Der für den 24. Juni anstehende Johannistag folgt auf die Sommersonnenwende am 21. Juni. Zwischen Sommersonnenwende und Johanni mit Johannesfeuern, Sonnenfeuern wird Europa die Entscheidung über Brexit ja oder Brexit nein wohl mehr beschäftigen. Wende ja oder nein. Den einzelnen Europäer interessiert vielleicht in diesen Tagen, ob es regnet oder nicht, ob die Schafskälte endlich vorbei ist, Glühwürmchen fliegen, auch Johannisbeeren auf dem Markt sind, ob beim Fußball ein Tor fällt oder nicht, ob man den Erdbeermond, Junimond nicht verpasst, ob man zuhause sein muss oder nicht, besser geblieben wäre oder nicht, ob man richtig angezogen ist oder falsch, ob bei Gewitter ins Wasser gegangen wird oder auf gar keinen Fall und was man bei Gewitter macht in einem Boot. Was kauft man sich jetzt für die Überfahrt und den Weltuntergang? Das Projekt Wohnung, Location, Zuhause hängt in der Luft, Bilder noch an Nägeln, Leben am seidenen Faden. Was könnte man noch gebrauchen? Wo ist was schief gewickelt und noch gerade zu rücken? Wer hat gerufen? The answer my friend …
Viele Schuldhaber machen sich einfach ständig schuldig. Zwar gab es schon immer welche – Nachbarn, Verwandte, Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden z.B., Immobilienbesitzer, Lehrer –, aber 2010 wurden es ruckartig mehr. Seitdem kein Ende abzusehen. „Wo endet das?“, fragte deshalb gestern jemand. Man könnte erstmal sagen: Im Niemandsland, damit überhaupt eine Antwort da ist. Wie wenn man dem Hund was hinschmeißen muss, damit er reflexartig zunächst danach schnappt.
Vor Kurzem noch konnte man in Deutschland täglich erfahren, dass Griechenland und speziell die Griechen die ganze Euro-Zone in Gefahr brächten. Schulden haben und schuld sind. Pools bauen bis zum Abwinken, und der deutsche Steuerzahler soll dafür blechen. Bis zum Juli 2015 wurde das kaum relativiert. Politik und Medien rechneten und erzählten es immer wieder vor, wie unberechenbar, unverschämt, gefährlich die Griechen Nichtgriechen werden können. Ein Mann sagte am Potsdamer Platz in eine Kamera, man müsse den Griechen die Pistole auf die Brust setzen. Und kurz darauf verkündete der Politiker Thomas Strobl: „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“ Als wäre ein Knopf nicht mehr gedrückt worden, reduzierten sich von da an die Schlagzeilen zu Griechenland massiv oder waren ganz und gar verschwunden. Oder wurden ersetzt durch Schlagzeilen zu den so genannten Flüchtlingen.
Während das Wort „Griechen“ eher an „kriechen“ und „Kriechtiere“ erinnert, kann einem beim Wort „Flüchtling“ eher „Schmetterling“ in den Sinn kommen. Und „Flüchtiges“. Gedanken sind flüchtig, Gesten, Gase, Geruch, Pferde sind Flüchter und werden gezüchtet. Schnell verfliegt etwas und löst sich auf. In Wolken oder Schwärmen zieht es davon. Schwerelos. Ganz leicht und lautlos. Eine Weile ist es da, dann nicht mehr. Es muss vielleicht nur gelüftet werden. Möglicherweise helfen Fön oder Heizlüfter oder ein Gebläse. Pegasus hat Flügel. Der schafft es von allein. Von Griechenland hört man kaum noch was, von Griechen eigentlich auch nicht. Wahrscheinlich haben die sich erledigt. Einen Augenblick war es fast ruhig geworden. In Berlin ließ Innensenator Henkel ein Camp am Oranienplatz räumen. Asyl wurde gefordert. Irgendwas wird immer gewollt, ausgelöst, verschuldet. Dafür braucht es eine Lösung oder Verflüchtigung.
Inzwischen werden in Europa viele einzelne Schuldhaber gefunden von sich dazu berufen fühlenden Schuldigensuchern, die Schuldhaber abstrafen, weil der Staat versage, die Regierung. Einer muss es ja tun. In den Medien ist nun täglich davon zu erfahren, dass Hass zu Worten, Worte zu Hass, Hass zu Gewalttaten führen. 2016 ist das plötzlich ganz offensichtlich.
