Geschäfte-Büros-Geschlossenheit ersticknüchtern. Vielleicht kommt das noch. Die Rosenthaler könnte vergrauen, was sie an sich nicht verdient hat. Denn die Rosenthaler insbesondere hat was von einem Verbindungsweg zwischen den Zeiten, zwischen Übermorgen und Vorgestern, als „die beste Freundin mit der besten Freundin“ Seit an Seit Lieder sang. Der Verlust des b-flat ist für die Rosenthaler definitiv ein Manko, das Zünglein an der Waage womöglich, das dazu führt, dass man alsbald durch diese Schneise nur noch durchdurchdurch! muss, aber keine Verbindung mehr bekommt zwischen Zeiten. Nachts schon gar nicht. Von einem kreativitätsbedingten Momentverweilen lebte sie im Grunde. Vielleicht ist das jetzt aus und vorbei, die Straße weiß es nur noch nicht. Die Rose verblüht. Thalfahrt. Danach ist die Rosenthaler flach. An sich wäre es besser, das b-flat bliebe gleich dort, in der Nr. 13, damit die Straße was hat, sich daran aufzurichten, wenn sie irgendwann in Zukunft abermals wiederbelebt werden muss. Musik ist ein gutes Fundament.

Die Straßenbahnen, die auf der Rosenthaler Straße ganz selbstverständlich fahren, schienen Ende 2015 draußen vor den großen Fensterscheiben nach linkerhand und rechterhand steil ins Abgrundtiefe zu sausen. Dem b-flat riss es fast den Boden weg. Ende der Existenzgrundlage oder Frühpensionierung. Auswandern. Dichtmachen. Oder weitermachen. „Die Nacht“, sagt N., „ist nicht von vielen zu machen. Jannis ist einer, der die Nacht größer machen kann, weiter, seit langer Zeit. Es gibt nicht viele, die das können. Sie bleiben stehen in der Nacht, und so eine Art von Nacht ist eng; für immer bleiben sie z.B. uninteressierte Kellner, die immerzu stöhnen, dass sie kellnern müssen, anstatt … Jannis hat immer Musik gemacht, hat immer diesen Ort offen gehalten und mit Leben sich füllen lassen, hat der Nacht das gegeben, weshalb man sagt: sie ist nicht nur zum Schlafen da. Hat immer Musik gemacht. Und noch immer macht er Musik, öffnet den Ort für Musik, und der Ort öffnet sich für Musik.“

Es ist kaum anzunehmen, dass in die bisherigen Räume etwas Geistreicheres als das b-flat einziehen wird. Mit Gewissheit aber geht es in 8 Minuten Entfernung, Dircksenstraße 40, eine Treppe runter und für das b-flat weiter. Denn urplötzlich wurde aus der zunächst völlig unfreiwilligen und lästigen Veränderung eine recht schnell mit Elan angenommene Herausforderung. „Wir hatten schon länger darüber nachgedacht, wie wir das musikalische Programm erweitern“, erwähnt Jannis Zotos. „Und jetzt, wo wir in die neuen Räume einziehen, nachdem wir dort ein bisschen umgebaut haben, böte sich idealerweise auch ein kleiner Umbau des b-flat-Programms an. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass in der Dircksenstraße in Zukunft noch anderes zu hören sein wird. Aber man soll nicht über Ideen sprechen, dann wird nichts draus, sondern man soll sie verwirklichen. Dann hat man was zu sagen. Sagen wollen wir ja aber nicht so viel, sondern Musik machen.“

Aufgegeben wird nicht. Im Gegenteil. Jannis Zotos steht vor der Eingangstür zum zukünftigen „Fünf-Griechen-in-der-Hölle“-Paradies – das aber weiterhin b-flat heißt –, schaut zum Himmel und zeigt gleichzeitig da hin, wo es nach unten geht. Als seien die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, zur Abwechslung.

Man kann sich also – noch gestresst von der Arbeitswoche oder weil man umziehen musste oder weil man nicht zuhause hocken will -, steigt man die Stufen zum b-flat hinab, umso mehr sagen: Runterkommen, abtauchen, der hektischen Welt „da oben“ für eine Weile entgehen, ausatmen, getrost denken: „The Thrill is Gone“, sich zurücklehnen in dieser Musikspiel-Hölle und den, der alle Weltgeschicke lenkt, einen guten Mann sein lassen. Hin und wieder wird er wohl zwischen den Gästen sitzen, vergnüglich mit den Schuhspitzen wippen und vielleicht ein Gesicht machen, als hätte er Danny Bensusans Gestalt angenommen. Man wird nie weggehen aus dem b-flat und das Einatmen vergessen haben. Man ist geöffnet für den nächsten Tag.

