Das Ultimative Ja zum Alphabet der Blüten

“Ja”, schrieben etliche Medien in Deutschland in den letzten Tagen, heißt: “Nai”. Der von mir sehr verehrte Professor Hans Eideneier würde es möglicherweise so schreiben: “Nä”.
Beides hat, für mein Gefühl, etwas für sich. Im “Nä” steckt davon etwas: Nähe. Im “Nai” steckt der Name “Ina”. Wie schön für mich, man muss die Buchstaben nur verdrehen. Ich muss mich aber nicht festlegen. Beides ist möglich, “Nai” und “Nä”. Weshalb sollte ich auf eines verzichten, wenn mir beides zur Verfügung steht. Das Inaversum kann beides gut gebrauchen. Selbst als Inäversum oder Naiversum.
Am Ostersonntag diesen Jahres saß ich in einem Raum, in dem ein Mensch aus Deutschland und ein Mensch aus Griechenland miteinander ins Gespräch gekommen waren. Zunächst ging es um den Mittelfinger von Jannis Varoufakis und dieses oder jenes, was dieser Finger ausgelöst habe, eigentlich oder im Grunde. Allmählich veränderte sich der Charakter des Gesprächs. Es wurde zunehmend angespannter, es beherrschte den Raum, es war keine andere Unterhaltung mehr möglich. Hin und wieder sagte der Mensch aus Griechenland: “Wir Griechen”, oder er sagte: “Ich bin ja Grieche und …”, oder: “Ich als Grieche”. Und der Mensch aus Deutschland erklärte: “Das ist für mich sehr problematisch, wenn du sagst “Ich als Grieche”, denn damit meinst du jedesmal: Du Deutscher. Ich fühle mich angegriffen.” Der Grieche fragte: “Wie soll ich mich denn nennen? Und wie soll ich mein Land nennen, wenn ich nicht Griechenland sagen soll?”
Es ging eine ganze Weile so hin und her. Es ging darum, sich als Europäer zu empfinden, eigentlich. “Deutscher” oder “Grieche”, “Griechenland” oder “Deutschland”, diese Wörter würden alles nur einschränken und immer einen von beiden in die Position eines Gegners drängen. Der Grieche würde, indem er sagt “ich als Grieche” immer zugleich auch sagen “du Deutscher”.
Es ergab sich daraus, dass man über keines der beiden Länder eigentlich mehr sprechen könne oder solle, sondern über Europa, über Afrika, über Notleidende in Afrika, denen ginge es noch viel schlimmer als den Menschen in Griechenland.
Der ganze Kontinent Afrika und speziell die misshandelten Feministinnen stand gegen Europa. Und das am Ostersonntag. An dem ein Mensch aus Griechenland einem Menschen aus Deutschland das Leben schwermachte, weil er sagte: “Ich als Grieche”.
“Lächerlich”, mischte ich mich schließlich ein, “worauf es hinausläuft: dass einer aus Griechenland nicht mehr sagen soll: Ich – Grieche, oder: Griechenland; sondern – um des Wohlbehagens willen besser: Europäer.” Imaste dio. Das allerdings forderte der Deutsche. Sonst ginge es ihm schlecht. Im wahrsten Sinne des Wortes war die ganze Welt “verrückt”. Es fielen die Worte “ich” und “du”, und ich dachte, dass aber auch das problematisch wird. Wenn “Grieche” und “Deutscher” die Europäer entzweit, dann wird auch jedes “ich” den Gesprächspartner ins “du” verweisen. Und jedes “du” jeden ins “ich”. Oh weh! Auch das würde zu einer fürchterlich tiiiiiiiiefen Kluft zwischen zwei Menschen führen, wenn beide nicht mehr jeder entweder nur noch “du” oder entweder nur noch “ich” sagen, sondern “ich” und “du” und damit unweigerlich eine Unterscheidung vornähmen. Um Himmelswillen: ein “du” und ein “ich”, ein “Grieche” und ein “Deutscher”, ein “Europäer” und ein “Weltbürger”, ein Feminist und ein Androist, ein Hüben und ein Drüben. Mauern Mauern Mauern. Und der Grieche ist schuld, weil er sagt “Ich bin Grieche”. Oder: “Griechenland”. Sich abgrenzt, überhaupt, vom Deutschen, von Europa, von der Welt. Alles habe in der Sprache seinen Kern. Was damit nicht alles angerichtet werden kann. Griechenland sollte man gar nicht mehr so nennen, ein Grieche sich nicht ständig so. Das sei das Problem, in dem überhaupt der Konflikt zwischen den beiden Ländern seine Ursache hat.
Wir sollten also besser nicht sagen: Deutschland, Polen, Japan, Rumänien, Spanien …? Das brächte jeweils alle andern gegen einen auf? Wer “ich” sagt, ist schuld, wer “du” sagt, genauso?
Verflixt und zugenäht, meinte ich. Zum Glück ist es noch nicht so weit, dass jeder, der “Griechenland” sagt, als Übeltäter ins Lager muss, weil er irgendeine deutsche Volksseele beschädigt. Derzeit ist so jemand allerhöchstens die Nervensäge, und dem Präsidenten des Europaparlements drohte mehrfach der Kragen zu platzen wegen solcher Nervensägen. Die vielen kaputten Hemden!!!! Das wird erst teuer!!!
“Lächerlich”, das wiederhole ich. Wenn alle Klugheit, in der ein Studium der Sprache gipfelt, mündet z.B. in die Forderung: “Lass das mal sein mit diesem Griechenland und Grieche, finde doch besser ein anderes Wort, du verursachst Probleme dadurch, einen Konflikt, Entzweiung”, wenn das die Folge eines Studiums der Kraft der Sprache ist, dann war entweder der Dozent ein Alien oder vom Studierenden hat eines Tages ein Geist Besitz ergriffen, für den gilt: “Griechenland? Was soll das sein? Braucht man das? Kann man das essen?”