Es bedurfte nicht erst einer energetischen Wirkung der Sommersonnenwende und des vorausgehenden Erdbeermondes, einbezüglich des Leuchtens riesiger Zahlen von Glühwürmchen, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, sondern die Erkenntnis setzte auch bei vielen Journalisten, bei Regierenden und Schlichtwegmenschen schon etwas früher ein. Allerdings noch nicht 2010 oder 2011, 2012, 2013, 2014. Da waren Worte noch Worte oder auch einfach nur Wörter. „Gefahr“, „Pleite“, „Betrüger“, „Niedergang“, „Sauvolk“, „Mentalität“. Ohne weiteres ließen sich diese Wörter immer und immer wiederholen. Als seien Wörter hauptsächlich dazu da. Vermutlich gewannen sie mit der Zeit Gewichtigkeit, reiften, gewannen Gewicht, Schwere, nicht nur auf Zungen, sondern auch als Lasten, die immer größer wurden, erdrückender. Wann würde man sich endlich davon befreien können?
Schon bald hatte man nicht mehr nur eine Krise oder zwei, drei, sondern mehr. Da durfte man schon nach Verursachern fragen. Nach Schuldigen. Denn es gilt den Schuldhaber zu finden. Ist das gelungen, wird alles wieder gut. Das weiß man, seit erkannt worden war, dass es auch mal an Iphigenie lag. Sie war schuld. Dass der Wind nicht wehte. Die Widrigkeiten sich nicht auflösten, verflüchtigten. Die Schiffe nicht ausfahren konnten. Schuld – das ist eine zweckmäßige Sache. Damit lässt sich was anfangen. Hat man erst herausgefunden, dass welche da ist, muss nur noch gewusst werden, wo sie sich anhäuft oder von wem sie angehäuft wird. Dann kann man sie dingfest machen und aus der Welt schaffen.
Und wer stellt professionell Fragen danach und findet die Antworten? Journalisten. Medien kommen ihrer Informationspflicht nach, ganz einfach. Wer sonst? Journalisten und Berichterstatter sind dazu da. Das ist deren Beruf. Die werden dafür bezahlt. Andere müssen mit anderer Arbeit ihr Geld verdienen. Die haben keine Zeit zu recherchieren, Artikel zu schreiben und Fernsehbeiträge zu machen für die Gesamtbevölkerung. Wann sollten ein Straßenbahnfahrer oder ein Elektriker, Bäcker, ein Galerist oder eine Kitaerzieherin, eine Arzt, ein Geologe, ein Erdbeermond-Erforscher, ein Zootierpfleger, ein Professor für Astrophysik, ein Versicherungsfachmann das schaffen? Sie haben bereits genug damit zu tun, Artikel zu lesen und sich über das Fernsehen zu informieren, wenn ihnen die Zeit dafür reicht.
Also: Journalisten, an die Arbeit! Berichte werden gebraucht. Aufklärung. Details. Informationen. „Wie konnte es dazu kommen?“ Der „Focus“ hatte Antworten, hatte eine Aphrodite mit Stinkefinger auf die Titelseite der Ausgabe vom 22. Februar 2010 geklatscht, eine entsprechende Schlagzeile dazu („Betrüger in der Euro-Familie – Bringt uns GRIECHENLAND um unser Geld – und was ist mit Spanien, Portugal, Italien?“) und drei passende Artikel ins Heft: „2000 Jahre Niedergang“, „Gefährlich für die Weltwirtschaft“, „Die Griechenland-Pleite“. Verallgemeinerungen und Stigmatisierungen im Hinblick auf Griechenland und die Griechen folgten daraufhin Tag für Tag. An wie vielen Fingern waren die Stimmen abzuzählen, die in den Medien sich bemerkbar gemacht und Einhalt gefordert hätten? An den so genannten Stammtischen, querbeet durch alle Bevölkerungsschichten? In Regierungskreisen?
Fünf Jahre später. Im Juli 2015 stand auf dem „Focus“-Titel: „KEINEN CENT MEHR! – Wie Griechenland sich selbst, Europa und die Welt in Gefahr bringt“. Inzwischen stöhnte Deutschland unter den Griechen, den Lasten, allen Belastungen und Unwägbarkeiten und dem Wissen darüber, dass diese Qual offenbar kein Ende nehmen würde, weil die Verschuldung Griechenlands kein Ende zu nehmen versprach, sondern eher noch größer zu werden drohte und somit auch diese Schuld, Europa das eingebrockt zu haben. Die da, ganz unten an diesem Europa dran, so weit seitlich unten, dass man sich fragen konnte, ob die überhaupt zu Europa gehören. Man konnte es auch so sehen: Nein, die gehören nicht dazu, die können eigentlich weg. Grexit. Wär nicht so schlimm. Brexit ist schlimmer. Vielleicht weil das Wort mit „B“ statt mit „G“ beginnt. Manchmal ist das so in der Welt der Worte und des Lautwertes von Buchstaben.