Die Welt hat sich ein bisschen verschoben, aber es gilt nach wie vor: Auf in’s b-flat, den Ort, wo Himmel und Hölle sich Guten Abend sagen! Tagsüber blühen die Rosen, nachts die Rosen der Nacht. Der Übermorgen dämmert.

 

12.07.2016

 

KLEIN ENGLAND liegt in Griechenland

Freies Lyrisches Kino für Europa!

 

Teil I – Klein England und KLEIN ENGLAND

Wagen wir uns in’s Kino! Doch was ist schneller: Der Film oder das Feuer? Die Kunst oder die Wut auf Europa, die vor Filmtheatern nicht haltmacht? Tatsache ist: In Athen wurde während der Straßenkämpfe 2012 das legendäre “Attikon” angezündet und brannte ab. Molotow- statt Kino-Cocktails. Die zornige Reaktion auf eine für immer mehr Bürger tödliche europäische Realität. Vor wenigen Tagen nahm ein 19-Jähriger im “Kinopolis” des südhessischen Viernheim mehrere Menschen als Geiseln und drohte, einem Mitarbeiter eine Kugel in den Kopf zu jagen. Schließlich feuerte er mehrere Male in dieses “Kinopolis”, woraufhin die Polizei ihn erschoss. Das weckt Ängste vor dem Gang in’s Filmtheater. Oder anders gesagt: Der Gang in’s Filmtheater erfordert Mut. Es müsste an dem nicht sein. Im Kino zu sitzen, nur behelligt vom Geschehen auf der Leinwand, bei freiem Eintritt für jeden Film aus Schweden, Ungarn, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Luxemburg, Holland usw. – zu solch gemeinschaftsbildenden Zuständen auf Erden hätte der Euroraum es bringen können. Der Film “KLEIN ENGLAND” von Pantelis Voulgaris stünde mit auf dem Programm.

Statt des Zirkus um BrexitSchottexitGrexitNiederlexitFrankrexitStotterexit wäre mehr gewonnen, würde ganz Europa seit Jahren seine Zeit damit zubringen können, sich das Filmschaffen ganz Europas reinziehen. Jeder dazuverdiente Euro wird sowieso stets doppelt wieder verloren. Nur für die Kunst verplempert – da würde er nicht verloren sein. Es ist einzig die seltsame, unfassbare, unfindbare Seele, die unermesslich zu profitieren vermag: Von Musik, Bildern, Film, Lyrik und jeglicher Lyrik im Film. Die gibt es im Überfluss und sie mehret sich ohne Unterlass. Alles andere … Fauler Zauber! Kino dagegen kann eine Option sein, wenn’s darauf ankommt, den Blick für einen weiteren Weg zu öffnen, wo kein wirklicher sich mehr zu eröffnen scheint.

Unerwartet vor Kurzem ein Anzeichen. Im europeonline-magazin.eu-Pressespiegel vom 27.6.2016 ist unter GRIECHENLAND zu lesen: «Kathimerini»: «Die Stärke Europas ist die Einheit. Alles andere (wie der Brexit) sind Fantasien eines Fieberwahns. Das «Klein-England» wird – besonders wenn Schottland gehen würde – außerhalb Europas viel weniger Einfluss auf das Weltgeschehen haben. Aber auch für Europa ist der Schlag enorm. ……. »

Dass die griechische „Kathimerini“ a) „Klein England“ erwähnt, spricht für die Weitsichtigkeit dieser Zeitung und ihr Inspiriertsein durch Film. Immerhin. Wobei sie a) allerdings durch b) sofort wieder unerkennbar macht. Die „Kathimerini“ verbirgt a) unter b), indem sie die Dimension ihrer a)-Aussage (mit der sie auf die Welt des Filmschaffens Bezug nimmt!), durch b) unmittelbar verschwinden macht. Im selben Atemzug, wie sie a) „Klein England“ vor dem ersten Gedankenstrich nennt, behauptet sie b) nach dem zweiten Gedankenstrich sogleich, „Klein England“ würde außerhalb Europas wenig Einfluss auf das Weltgeschehen haben. Aus der EU auszutreten, bedeutet aber doch nicht, weg zu sein aus Europa. „Klein England“ zu schreiben, das bedeutet, sich auf den griechischen Film „KLEIN ENGLAND – MIKRA ANGLIA – LITTLE ENGLAND“ zu beziehen und damit geradewegs in’s Kino zu wagen, sich aufzumachen zu Orsa und Mosha und einem gewaltigen Meeresrauschen, das die Insel bespielt.