Von allen Mails, die ich in einem Zeitraum von drei Jahren erhielt, in denen es darum ging, Griechenland zu unterstützen, kam öfter als jede andere Mail mit diesem Anliegen diejenige bei mir an, die zu einem Crowdfunding einlud. Keine Mail, in der es darum gegegangen war, eine Petition zu unterschreiben, einen öffentlichen Protest zu formulieren, zu einer Demo zu gehen, für die Freilassung eines Journalisten zu stimmen … was auch immer …, keine andere Mail war so häufig bei mir eingetroffen wie die, in der zugesagt wurde: würde man einen so oder so großen Eurobetrag einzahlen, damit eine Milliardengesamtsumme erreicht werden könne, dann erhielte man einen Feta-Salat oder eine Flasche Ouzo oder dieses oder jenes, etwas also zum Verschnabulieren, zum Anfassen. Gewiss, die Menschen brauchen zu trinken und zu essen, sonst verhungern sie; dann könnten sie gar keine Unterstützung mehr gewähren. Sonst geht’s ihnen hier in Deutschland auch bald so wie Menschen in Griechenland. Es kam zu Beratungen darüber, ob man diese Crowdfunding-Aktion mit dem Feta-Käse unterstützen solle, die Mail weiterverbreiten.
Ich dachte an die Episode zu DDR-Zeiten in Berlin, als in einer Straßenbahn ein Fahrgast die anderen Fahrgäste anging: “In Afrika sterben die Kinder. Und ihr fahrt Straßenbahn.”
Das Wort “Feta” wird unterschiedlich ausgesprochen. Ich hörte es mit langem “e”, wodurch der Käse zum Feten-Feta wurde. The big party. Oder, sehr selten, mit kurzem “e”, wodurch der Käse fett wurde. Wer will das schon. Machen wir Party oder werden wir fett? Das scheint von großer Bedeutung zu sein. Das gesprochene … nein, genauer: das so oder so ausgesprochene Wort – davon hängt eigentlich alles ab. Wie wir uns fühlen müssen, in welche Position wir gedrängt werden. Wie furchtbar, wenn ein Grieche “Griechenland” sagt, und noch dazu, dass dieses Griechenland seine Heimat ist …! Zuhilf zuhilf! “Du bringst uns ja alle in Gefahr!”, hörte ich den Alien-Geist flüstern, diese Illusion von Heimat – das ist gefäääääährlich. Zuhilf zuhilf, Herr Aliengeist! Die einen sagen “Feeta” und die anderen “Fetta”, die einen “Ne”, die andern “Nä”, die Fünfzehnten womöglich “Näääääääääää”, und ein winziges Stimmchen wird fragen: “Heißt es vielleicht: Nähe?” und ein anderes Stimmchen: “Heißt Nai vielleicht Nee, Nein, Njet, Nada, Nada Brahma oder was?” und ein anderes Stimmchen meldet sich womöglich und ruft: “Wir müssen den Griechen die Pistole auf die Brust setzen: Raus mit der Sprache!”
Es ist wieder Sonntag, ein ganzes Vierteljahr später. Das Inaversum sagt: Ja, Griechin. Ja, Grieche. Ja, Griechenland. Mal sehen, was die Kanzlerin sagt. “Ja” oder “Nein”, Top oder Flop, Sein oder Nichtsein. Von einem einzigen Wort einer einzigen Frau, von der Betonung wahrscheinlich oder davon, welchen Klang das technische Equipment in diesen wenigen entscheidenden Sekunden der Stimme der Kanzlerin verleiht, davon, wie das Licht sich in diesem Augenblick auf die Blätter legt, die sich im Wind bewegen, von einem Atemhauch, einem Lidschlag Gottes und davon, welche Regung das im Augenlid der Kanzlerin verursacht oder nicht, davon scheinen ganze Völker abhängig zu sein, Aufstieg oder Fall, Werden oder Vergehen, Griechenland oder Deutschland, Ja oder Nein oder Nai oder Nä … Die Große Schicksalssekunde fixiert die Welt mit ihrem Blick aus dem Auge des Heiligen Alien. Mein Schicksal häng ganz allein ab von Nikos Engonopoulos’ Gedicht:

