Mit Schallverstärker und Lebenswasser

20.15 Uhr. Sonne.

Ich veröffentliche heute Abend die Übersetzung dieses zutiefst berührenden Texts von Petros Argiriou. Die Sonne scheint. Sommer. Petros Argiriou schreibt über seine Mutter, die sich vor wenigen Tagen das Leben genommen hat.

Ich kann mit dieser Veröffentlichung nicht warten. Es ist keine Zeit. Seit mehr als drei Jahren nimmt sich jeden Tag in Griechenland ein Mensch das Leben. Auf die eine oder andere Weise. An manchen Tagen sind es zwei Menschen. In einem Land, das die niedrigste Selbstmordrate in Europa hatte, bis sich die Verhältnisse so rasend schnell und so katastrophal änderten, dass vielen Menschen keine Möglichkeit mehr blieb, der brutalen Realität genügend Lebenskraft entgegen zu setzen. Genügend Lebenskraft – das wäre ein letzter Funke Hoffnung. Und weiterhin muss es heißen: keine Möglichkeit mehr bleibt.

„Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.“

Während ich nachts an der Übersetzung arbeitete, bewegte sich auf der Internetseite, auf der Petros Argirious Text zu lesen ist, unaufhörlich der Zähler, der Auskunft darüber gab, wie viele Menschen diese Seite besucht hatten. Als ich meine Arbeit beendet hatte, stand der Zähler still. Er zeigte 99999. Und er bewegte sich nur deshalb nicht so rasend schnell weiter, weil es das sechste Feld noch nicht gab, das für die Hunderttausender-Position vorgesehen war. Während ich mich auf die Übersetzung konzentriert hatte, hatten tausende Leser diese Internetseite besucht und von Warwara Argirious Tod erfahren. Tausende Menschen, Zehntausende. Ein stiller Hinweis darauf, wie viele Menschen in Griechenland auf die eine oder andere Weise betroffen sind von Selbstmordfällen, von Suiziden im Familien-, Freundes-, Bekanntenkreis.
Es empört mich zutiefst, dass der deutsche Außenminister während seines Treffens vor einer Woche mit Herrn Samaras und Herrn Venizelos in Athen imstande war, in die Fernsehkameras zu sagen: „Wenn Sie diesen Reformkurs durchhalten, wird das die Geburtsstunde eines neuen Aufschwungs sein.“
(http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-westerwelle-mahnt-athen-zum-sparen-a-909368.html)

Wie kann man diesen Satz über die Lippen bringen angesichts so vieler Selbstmorde? In einer Situation, die sich Tausenden Menschen nicht anders als eine vollkommen aussichtslose zeigt, redet Herr Westerwelle von „durchhalten“. Mache er es einmal vor, um aus Erfahrung zu sprechen. Gehe er da hin, wohin sich Günter Wallraff einst begeben hat: nach „ganz unten“. Halte Herr Westerwelle mit denen, die nicht weiter wissen, nur einmal ein Vierteljahr aus. Manche mögen sagen: drei Wochen genügen schon. Aber ich würde vorschlagen: drei Monate. Ohne Klimaanlage. Am besten, Herr Westerwelle beginnt gleich jetzt damit. Im Juli, August, September lässt sich hervorragend darüber reflektieren, ob es angemessen ist, von „durchhalten“ zu sprechen. Im November, Dezember, Januar abermals.
Dieser Reformkurs führt dazu, dass sich in Griechenland seit mehr als drei Jahren Hunderte Menschen das Leben genommen haben. Dieser Reformkurs wäre als erfolgreich zu bezeichnen, wenn die Menschen weiterleben würden. Wenn kein einziger sich mehr umbringen würde wegen der Folgen dieses mörderischen Reformkurses.
Wenn Menschen sterben, dann ist dieser Reformkurs falsch. Er ist unverantwortlich. Er ist lebensfeindlich. Er ist erwiesenermaßen tödlich. Er hat bereits viele hundert Menschenleben gekostet, und er nimmt denjenigen einen Teil des Lebens, die diese Menschen liebten. Er macht die Menschen fertig. Wie kann Herr Westerwelle sich hinstellen und sagen?
Dieser Reformkurs tötet uns alle, auf die eine oder andere Weise. Das ist die nicht ausgesprochene, bittere Wahrheit, enthalten in der Aussage: „die Deutschen stünden „an der Seite Griechenlands“. Man sehe sich in einer „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“.“ Seit Monaten scheint mir diese „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ dominiert von destruktiven Kräften, die jeden, der sie nicht schweigend hinnimmt und sich ihnen ergibt, zum Kriminellen erklären. Wenn dieser Reformkurs nicht gestoppt wird, wird die von Herrn Westerwelle vermutete „Geburtsstunde eines neuen Aufschwungs“ eine weitere Todesstunde werden in einem Auflösungsprozess, dem immer mehr Menschen der „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ zum Opfer fallen.
Petros Argiriou fand dafür dieses Bild: „Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes.“
Schweigen und Sprachlosigkeit gestatten uns, mit den Toten zu sein. Sie sind allerdings nicht geeignet, um das bedrohte Leben zu verteidigen gegen diese tödlichen Maßnahmen, diesen Irrsinn, gegen die Schneider, die dem Kaiser mit großen, scharfen Scheren prächtige Gewänder anmessen und denjenigen zu erstechen drohen, der rufen könnte: „Aber er hat ja gar nichts an!“