Wer „Klein England“ schreibt, sollte es deshalb „KLEIN ENGLAND“ schreiben, und schon wäre man bei den „Frauen von Andros“ und allen Überlebenskünsten. Stattdessen rückt die „Kathimerini“ „Klein England“ erst entschlussfreudig wie eine Signalfahne in’s Blickfeld und damit zugleich „KLEIN ENGLAND“, also Filmkunst in’s Bewusstsein; mutig geht die Zeitung einen Schritt vor, diesen aber – wie erschrocken vor der eigenen Courage oder als hätte sie sich an was verbrannt – sofort wieder zurück, indem sie jetzt nicht tatsächlich den Weiterschritt in die Welt des Films macht und sich in dieser fortbewegt, sondern dann doch lieber brav beim Thema „Brexit“ bleibt. KLEIN ENGLAND – nur eine leise Andeutung im „Klein England“. Es wird somit dummerweise wieder verunklart, wodurch Europa in seiner jetzigen Aufgewühltheit unter anderem Hilfe finden könnte, Wegweisung, Rettung. Im Filmtheater!

Ich borge mir kurzfristig ein Wort aus der Mail einer Freundin, die einen Umzug ankündigte und zugleich informierte, wo ihr Arbeitsort demnächst zu suchen ist, was allerpraktischste Orientierungshilfe bedeutet. Für jetzt und später. Danke, Sasha, für deine „Heilraum“-Wortgabe!, an der ich mich jetzt bediene.

Der Film „KLEIN ENGLAND“ ist vieles und eben auch ein europäischer Heilraum. Das Filmfestival HELLAS FILMBOX BERLIN holte ihn deshalb bereits im Januar nach Deutschland. Der griechische Regisseur Pantelis Voulgaris schuf das Werk, die griechische Autorin Ioanna Karystiani schrieb den Roman, auf dem das Drehbuch basiert (in Deutschland erschienen unter dem Titel „Die Frauen von Andros“). Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass Pantelis Voulgaris zu den bedeutendsten Filmemachern seines Landes gehört, der in’s Leben mehr als nur zwei Blicke geworfen hat und zu sehen versteht. „KLEIN ENGLAND“ und Voulgaris’ vorletzter Film, „PSYCHI VATHIA – TIEFE SEELE“ (2009), sind zwei von mehreren Offenbarungen für alle, die sich fragen, wie „die Situation“ am Ort Griechenland, am Ort Europa, am Ort Welt zu verstehen sei, denn eins strahlt hinüber in’s andere und kann es mitbeleuchten. „PSYCHI VATHIA – TIEFE SEELE“ bietet eine bisher weitgehend ungenutzte Möglichkeit, z.B. Griechenland in’s zerrissene Herz zu schauen. Es bedürfte dazu lediglich der Untertitelung in die jeweils andere Sprache, der Bereitschaft von Filmtheatern, eventuell eines Filmverleihers und der Unterstützung einiger Unermüdlicher, dass Menschen in allen Ländern Europas etwas über Griechenlands jüngere Geschichte erfahren könnten, in welcher der griechische Bürgerkrieg ein fast unbekanntes Kapitel bedeutet. Ohne davon Kenntnis zu haben, wird man Griechenland immer durch die falsche Brille sehen. Das betrifft nicht nur Griechenland.