Das Alphabet der Blüten

die Poesie oder den Ruhm?
die Poesie
die Geldbörse oder das Leben?
das Leben
Christus oder Barrabas?
Christus
Galatia oder eine Hütte?
Galatia
die Kunst oder den Tod?
die Kunst
den Krieg oder den Frieden?
den Frieden

Hero oder Leandros?
Hero
das Fleisch oder die Gebeine?
das Fleisch
der Frau oder den Mann?
die Frau
die Zeichnung oder die Farbe?
die Farbe
die Liebe oder die Gleichgültigkeit?
die Liebe
den Haß oder die Gleichgültigkeit?
den Haß
den Krieg oder den Frieden?
den Krieg

jetzt oder ewig?
ewig
diesen oder jenen?
diesen
dich oder jenen?
dich
das Alpha oder das O mega?
das Alpha
die Bewegung oder die Ankunft?
die Bewegung
die Freude oder die Trauer?
die Freude
die Trauer oder die Langeweile?
die Trauer
den Menschen oder die Sehnsucht?
die Sehnsucht
den Krieg oder den Frieden?
den Frieden

geliebt werden oder lieben?
daß ich liebe

Oxi – Toxi – Moxi – Mori – Oxymoron – Ochimoron – Toximoron

Love is like OCHIgen
Züchtet OXIdeen!

10:21 Uhr an diesem Samstag – und noch keine fünf Artikel zu Griechenland auf Spiegel online … Was ist los? Sollte das Land etwa über Nacht verschwunden sein und die Flut an Beiträgen gestoppt? Hat Griechenland sich erledigt? Müssen deutsche Bürger nicht mehr vor diesem gefährlichen Topos gewarnt werden? Wurde eine flächendeckende Tarnkappen-Imprägnierung auf Griechenlands Oberfläche aufgebracht, so dass das, was darunter ist, erstmal als “ist aus der Welt” betrachtet werden kann? Ist ein anderes Land plötzlich interessanter? Werden die Bürger in Deutschland jetzt erfahren, dass viel länger eigentlich schon die Bolschewiken das eigentliche Problem darstellen, die Tartaren, die Uiguren?

Vor wenigen Tagen traf eine Mail ein, in der es hieß, dass der griechische Comedian Harry Klynn auf sein Blog einen Text gestellt habe, in welchem er sich dazu äußere, wie pervertiert die Bürger Griechenlands konsumierten – mit anderen Worten: wie viel bzw. welches Zeug nach Griechenland importiert wird, worauf seiner Meinung nach gern verzichtet werden könnte. Ich habe mir den griechischen Text durchgelesen (und übersetzt, er ist untenstehend zu lesen), den ich allerdings zunächst auf der Internetseite von Harry Klynn nicht finden konnte. Was da geschrieben steht, schlussfolgerte ich, könnte also auch von jemand anderem verfasst worden sein und als eines Spaßvogels Text ausgegeben, in dem vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckt.

Was schadet schon ein Körnchen Wahrheit. Das bewirkt sowieso nichts. Griechische Bürger werden weder auf süßsauer eingelegte Rote Beete aus Deutschland noch auf Schokoladen von anderswo auf der Welt, nicht auf etliche Alkoholika und schon gar nicht auf außerhalb Griechenlands hergestellte Autos und Klamotten verzichten können. Ohne all das wäre unsere Welt ja nicht mehr in der Ordnung. Gar nicht zu reden von Led-Lampen und Laptops, i-Phones, -Pads und -Pods. Im Gegenteil. Eigentlich erwarteten die Menschen dringend das i-Pet. Und was Pharmaka, Haarfärbeprodukte und Erdöl anbelangt …