Ina Kutulas
Freitag, 28. Juni 2013

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Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.
von Petros Argiriou, ihrem Sohn

 

Ich habe die Auflistung derer, die sich wegen der Krise das Leben genommen haben, nicht mehr weitergeführt. Aber ich bin mir absolut sicher: seit gestern steht dort + 1. Ich bin mir dessen absolut sicher, denn dieses + 1, das zur Rechnerei des Todes hinzugekommen ist – das war … meine Mutter.

Ich habe mich von meinen Eltern emotional sehr früh abgenabelt, weil sie das System unterstützt und mich darauf vorbereitet haben, wie das in allen Haushalten zu der Zeit der Fall war. In meinen Augen (denen eines Teenagers), war die emotionale Abnabelung von meinen Eltern ein titanischer Kampf gegen das System, das ich von kleinauf als deformiert und korrupt wahrgenommen hatte, ohne dass irgendwelche giftzüngigen politischen Kräfte mich hätten erst noch indoktrinieren und dazu erziehen müssen, gegen dieses System zu sein.

Natürlich, im gleichen Maße, wie ich recht hatte, hatte ich auch unrecht. Denn meine Eltern waren, wie Millionen andere Eltern auch, einfache und gutgläubige Menschen, sie waren gefangen in der Kredit-Konsum-Schulden-Falle ihrer Zeit. Ein tödlicher Irrtum für sie und meine Generation und für etliche Generationen, die noch kommen werden – doch es war ein Irrtum, der auf Unwissenheit beruhte. Genau wegen dieser meiner frühzeitigen Abnabelung und weil ich mich von allen Eltern-Stereotypisierungen freigemacht habe, kann ich Ihnen ganz objektiv sagen:

Meine Mutter war eine Heilige. Wann immer sie eine Notsituation erkannte, nahm sie sich dieser Angelegenheit an. Sie verbrachte Jahre in den Krankenhäusern der Erniedrigung und des Leids als freiwillige Krankenbetreuerin und als Seelendoktor für Dutzende von Verwandten und Bekannten und Unbekannten. Sie umarmte jedes Kind, das ihren Weg kreuzte. Ihre Seele ließ nicht den kleinsten Makel erkennen, nicht die geringste Arglist. Die grenzenlose Liebe meiner Mutter war das „Bindemittel“ unserer Familie.

Immerzu rastlos – ein so lebendiges Wesen hatte meine Mutter, dass sie darin all ihre Kinder übertraf. Ohne zu jammern hat sie so viele Kreuze getragen. Nie beklagte sie sich wegen irgendetwas. Sie verlangte nichts für sich. Alles für die anderen. Warwara für alle – und niemand für Warwara. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, um Hilfe zu bitten.