Michael Klonovsky, der Verfasser des „Focus“-Beitrags „2000 Jahre Niedergang“ (2010) ist nicht mehr beim „Focus“, sondern seit Kurzem – wie er sich selbst bezeichnete – Spin Doctor, publizistischer Berater von Frauke Petry (AfD-Chefin). Und er tat kund: „Anders als ich in meiner Philippika behauptet habe, sind die Griechen nämlich das seriöseste, kulturell, wirtschaftlich und kulinarisch fortgeschrittenste Volk Europas, und fast alle Hellenen stammen in direkter Linie von Solon oder Perikles ab.“ Man höre und staune. Michael Klonovsky kann noch ganz anders. 2010 war er jung und hatte womöglich das Geld nötig. Dazu gesellte sich Erfahrung. Auch ein Einzelner kann was ausrichten.
Das erfährt man jetzt immer öfter. Worte können Waffen werden … Es brauchte seit 2010 bis zu dieser Erkenntnis, die nun da ist, nachdem die Worte bereits Waffen geworden waren, niedergestochen, geschossen und geprügelt wird, ins Gesicht gespuckt, Hand angelegt. „Wie konnte es soweit kommen?“, das findet man kaum noch formuliert, denn wer kann und will sich jetzt bei dieser Frage aufhalten, wo die Zeit drängt, wo jeden Moment die letzte Stunde geschlagen haben könnte, wo bereits klar ist, dass es soweit ist und längst über den Punkt hinaus, das überhaupt erstmal feststellen zu können. Auch mit dem „Wo endet das?“ ist sich schlecht zu beschäftigen, da kaum eine Antwort gefunden werden kann auf das „Wozu muss man das wissen?“. Im Niemandsland unter dem Erdbeermond hilft einem das kein Stück weiter.
Inzwischen sind Erklärungen da, ist gelernt worden – nicht nur von Michael Klonovsky, sondern hunderttausendfach: Gefahr kommt. Von außen. Sie reichert sich an, sättigt die Luft, die hier geatmet wird, verleibt sich Menschen hier ein. Und kommt alsbald von innen. Das merkt man dann, das wird irgendwann mal deutlich spürbar. Journalisten allerdings sind etwas schneller, vorinformiert, so dass sie die Menschen vorbereiten und einstimmen können, damit die sich nicht wundern, durcheinanderkommen und nachher gar nicht mehr wissen, wo es langgeht. Man könnte sagen: Von Journalisten lernen, heißt Siegen lernen, den kürzesten Weg einschlagen, wenn die Zeit drängt und Luft und Land knapp werden, womöglich.
Seit etwa einem Jahr sind die Flüchtlinge Schuldhaber, meist, und nach wie vor die Griechen, aber auch Politiker, die Medien, Hooligans, Gläubige, Paranoide, Parteien, die Reichen und die Armen, die Mittelschicht, die Über- und die Untergewichtigen, die Geborenen und die Ungeborenen, Sterbliche, Unsterbliche.
Schon allein die Flüchtlinge würden genügen, um viele Schuldhaber zu haben, die gefunden werden können. Momentan bieten sie sich etwas mehr an als die Griechen. Sie fallen stärker auf. Sie bleiben nicht einfach in ihren Ländern und verrecken da, sondern sie tragen ihre Gesichter hierher und schauen Menschen an aus ihren Augen. Das ist der Böse Blick. Viele viele Male der Böse Blick. Es heißt z.B.: „Die EU-Grenzschutzagentur Frontex rechnet in diesem Jahr mit 300.000 Flüchtlingen.“ 65 Millionen Flüchtlinge gebe es auf Erden insgesamt. Auch ist zu erfahren: „Deutschland verzeichnete bereits Anfang Dezember offiziell eine Million Flüchtlinge in diesem Jahr.“ Es könnte einem unheimlich werden. Aber wer nicht aufgehört hat, Gedichte zu lesen, dem wird vielleicht das Herz weit, denn Gedichte wirken Wunder gegen den Bösen Blick und geben ein unbegrenztes Raumgefühl, dem Niemandsland einen Namen, einen Platz.
Die kürzeste Nacht des Jahres naht. Dazu hat’s einen vollen Mond. Erdbeermond, Junimond. Der macht die kürzeste Nacht hell. Boote schaukeln, Boote kentern, Boote sinken, Boote landen.
Heute, am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, erinnerte ich mich an Konstantinos Kavafis’ Gedicht „Warten auf die Barbaren“. Es beginnt mit:
„Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?
Auf die Barbaren, die heute kommen.“
Und das Gedicht endet so:
„Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?
(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren
Sich die Straßen und Plätze so schnell, und
Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?
Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht
Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen
Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.
Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun?
Diese Menschen waren immerhin eine Lösung.“
Wer Gedichte liest, hat viele Länder.
Wer zu denen gehören möchte, die viele Länder haben, der könnte das ganze Gedicht lesen. Johannes, der Täufer, hat seinen Tag und seine Nacht. Einen Erdbeermond gibt es nur alle 70 Jahre. Gedichte immer. Jeden Menschen nur einmal. Die Erdbeere kam aus Übersee. Sie war immerhin eine Lösung. Sie könnte überhaupt schuld sein.
© Ina Kutulas, 20.6.2016