Eine gedankliche Rückkehr in die 90er. Th. schwörte auf Haushaltsgeräte von “Pitsos”, und ich konnte sie gut verstehen. Reimte sich “Pitsos” doch auf Ritsos. Somit hatten alle Produkte, die “Pitsos” in Griechenland herstellte und auf den Markt brachte, etwas von Ritsos-Poesie. Die Waschmaschine “Ritsos”, der Kühlschrank “Ritsos”. Auch ich hatte einen Pitsos-Ritsos, und er arbeitete einwandfrei. In Griechenland wurde irgendwann sogar ein kleines Auto hergestellt und ein robuster Jeep, glaube ich. Man kam damit klar. Jeden anderen Wagen fährt man sowieso dorthin, wo verschiedenerlei in Dutten gaht oder in Klump gehauen wird. Es sei denn, man kutschiert damit nur durch Athen, da entlang, wo keine Bäume sind und keine Erde. Oder man lässt den “besseren” Wagen stehn und nimmt den zerschrammten Zweitwagen. Griechenland hat alles mögliche selbst produziert. Die vielen kleinen Schneidereien, die es gab! Manchmal gingen wir da hin, wo Frauen und Männer an Näh- und anderen Maschinen saßen, und nach drei Stunden ging man mit einem Kleid der besonderen Art wieder weg, das Baby war zudem unterhalten und beköstigt worden und man hatte jede Menge über das Leben erfahren sowie Nettigkeiten ausgetauscht. In der Näherei war Nähe. Im Fischladen hing ein Käfig, das Zuhause des Papageien Petros. Ging ich einkaufen, ging ich niemals nur einkaufen – eigentlich war ich gar nicht einkaufen, sondern ich wurde von Welten aufgenommen und wieder freigegeben, die jedesmal, wenn ich ihnen innewohnte, den Kontakt herstellten zwischen allen Zeiten, zwischen Jetzt, Damals und Dann. Dreimal die Woche kehrte ich zurück in das Leben meiner Großeltern, saß dort am großen Tisch mit dem ausziehbaren Waschschüsseleinsatz und hörte zu, wie sich aus ihren Bewegungen Geräusche lösten. Der Kühlschrank Pitsos-Ritsos schnurrte dazu. Und meine Großeltern kamen herüber in die 90er, in mein Leben, in dem es Mastixprodukte, Inopnevma und Jod gab. Mein Großvater erinnerte sich an seine Zeit als Soldat auf der Uferpromenade von Thessaloniki. Und wie er danach desertiert war, ein Jahr vor Ende des Kriegs. Meine Großeltern und ich hielten in den Nähereien, beim Bäcker, im Schreib- und Kleinwarenladen die Zeit an, packten sie ein, gingen damit nach Hause. Und mit diesem Paket Zeit unter dem Kopfkissen und mit meinen Großeltern in der Küche, versorgt vom Pitsos-Ritsos-Kühlschrank und -Herd, schrieb ich mir die Welt zusammen, wie sie morgen sein wird.

Gestern erfuhr ich, dass der Text von Harry Klynn mehrfach veröffentlicht ist, 40 mal mindestens, sagte mir A. Der Text wird also tatsächlich von Harry Klynn sein und nicht von einem Pseudo-Harry-Klynn. Harry Klynn fordert seine Landsleute auf: “Lasst uns also zurückkehren in die Zeit der 60er!” Mir gefiele das natürlich! Wer in die 60er zurückzukehren vermag, der kommt auch locker bis ins Jahr 2044. Wenn das passierte, würde ich möglicherweise die griechische Staatsbürgerschaft beantragen, Deutschland verlassen und wieder in Griechenland leben. Einer formulierte am 27. Juni für die “Welt”: “Clowns werden den Sozialismus auch nicht retten”, in diesem Beitrag die Frage: “Kinder an die Macht?” (http://www.welt.de/kultur/article143154374/Clowns-werden-den-Sozialismus-auch-nicht-retten.html) Der Autor denkt nach und befindet über die Rebel Clowns, wie zu DDR-Zeiten nachgedacht und befunden wurde über die Jesuslatschen-Heinis. Die allerdings die Montagsdemos überhaupt massiv mitermöglicht haben. Mit ihren Jesuslatschen, Kletterstiefeln, gefärbten Nachthemden und mit Kerzen sind sie letztendlich doch sehr weit gekommen. Es ist nicht immer gleich auf Anhieb die ganze Welt zu haben. Das “Wir bleiben hier!” der Endachtziger entspricht, meiner Meinung nach, dem “Ochi” (in den Medien auch oft so geschrieben: OXI), das jetzt in Griechenland gegen das “Nä” (Medien: NAI) steht. Zu beiden Zeiten – Endachtziger und jetzt – massive Ausreise- und Fluchtbewegungen. Einige wollen gleichsofortgefälligst die Weltrevolution, vorher verlassen sie nicht ihr Netzwerk.