Die letzten Jahre waren ihre schwierigsten – selbst, nachdem sie schon so viel durchgemacht hatte. Die Krise hielt auch in ihrem Leben, in ihrem Haushalt Einzug. Eine Zukunft für ihre drei Kinder, die alle studiert hatten, nicht in Sicht. Die Rente ihres Ehemannes radikal gekürzt. Ihre eigene Rente, die sie hart erarbeitet hatte und bis zum Schluss bekam, wurde um mehr als die Hälfte gekürzt. Eine Rente – geraubt von diesem Politiker-Lumpenpack.

Jeden Tag Vaters Klagen. Der Druck unerträglich. Der Psychoterror der Medien, der ständig darauf abzielte, uns dazu zu bringen, dass wir uns mit dem massenhaften Raub unseres Eigentums, unserer Würde, unseres Lebens abfinden würden.

Mutter lud sich eines jeden Kreuz auf. Sie arbeitete ohne Unterlass im Haushalt, auch nachts. Sie war unnachgiebig sich selbst gegenüber. Schonte sich nicht. Sie schlief jeden Tag nur vier Stunden, um alles perfekt zu erledigen.

Vor zwanzig Tagen brach meine gute Mutter plötzlich zusammen unter all dem Druck und Schmerz, der sich nach und nach in ihr aufgestaut hatte. Dieser kleine Ausbund von Leben, der so viel Energie in sich hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie wollte nicht essen. Sie wollte nicht sprechen. Die Hilflosigkeit der Ärzte.

Irgendwann einmal hatten die Worte meiner Mutter – mit der ihnen innewohnenden, erhellenden Lebensweisheit – mich tief berührt, als sie zu mir sagte: „Mein Junge, ich bewundere dich. Du bist wie eine Phönix. Immer wenn du stürzt, erhebst du dich wieder.“ Ich hab versucht, ihr dieses Darlehen an Seelengröße zurückzugeben. Ihr zu sagen: Mutter, erinnerst du dich: Phönix – du und ich.

Aber die Dunkelheit hat ihren Lebensfunken erstickt. In ihrer Verwirrung sagte sie irres Zeug. Sie erzählte ihren Kindern – also uns -, dass sie uns umgebracht hat. Dass sie uns vernichtet hat. Sie bat um Verständnis für ihr Verbrechen. Sie verlangte, sie der Polizei zu übergeben. Sie verlangte, man möge sie exemplarisch bestrafen. Eine Strafe, weil sie ihr ganzes Leben eine Heilige war. Das Fernsehen sprach aus ihr. Sagte, sie habe das alles verschlungen. All die Milliarden. Sie war es, die sie geklaut hat. Sie verlangte, der Polizei übergeben zu werden.

Ihr war klar, welches Dunkel in ihrem Kopf herrschte. Sie kannte diese Krankheit sehr gut, nachdem sie geduldig schon soundso viele auf deren letztem Stück des Lebensweges begleitet hatte. Sie wollte sich auf keinen Fall dieser Krankheit ergeben. Sie ist unseren Händen entglitten.

Während andere in ihrem Alter den Tod fürchten, öffnete sie das Fenster des Schlafzimmers, in dieser schicksalhaften Sekunde, als unser Vater in die Küche ging, um die Herdplatte auszuschalten, und wagte ihren heroischen Ausbruch. Still, ohne zu klagen, nahm sie ihre Kreuze mit, um ihren federleichten 43-Kilo-Körper etwas schwerer zu machen, damit der Tod sie ernst nähme, den sie im Hinblick auf sich selbst immer auf die leichte Schulter genommen hatte.

Der Tod machte aus meiner Mutter keine Heldin. Nicht so, wie er es mit dem Helden Dimitris Christoulas gemacht hatte. Eine Heldin war meine Mutter in ihrem Alltagsleben. Eine kleine, alltägliche Heldin. Schreie drangen herauf. Und gleich danach sahen wir sie, die sich vom Balkon gestürzt hatte, unten neben dem Müll liegen. Jeder aus unserer Familie, jeder von uns, die wir sie alle so sehr geliebt hatten, zerbrach. Die Säule unseres Zuhause brach, als ihre Knochen brachen. Ein jeder von uns stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und krümmte sich schluchzend am Boden. Wir gingen nach unten und dann in die wie vom Blitz getroffene Menge.