Bürgerkriege, überall auf der Welt, stellen Schlüssel- und Ausgangssituationen dar, die betrachtet werden können, wenn es um das Verständnis von Konflikten geht, die Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg ausgetragen werden und scheinbar dann an der Tagesordnung sind. Der Bürgerkrieg ist der schrecklichste Halbbruder des Kriegs. „Dreh dich nicht um!“, diese Devise gilt für den Lebenden im Reich der Toten; im Reich der Lebenden gilt für den Lebenden eher das Gegenteil. Insofern ist alles „Warum länger in der Vergangenheit wühlen, lasst uns lieber nach vorn schauen!“ ein vergeblicher Versuch, Zeit gewinnen und handlungsfähig bleiben zu wollen. Vorn wartet wieder nur der behelmte Mars auf, schlägt sich gegen den Brustpanzer, streckt sich zum Himmel, schickt Drohung, Drohnen und Verderben. Wer davon nicht erwischt werden will, muss vorsorglich vorher sterben, zwischen zwei Kriegen (in der Zeitlücke, in welcher der Dichter Jannis Ritsos einmal Atem holen wollte, weshalb er einen anderen Gott um diesen Moment der Gnade bat).

Bürgerkriegskonflikte schwelen weiter, zugedeckt wie Glut von Asche. Die Glut von Bürgerkriegen mag an den Plätzen zerstörter Häuser verlöschen, sie verlischt aber nicht in verletzten Seelen. Es gibt nicht den Ausschlag, dass Völker Feinde von Völkern sind, Parteien Feinde von Parteien, Bevölkerungsgruppen Feinde anderer Bevölkerungsgruppen, sondern dass der Mensch des Menschen Feind ist, solange er dessen Freund nicht wird, weil er ihn z.B. nicht riechen kann oder dessen Stimmlage, Hautfarbe, Gewohnheiten, Angewohnheiten oder Mentalität hasst. Viele Einzelne zusammen machen den sich dann im Hass einigenden Mobb aus, das Mobb-Kollektiv, das Mobb-Heer, das einen Feind in’s Auge fassen und zu vertreiben oder auszulöschen sucht. Die Wut-Glut löscht das nimmer. Das Buch von der „Unfähigkeit zu trauern“ ist geschrieben. Das Buch von der „Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen“ noch nicht. Was ist schneller: das Feuer oder die Kunst?

Wer beispielsweise Griechenland verstehen will, wie es jetzt ist, kann einiges erfahren durch „TIEFE SEELE“ von Pantelis Voulgaris, kann „Griechenland und die Griechen“ zu sehen versuchen, wie durch andere Filme möglicherweise Spanien, Irland und Portugal, in denen Bürgerkriege ausbrachen, die zu dem gehören, was Europa nicht loswerden kann. Nie und nimmer durch Geld. Immer durch Musik, Bilder, Lyrik … Film. Ich träume weiter, denn Europa ist nichts anderes als das Träumen von Europa. Entweder ein es erscheint als Alptraum oder als lyrisches Tagträumen. Nur als zweckfreie, nicht zuende zu denkende, unerschöpfliche Realität ist Europa Wirklichkeit. Man kann sie weder kaufen noch bezahlen. Ein überschäriges Europafeld zu den Gärten der Welt! Chancen für ein lyrisches, musikalisches, bilderreiches Träumen gibt es zahlreiche.

 

Teil II – LYRIK-ÜBERSETZER ALS VERHANDLER!

Im Verständnis für die Geschichte eines jeden Landes liegt jeweils eine solche Chance. Sich dem riesigen und in sich nicht einheitlichen Europa nähern, es durch die Werke europäischer Filmschaffender betrachten, ihre Aussagen zur Kenntnis nehmen, ihnen Fragen stellen zu wollen – auch das ist eine Möglichkeit. Bleibt noch genügend Zeit? Jawohl! Der Gang in’s Kino gleicht dem Einstieg in eine Zeitgewinnmaschine, wodurch man schneller wird, bequem zurückgelehnt und ohne Abgass-Skandal. Das ganze Leben und einige weitere bräuchte man, um Europa, um alle Länder „durchzugehen“, zuvörderst mit Hilfe von Musik, von Bildern, verschiedenen Sprachen und während etlicher Versuche, eine Sprache in die andere zu übersetzen. Ein weiteres Leben gewinnt man und noch andere dazu. Was kein Geld vermag – sich ein Land zu eigen zu machen –, das vermag der Mensch durch das Erlernen der dort gesprochenen Sprachen.