Ich entdeckte eine tätowierte Spinne auf A.’s Solar Plexus und ein tätowiertes Spinnennetz an ihrem linken Ellbogen. Von mir aus gesehen rechts. Sollten vielleicht die großen Irrtümer und Missverständnisse in der Welt unter anderem daher rühren, dass man sich im Spiegel grundsätzlich seitenverkehrt sieht und daher in einem gewissermaßen falschen Selbstverständnis lebt? Alles, was man an oder auf seiner linken Körperhälfte wähnt, sehen alle anderen tatsächlich aber an oder auf der rechten. Ich frage mich, ob ich meinen Zopf zur anderen Seite rüberlegen sollte.

Über die griechische Art des Nein-Sagens hatte ich schon einmal reflektiert. Ein Schnalzen mit der Zunge und gleichzeitiges Augenbrauen-Heben tut es auch. In Griechenland. In Deutschland gibt es andere Methoden. Vielfach ist darüber nachgedacht worden, dass anderswo Kopfschütteln “Ja” bedeutet und ein Nicken “Nein”. Aber ich muss nicht weit in der Welt rumreisen, sondern kann in Griechenland bleiben. Das, was auf Transparenten am Syndagma-Platz zu lesen war, wurde am 29.6. in Spiegel online erklärt mit “Oxi heißt Nein”. (http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/griechenland-wahlzettel-zum-referendum-ueber-hilfspaket-a-1041265.html) Wunderbar!, dachte ich. Oxi wie Oxy wie Oxygen. Es ist ja gar nicht so doof, dass zu diesem Zeitpunkt kein schlauer Mensch auf den Gedanken gekommen war, in das OXI hineinzugrätschen und zu schreiben. “Nein heißt Ochi”, denn womöglich hätten sich OXI und Ochi dann verkreuzt zu einem Ochsi. Das wär erst was geworden! “Nein heißt Ochsi” hätte es dann vielleicht lästernd geheißen, und gleich wäre klar gewesen, wofür jeder griechische Nein-Stimmer zu halten sei. Auch der Ossi hätte assoziiert werden können und alsogleich die griechischen Ossi, die mir in etwa so beschrieben wurden: es seien nicht direkt Heilige, aber sie befänden sich eben in einem Stadium kurz davor. Der klangliche Unterschied zwischen dem deutschem Ossi und den griechischen Ossi war kaum auszumachen. Hiermit bin ich im Bereich der Sprach-Homöopathie angelangt und öffne die Tür am Abend, durch die – wie es in Theodorakis’ Lied heißt – Jesus zu sehen sein wird, der am Tisch sitzt, auf dem ein Krug und bei dem ein Hocker steht. Jesus unter uns und auch Georgos Vithoulkas, der als Jesus’ linke Hand gelten kann. “Tin lampa kratao psila – Die Lampe halte ich hoch”, das kann ich ja übernehmen in diesen hitzefinsteren Zeiten, in denen vom Licht der Kultur, das Harry Klynn erwähnt, nicht mehr viel gewusst werden möchte und darüber häufiger spöttisch gelacht. Irrelevant anscheinend; und viel gewichtiger dagegen, was derzeit von einigen in Deutschland für die griechische Bevölkerung vorgedacht wird.

In der “Zeit” am 1. Juli ein offener Brief an “die Griechen”, der ihnen Denkhilfe geben soll, ohne die die Menschen in Griechenland womöglich nicht mehr wüssten, was sie denken sollen, da ja sowieso alles davon abzuhängen scheint, wie hier in Deutschand überlegt wird: http://www.zeit.de/2015/27/griechenland-zukunft-brief-referendum. Diese Maßnahme der offenen Briefe wird in der deutschen Presselandschaft seit einiger Zeit ergriffen. Neuerdings allerdings nicht mehr im Stil eines offensiven “Ihr habt keine Wahl!”, sondern etwas moderater, die Wangen “der Griechen” tätschelnd wie Herr Juncker unlängst die des Herrn Tzipras, bevor er ihn vor sich her in den Besprechungsbehandlungsraum schob. Ich fragte mich: Was hätte Herr Tzipras vor laufenden Kameras aus aller Welt im Moment der Übergriffigkeit von Herrn Juncker tun sollen … Ich an seiner Stelle … Wie gut, dass ich nicht an Herrn Tzipras’ Stelle bin. Zumindest hat er den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert, würde ich denken, durch seinen Akt einer hochlöblichen Disziplin, die ihn seinerseits dem Herrn Juncker nicht an die Nase greifen ließ. Dass er ein Referendum ausgerufen hat, ist viel ungefährlicher als ein hässlicher Tätschelgriff ins Gesicht.