Unsere Mutter verließ uns so, wie wir sie gekannt hatten: ohne eine einzige Schramme. Ohne einen Tropfen Blut, der ihr Antlitz hätte beflecken können. Alles in ihr. Alle Verletzungen waren innere. Wie im Leben, so auch im Tod. Unser geliebtes kleines Mädchen.

Mein Vater riss sich die Haare aus. Mein kleines Vögelchen! Mein Lämmchen! Meine kleine Taube! Noch immer war er verliebt in sie, seine Gefährtin auf Lebenszeit. Er weinte nicht seinetwegen. Er weinte um sie. Keiner von uns weinte um seiner selbst willen. Wir alle weinten, weil wir etwas so Kostbares verloren hatten. Ich bin ein Mörder, rief mein Vater. Ich bin ein Verbrecher. Nein, mein Vater war kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Der seine geliebte Gefährtin verloren hat.

Meine Mutter hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wir haben’s nicht mehr geschafft, Adieu zu sagen, ihre letzten Wünsche zu hören, ihre Hand zu halten, ihr über das Haar zu streichen, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie verließ uns wie eine, die vorangeht, stolz und allein. Der Tod meiner Mutter wird uns noch mehr Schulden aufbürden. Wie ich schon vor Jahren das Schicksal unserer Heimat vorhergesagt habe: Wir bringen es fast nicht über uns, unsere Tote zu begraben, denn vor einigen Augenblicken war sie noch so lebendig. Sie hat uns ein reiches Erbe hinterlassen. Ihre unendlich große Seele. Ein kleines Stück ihrer Seele, das unser zerrissenes Herz zusammenhält, unser Herz, in dem ihr sinnloser Tod eine klaffende Wunde hinterlassen hat. Damit es uns nicht härter, sondern zu besseren Menschen macht. Ein Erbe, das wir ehrenvoll bewahren wollen. Ich hoffe … ich kann nur hoffen, dass wir uns als ihres Nachlasses würdig erweisen werden. Ihrer Liebe für alle Menschen.

Ich war einer der Ersten, der das Schicksal der durch die Krise zu Selbstmördern gemachten Menschen thematisiert hat. Eine von ihnen ist nun gekommen und hat uns, unser Leben heimgesucht. Meine Mutter hat uns davon überzeugen wollen, dass sie eine Mörderin war. Dass sie uns getötet hat. Meine Mutter war keine Mörderin. Sie war heilig. Mein Vater schrie, dass er ein Mörder ist. Weil er sie hatte sterben lassen. Er ist kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Weder ich bin ein Mörder noch sonst irgend jemand aus unserer Familie.

Ich weiß aber, wer der Mörder meiner Mutter ist. Natürlich war es nicht seine Hand, die sie aus dem Fenster stieß. Das geschah durch ihren eigenen Willen und mit Hilfe ihrer unbeugsamen, fast heroischen Hartnäckigkeit ihrer Würde. Allerdings war es der Mörder, der die große und erdrückende Last auf ihren Rücken lud, ganz oben auf all die Kreuze, die sie seit Jahrzehnten freiwillig und ohne zu klagen mit ihren 43 Kilo getragen hatte. Es war allerdings der Mörder, der diese unermüdliche, rastlose Frau zwang, gelähmt vor Scham im Bett zu bleiben, gleich neben dem Fenster, ihrem Fluchtweg aus dem Leben. Und nur dieses Fenster konnte sie noch als Ausweg aus einem inneren Schmerz sehen, der so fürchterlich war, dass sie ihm nicht mal mehr stammelnd hätte Ausdruck verleihen können.

Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes. Und für diesen Mörder muss die Todesstrafe wieder eingeführt werden.

Ewige Ruhe dir, unsere Warwara, geliebtes kleines Mädchen!

Petros Argiriou

http://agriazwa.blogspot.de/2013/06/blog-post_4376.html