Ich schlage deshalb vor: Lyrik-Übersetzer in’s Diplomatische Korps eines jeden Landes! Lyrik-Übersetzer in’s Europa-Parlament, in die Finanzämter, in den IWF, in die Europäische Zentralbank“ – und global am besten auch in die NATO, in die UNO, in die Klima-Gipfelkonferenzen, in die FIFA …! Unzählige Institutionen gibt es, in denen Lyrik-Übersetzer die idealen Verhandler wären aufgrund ihrer tätigkeitsimmanenten Bedachtsamkeit, ihrer Fähigkeit des Abwägens, mit ihrem Blick für Angemessenheit und Verhältnismäßigkeiten im Umgang mit dem Wort, mit ihrem Rhythmusgefühl, ihrem Gespür für situationsbedingte Schwierigkeiten und vor allem mit ihrem Wissen um die ganz persönliche eigene Unzulänglichkeit und die darauf fußende selbstverordnete Bodenhaftung. Lyrik-Übersetzer an die Seite von Staatsoberhäuptern, von Troiken, Nachrichtendiensten, Weltraumbehörden und an die Stirnseite von Aufsichtsratstischen, in die Obersten Gerichtshöfe und Nationalen Verteidigungsräte! Lyrik-Übersetzer sind unbestechlich, weltweit. Sie arbeiten niemals um eines eigenen Vorteils willen, sondern immer einzig und allein FÜR Verständigung. Sie haben es aufzunehmen mit jedem Laut, mit jedem winzigen Satzzeichen, mit Gedanken- und Bindstrichen, mit jedem Punkt und Komma, mit jeder Pause und Lücke. Wirkmächtig jedes Einzelne, ob klein oder groß, lang oder kurz. Fügst du mehr hinzu oder weniger – immer geht es um einen ganzen Atem, um ein ganzes Leben, um alles. Und alles hängt davon ab. Eher verabschieden Übersetzer eine Verordnung nicht, als dass sie sie verabschieden würden, wenn sich darin zwar eine Lyrik fände, diese jedoch allzu leicht durchschaubaren Unsinn enthielte, der zur Vertodung von leibhaftigen Menschen führen könnte. Denn dadurch verschwänden die Leser der Texte. Übersetzer können sich keinen leichtfertigen Umgang mit dem Wort leisten, denn sonst kommen sie nicht in den Übersetzer-Himmel, sondern auf das Fährboot, das ihnen niemals gestatten wird, sich frei zu machen von ihrer Mühsal, indem sie einem anderen die Stange in die Hand drücken.

Warum schreibe ich dann nicht einen Text zum Thema „Übersetzung“? – diese Frage mag sich stellen. Weil dafür jetzt keine Zeit ist. Der Brexit sitzt Europa ja fast schon im Nacken. Und wenn der tatsächlich passiert ist, was dann? Quo vadis, Europa? Ich kürze also ab und nehme die Kurve zurück zum Film.

 

Teil III – EUROPA FÄNGT MANCHMAL IN GRIECHENLAND AN

Film ist Übersetzung von Text in Bild. Warum ich selbst keinen Film mache, wurde ich schon ein paarmal gefragt. Antwort: Weil ich keine bildliche Vorstellungsgabe habe im Hinblick auf einen ganzen Film. Deshalb wäre ich dafür nicht die geeignete „Übersetzerin“. Regisseure haben diese ausreichend große Vorstellungsgabe, die meist nicht nur für einen, sondern für noch mehr Filme langt. Und damit bin ich wieder bei „KLEIN ENGLAND“ von Pantelis Voulgaris. In 120 Minuten macht Pantelis Voulgaris ein Panorama-Fenster auf. In diesem Ausschnitt sehen wir nicht nur die Insel Andros, die den Namen „Klein England“ bekam, oder das Schiff, das auf den Namen „Klein England“ getauft wurde, sondern wir sehen Klein Orsa und Klein Mosha, Klein Mina, Klein Spyros, Klein Nikos, Klein Ämilios, Klein Savas und auch den geliebten und schließlich unerwünschten „Klein-England“-Englisch-Lehrer. Vom Kleinsten bis zum Großen … jeder spielt seinen gewichtigen Part in diesem Drama, bei dem man Schwierigkeiten hat, für sich zu entscheiden, zwischen wem das Drama im Grunde sich entspinnt, wer letztendlich die Verantwortung dafür hat oder was das eigentliche Problem ist. Ist es die Seefahrt oder ist es der Krieg? Sind es die Amerikaner, die das Ausfahren der Schiffe verboten haben, oder sind es die, die Torpedos abschießen? Sind es die Frauen oder sind es die Männer? Sind es die Lieder oder die Texte? Ist es die Mutter oder der Vater? Ist es Spyros oder ist es Orsa? Sind es die Briefe oder ist es das Schweigen? Sind es die Regeln oder sind es die Ausnahmen? Ist es die Schwester, die eine oder die andere? Ist es Süd oder Nord? Ost oder West?