Es ist 10:46 Uhr, und in der “Zeit” stehen bereits mehrere Artikel zu Griechenland im Feuer. Einer fordert auf: “Lernt backen!” Ich hätte womöglich ergänzt: “Lernt häkeln!” Einer hatte unlängst den Gedanken, man könne durchaus den Baumwollanbau in Griechenland enorm intensivieren, das wäre eine zusätzliche Möglichkeit, das Land ökonomisch wieder auf die Beine zu bringen. Ich persönlich habe nichts dagegen, das Fahrrad zweimal zu erfinden und zweimal zu lernen, ob man damit gut fährt oder nicht. Baumwollanbau ist in Griechenland schon einmal intensiv betrieben worden, nachdem es von der EU Subventionen für Baumwollanbau gegeben hat. Es ist so viel Wasser in diese Baumwollanpflanzungen gepumpt worden, dass sich in einigen Regionen das Grundwasser auf Nimmerwiedersehen bis in die tiefsten Tiefen der Gesteinsschichten zurückgezogen hat, dahin wahrscheinlich, wo es gar keinen Grund mehr gibt. Man müsste mit Jules Verne mal nach unten vordringen und nachschauen können. Bei der Gelegenheit lässt sich vielleicht auch herausfinden, ob Griechenland tatsächlich noch große Vorräte an Bodenschätzen hat oder irgendwas anderes, was sich ausbeuten lässt. Wo kein Grundwasser mehr durch die Fasern des Erdmantels schoss, da quoll das Oxi jedenfalls herauf, an die Oberfläche der griechischen Erde, so schlussfolgere ich, und das, was sich bildete über diesem Topos, war ein gewaltiges Oxi-Oxymoron. Eine tosende Stille. Ein stummer Schrei. Damit bin ich wieder bei Harry Klynn und seinem Text. Der Ausdruck dessen ist. Man sollte nicht nur keine Eulen nach Athen tragen – und die Welt des Schönen Wohnens ist seit zwei Jahren voll von Eulen aller Art -, sondern auch keine Baumwolle nach Griechenland, keinen Käse, keine Würste, keine Überraschungseier, keine süßsauer eingelegte Rote Beete, kein LidlPraktiker und weiß der Heilige Oxitoximoximori was noch alles. Jedenfalls nicht in Unmengen.

Und vor allen Dingen halte man sich mit seinen vielen Klugscheißerschnabelvorschriftenblitzgedanken im Hinblick darauf, was “die Griechen” besser, lieber und überhaupt zu tun und zu lassen hätten, zurück. Kommandanten und Kommandierer hat dieses Land genug gesehen. Speziell auch solche aus Deutschland. Man vergesse das nie. Man habe das immer im Sinn. Man atme tief ein und aus. Man konzentriere sich mit seinen kritischen Einschätzungen auf das, was in Deutschland vor sich geht und von diesem aus. Süßsauer eingelegte Rote Beete.

In den allermeisten Beiträgen zu Griechenland geht es nur noch um Griechen. Um Menschen geht es nicht mehr. Das Sterben der Tausenden, die seit 2009 sinnlos aus diesem Leben verschwunden sind und noch darin sein könnten, dieses Sterben wird offenbar als eine Art “Hintergrundrauschen” wahrgenommen, das “halt irgendwie dazu gehört”. Bis hin zu einem Vorschlag, alle Griechen sollten aus Protest doch einfach aufhören zu essen, sich hinlegen und zu sterben androhen, habe ich so manches zur Kenntnis genommen. Vor einigen Tagen wiederholte ein Mann das, was er entweder aus den hochinformativen Medien in Deutschland schon eine ganze Weile wusste oder worauf er in seinem Herrenmenschenhirn von ganz allein gekommen war, und er sagte das am Potsdamer Platz in eine Kamera: “Wir müssen den Griechen jetzt die Pistole auf die Brust setzen”. Die Scheibe des Fernsehers, vor dem ich saß, bekam einen gewaltigen Sprung, als meine Erinnerung an “Jawohl, Herr Obersturmbahnführer!” hindurchschnitt. Deutschland hat einen Schaden weg. Kinder und Jugendliche hier erfahren seit mehr als fünf Jahren, wie über ein anderes Land befunden werden kann, in welchem Tonfall, in welcher Rede, mit welchen Worten und aus welcher Haltung und inneren Überzeugung heraus: ‘Wir haben den Griechen was klarzumachen und uns nicht von denen über den Tisch ziehen zu lassen.’ Eine wahrlich vorbildliche Erziehung zum Menschsein und Vorbereitung auf das alsbald einsetzende Erwachsenenleben. Dass “die da” durchtrieben sind, sowieso, eine gefährliche Mentalität haben, gefährliche Gedanken, gefährlich oxitoxisch verseucht, das glaubten im Zweiten Weltkrieg Wehrmacht und SS. Von dem Zeitpunkt an, wo das Land nicht mehr so einfach zu überrennen war, wie zuvor gedacht, von dem Zeitpunkt an, wo diejenigen, die da einmarschiert waren, zu ihrer größten Verwunderung feststellen mussten: “Die wehren sich!!! Frechheit!!”, waren die bis eben noch eigentlich ganz hübschen blonden Hellenen plötzlich zu dreckigen, tückischen Bolschewiken-Zigeunern geworden und somit zu Untermenschen, mit denen ebenso verfahren wurde wie mit allen, die unter diesem Etikett verortet wurden.

