Örtliche Schauer und Baader im Anzug

Ende Juni wird’s oft ungemütlich. Hitze und Starkregen oder Kälte und Starkregen. Auf dem Lande versucht man vielleicht heute noch mancherorts, den „Bilmesschnitter“- Korndämon zu bannen, damit er die Halme nicht umlegt. Vielleicht müsste auch an den Regendämon gedacht werden, damit er die Menschen nicht umlegt. Im Bitteren Felde fallen sie leicht.
1990, etwa fünf Uhr in der Frühe, bei zu dieser Zeit im Juni bereits recht hellem Tageslicht, lief der Dichter, Performer und Kleidungskünstler Matthias Baader Holst in Berlin Ecke Oranienburger Straße / Friedrichstraße in eine Straßenbahn und verstarb am 30. Juni an den Folgen dieses Unfalls. Bis dahin Koma. So die – hier und da leicht voneinander abweichenden – Auskünfte.
Der 30. Juni 1990 war der Tag der Währungsunion. Heute, noch keine 25 Jahre danach, ereignete sich der Brexit. Damals ein „Rein!“, jetzt ein „Raus!“ Dass die Wählerstimmen sich schließlich in der Waagschale summierten, die das Gewicht des Pro-Brexit schwerer werden ließen, ihm den Zugewinn und das Mehr brachten, passierte möglicherweise zur selben Stunde, nachts, zwischen vier und fünf Uhr, die für Baader Holst 24 Jahre zuvor eine schwarze Stunde geworden war. Die Farbe des heutigen Freitags wird hier und da ebenfalls so gesehen; ein Schwarzer Freitag sei es. Und die Atmosphäre fühlt sich nach Kurz-Vor-Dem-Weltenende an.
Vorsichtshalber könnte man einen Baum pflanzen. Kommt das Weltenende nicht, kann der Baum trotzdem stehenbleiben, falls es mit ihm dann was geworden ist, er wurzeln konnte und zu wachsen beginnen. Welchen Baum hätte man für Baader ausgesucht? Eine Pappel, schnell austreibend, Wurzelbrut bildend, hoch aufschießend, eine wankende Plastik mit immer regen Blättern. Nimmt Baaders Tod einen auf merkliche Weise mit, dann vielleicht auch, weil dieser Tod ein früher war.
Es wäre womöglich schade, aus welchen Gründen auch immer zu spät zu sein, am 7. Oktober 2017 handlungs-, aktionsunfähig, nicht reagieren könnend mit Text, Inszenierung, bewusstem Schweigen oder andersartig auf die von Baader in die Welt gesetzte Bitterfelder Inspiration. In „boheme und diktatur in der ddr“ ist seine Aktion beschrieben:
„In einer Szene steht BAADER grinsend vor einem Denkmal in Bitterfeld. Erbaut von einem übereifrigen Deutsch-Lehrer, irgendwann in den 60er Jahren, der seinen Schüler aufgibt, „Briefe an die Jugend des Jahres 2017“ zu schreiben, die er dann in einer Kassette in die Betonmauer einläßt. „Erst zu öffnen im Jahr 2017, dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution“, verheißt eine kupfergetriebene Plakette. Ein riskantes Verfallsdatum, das Holst zu einer Performance inspiriert. In der Messingschale des Denkmals entzündet er ein kleines Feuer. Mit großen Gesten deklamiert der Untergrund-Poet im Flammenschein seine Verse. Entrückt, einsam, einzig. Ein dadaistischer Olympionik, ein hakenschlagendes Opferlamm.“ *1
Das Bittere Feld. Der Bitterfelder Kornmann geht durch und bricht eine Schneise. Irrlicht oder Aufhocker. Lautes Getrappel, ein Hoch und Runter in Treppenhäusern, auf Fensterbrettern, in Rinnen, das Hin und Her auf Pflaster und Asphalt. Die Zeiteinheiten hetzen sich zu Tode fast in ihrem Bemühen, schnell genug zu sein, dem Weltenende zuvor zu kommen, den 7. Oktober 2017 schon vor dem 7. Oktober 2016 zu erreichen, den Punkt auf dem Zeitstrahl vorzuziehen, an dem die Kassette mit den „Briefen an die Jugend des Jahres 2017“ geöffnet werden muss. Ein Raum solle sich auftun, eine Kapsel, eine Offenbarung sich vollziehen, einen Tick früher, noch ehe dieses Gebilde etwas später der Wetterdämon, der Korndämon, der JederzeitdasEndebringendeDämon packen, entreißen, der Welt entfremden könnte. Im März wird die Uhr vorgestellt. Im Oktober zurück. Aber immer nur eine Stunde. Da ist man keinen Schritt vorangekommen. Das wird vielleicht nicht genügen. Was soll die Oktoberrevolution an ihrem 100. Jahrestag von uns denken?
Heute Abend find ich mich in der Friedrichstraße. Heute Abend werd ich mit der Bahn gefahren sein. Tödliche Kreuzwege wechseln wie Wetter ihren Ort. Sie verschmähen den einen und den andern, den holen sie fort. Nach dort. Und von dort herüber spricht die Zeit ein nicht berechenbares Wort. Lass regnen, Baader, lass unwettern, lass uns Zuflucht suchen müssen und brettern, die Papiere am Körper, durchgeweicht, unleserlich, nur zu deuten, stets bereit, es nicht genau wissen zu können oder überhaupt nicht. Wem nichts zustoßen will, der kann sich immer noch kranklachen.
Wohin legen sich wohl die Ähren, die Fahnen … Das steht nicht vorn an den Straßenbahnen.

*1 „boheme und diktatur in der ddr“, Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 4. September bis 16. Dezember 1997, Verlag Fannei & Walz Berlin; Fallbeil statt Beifall Brachialromantische Revolte gegen das „Sinnregime“: „Matthias“ BAADER Holst als radikaler Punkdichter und dadaistischer Terrorist, S. 259 bis 268