In „KLEIN ENGLAND“ lässt Pantelis Voulgaris es so sein: Die eine Schwester beneidet die andere, die eine vertraut sich der anderen an, die eine schwärmt der anderen vor, die eine entsetzt die andere, die eine hasst die andere, die eine entfernt sich der anderen, die eine Schwester kommt zur anderen. „Was hätten wir getan, wenn …“, fragt Mosha und hält Orsa im Arm. Dann ist Mai, Mosha öffnet das Fenster, Blumen über Blumen, Licht, im Schatten des Zimmers fällt der einst vom Meereswasser angefressene Löffel aus Orsas Hand, und endlich ist ihre Seele frei. Zum Schluss das Meer.

Das Meer und immer wieder das Meer. In vielen griechischen Filmen. In vielen europäischen Filmen. Es schlägt an die Ufer vieler Länder. Ganz Europa ist nichts als eine Pirateninsel, umschlossen von Meeren. „KLEIN ENGLAND“ erzählt davon. Dieser Film – nichts anderes als ein „kleines Beispiel“ für die Übersetzung eines Schicksals in ein anderes. Er spiegelt Europas Schicksal während des Zweiten Weltkriegs und danach. Er spiegelt das Schicksal, das sich zwischen Mosha und Orsa gestellt hatte. Mag es Spyros heißen, mag es Mina, Nikos, Ämilios heißen oder „Andros – Klein England“. Es ist nicht das Wasser, es ist nicht das Land. Es ist das verdammte Wort zu viel oder zu wenig, das Übersetzer erspüren müssen. Das verdammte Wort des Wollens zu viel, das verdammte Wort des Könnens zu wenig.

HELLAS FILMBOX BERLIN ist einer dieser Anfänge von Weiter-Europa, der Ort für KLEIN ENGLAND wie für KLEIN EUROPA, KLEIN WELTCHEN. Eine Insel, wie es viele gibt. Eine jede könnte besucht und von jeder ausgegangen werden, um nach Europa zu kommen. Das Kino führt es vor. Über vielen Kinotüren steht EXIT und trotzdem kann man bleiben … beim Film.

Die Organisation des 1. HELLAS FILMBOX BERLIN Festivals beruhte nicht vor allem auf einer ausgezeichneten Kenntnis von Film und organisatorisch hochprofessionell aufgebauten Strukturen. Das eher weniger. HELLAS FILMBOX BERLIN beruhte auf „Übersetzungs“-Arbeit für Sprachen von Filmen, Ländern, Dichtern, Programmierungen, Bildern, Emotionen. Einmal ist das gelungen. Wie man weiß, oft gelingt das nicht. „KLEIN ENGLAND“ lief als Eröffnungsfilm dieses Festivals. Ein ausgezeichnet guter Anfang, Europas Weiterweg vor Augen zu haben in diesen kurzen Augenblicken: Orsa, die ihre Tür für Mosha öffnet; Mosha, am Fenster im Licht, die ihren Blick für Orsa öffnet und sich umschaut nach ihr, die im Halbschatten blieb. Kino ist eine europäische Schule des Sehens und Verstehens: Man hat genügend Abstand zum Geschehen und zugleich ist man mittendrin.

Besser diese Cine-Vision als gar keine. Zumal vor der Einführung des Euro die gesamteuropäische Einführung kostenloser Kinokarten hätte stattgefunden haben können, den Menschen eines jeden europäischen Landes jederzeit den Besuch von Filmen aus anderen europäischen Ländern ermöglichend. Es wär auf den Versuch angekommen. Etwas anderes als ein Versuch war der Euro ja auch nicht. Der Versuch mit den gesamteuropäischen kostenlosen Kinokarten wäre im Hinblick auf den europäischen Einigungsprozess allerdings wohl erfolgreicher gewesen. Und viele Übersetzer hätten in ganz Europa mit ihren Vermittlungstalenten Wunder wirken können. Kino- statt Molotow-Cocktails! Freien Eintritt in’s Europäische Kino und Lyriker an die Verteilerkästen! Jetzt!

 

30.06.2016