“Wir müssen den Griechen die Pistole auf die Brust setzen”, der Tonfall ist kein anderer, und es herrscht die Überzeugung: Wir hier in Deutschland, wir wissen es besser als die da; und wenn wir feststellen, Vorschreiben ist nicht die beste Methode (weil undiplomatisch), dann anempfehlen wir, schlagen vor, raten gut zu oder ab. “Die können’s ja nicht”, so das Urteil einer jungen Journalistin 2011 im Gespräch. Ich hab in viele Schlaumienengesichter geschaut in den letzten Jahren, lächelnde, gewitzte, spaßige. Ich wurde wieder und wieder darauf angesprochen, ob denn nicht auch ich meine, dass “die Griechen” sich mal endlich fragen müssten, ob sie nicht mal endlich begreifen müssten, dies und jenes tun müssten. Und dieses “die können’s ja nicht, die Griechen, irgendwie geschieht ihnen recht, was jetzt passiert, die begreifen’s nicht; wir hier, wir begreifen’s, aber die hören ja nicht auf uns …”, das wird auch den griechischen Rentner heute treffen, dessen Foto in einigen Medien veröffentlicht ist (u.a. auf http://www.handelsblatt.com/politik/international/griechenland-ein-bild-bewegt-die-welt/12009674.htm) und dazu seine Beschreibung der Umstände, die dazu führten, dass er zusammensackte. “Keine Gnade”, so höre ich es wispern in etlichen Köpfen. O Jesulein süß, o Jesulein mild …

Ich kehre aus dem Jahr 2044 immer wieder ins Jahr 1944 zurück, wie Harry Klynn zum Beispiel in die 60er zurückkehrt. In meinen Gedanken sitzen meine Großeltern mir gegenüber. Mein Großvater, der desertierte, meine Großmutter mit der Kassette, in der sie einen Schein aufbewahrte vom “Inflationsgeld”, wie sie sagte, ich kehre zurück zum Birkenhaarwasser, zu einem Stück Packpapier, das gefunden wurde, als das Dach neu gedeckt werden musste, ich kehre zurück in die Zukunftsmusik, zurück zum Kind, das geboren und in der Näherei Nähe erfahren wird, ich kehre zurück zum Salz der Erde, zu den Bäumen von Salgado, ich kehre zurück zu Eluards “Freiheit”, ich kehre zurück in dieses vergnügliche Spiel, bei dem es erlaubt ist, Wörter zu tauschen und einen langen Text unter einer anderen Überschrift zu lesen, ich kehre zurück zu “Romiosini”, ich nehme mir einen kurzen Augenblick, Eluard, deine “Freiheit” und setze als Platzhalter “Romiosini” ein. Ich sage “danke” und entlasse den Text wieder in die Obhut der “Freiheit”. Ich kehre zurück und komme auf ganz magische Weise direkt hier an, in diesen oxitoxischen Zeiten, in denen mich aus Athen Manolis’ Fotos erreichen, Rulas Antworten auf meine Worte, Andreas’ Einschätzungen der Lage, Fotinis wie immer langes Schweigen, Sakis’ ungewöhnliches Schweigen, obwohl hier heute 36 Grad sind und in Athen nicht weniger, wie ich vermute. Aber ich weiß es nicht. Ich könnte im Internet nachschauen. Allerdings … Sakis’ Wetterbericht ist wesentlich zuverlässiger im Hinblick darauf, ob meine Großeltern noch immer in Athen am großen Küchentisch sitzen oder ob sie ein zweites Mal gestorben sind, jetzt, an dieser Unerträglichkeit dessen, was “Deutschland” für “Griechenland” entscheiden möchte. Ich drehe meinen Kopf auch heute zur Seite und höre die Stimmen von 1989, die für Leipzig und Berlin und andere Orte forderten: Keine Gewalt!; ich drehe meinen Kopf zur anderen Seite und gebe diese Worte weiter. Ja heißt Nein, Nein heißt Ja, das eine Ochi, das andere Oxi; mein Zopf, der wechselt auf dem Kopf hin und her. Lasset OCHIdeen erblühen! Hinter jedem starken Land steht ein starkes Wasser. In jedem Körnchen Sandwahrheit steckt ein ganzer Haufen Sand, ein Land. Es knirscht in den Getrieben wie in den Stützhölzern, die das Gewicht der Stollendecke abfingen, in der Mine, in der Zorbas sich zu schaffen machte. Als sie einstürzte, wurde keiner begraben, aber alle waren davon überzeugt: ohne Zorbas wären sie nicht mehr am Leben gewesen. Zorbas wollte von einem ergebenen Dank nichts hören, er knurrte, und keiner sagte mehr was.

Es ist 12:04 Uhr. Der Beiträge auf Spiegel online zu Griechenland werden es mehr. Das Thermometer am Fenster zeigt 36 Grad.

Hier der Text von Harry Klynn:

VORWÄRTS, LASST UNS BANKROTT GEHEN

“Verlassen wir den Euroraum; sollen die Importe eben stoppen! Lasst uns einfach hungern, da die da draußen und die griechischen Medien uns dahin treiben wollen! Alle sagen, dass die Importe stoppen werden. Aber hat sich schon mal einer von euch überlegt, was denn genau wir importieren und was genau von dem, was nach Griechenland reinkommt, das beträfe? Lasst uns das mal durchgehen:

– Wir hören auf, Autos einzuführen. Da werdet ihr die Jammertränen der Deutschen und der Franzosen sehen, die hier in den nächsten Jahren kein einziges Auto mehr verkaufen.
– Wir hören auf, Milch, Käse und Butter einzuführen. Da werdet ihr die Jammertränen in den Fratzen der Belgier und der Holländer sehen.
– Wir hören auf, Nüsse und Knabberzeug aus der Türkei einzuführen.
– Wir hören auf, Melonen und Trauben aus Afrika einzuführen.

– Wir hören auf, Rosinen aus Chile einzuführen (ist denn das die Möglichkeit!).
– Wir hören auf, Sonnenblumenöl und andere Speiseöle einzuführen.
– Wir hören auf, Retsina aus Kalifornien einzuführen (oh weh, Herr).
– Wir hören auf, hunderte Sorten Alkohol einzuführen.
– Wir hören auf, Käse, Konserven, Kuchen, Schinken usw. einzuführen.
– Wir hören auf, Handys, Fernseher, Computer und die tausendundzwei sinnlosen Gadgets einzuführen, die die Menschen kurzsichtig machen.

– Wir hören auf, hunderte Tabak-Erzeugnisse, Zigarren und anderes Gift einzuführen.
– Wir hören auf, süßsauer eingelegte Rote Beete aus Deutschland einzuführen (oh mein Gott, oh mein Gott).
– Wir hören auf, die Dutzenden Süßwaren- und Schokoladenerzeugnisse einzuführen, die unser Geld ins Ausland abfließen und unsere Cholesterinwerte in die Höhe schießen lassen.
– Wir hören auf, Kleidung, Schuhe, Spielzeuge und Unmassen unnützen Zeugs für’s Haus einzuführen (bis hin zu Schälern, mit denen man die Banane in ganz gerade Stücke schneiden kann!!).

Lasst uns zu den Zeiten der 60er zurückkehren! Lasst uns wieder ruhig durch die leeren Straßen spazieren! Lasst uns nachts schlafen, ohne dass wir von jedem Rumtreiber-Idioten aufgeweckt werden, der mit seinem Auto unterwegs ist und ohrenbetäubende Bauchtanzgewimmermusik oder irgendeinen dämlichen Rap hört! Lasst uns weniger essen, und lasst uns unser Übergewicht bekämpfen! Lasst uns wieder unser Geld zusammenlegen und feiern wie in alten Zeiten! Lasst uns wieder wahre statt digitale Freundschaften schließen! Wacht auf, ihr Griechen, die ihr euch selbst verarscht! Wir sind durch einen Regen aus Pech und Schwefel gegangen. Wir haben der Welt das Licht der Kultur geschenkt. Wir haben im Zweiten Weltkrieg der deutschen und der italienischen Übermacht die Stirn geboten. Und wir haben uns schließlich so weit erniedrigt, dass wir uns zum Bettelknaben für die verdammten Europäer machen und sie noch bitten, dass sie uns ficken, nur damit wir Video und Handy bekommen? Und dazu lassen wir uns auch noch beschimpfen, weil wir überhaupt KEINE Würde mehr haben.”