im übertragenen sinne

Effi Rabsilber, Aktion in Athen, 26. Juni:
Kasten für Massive Beschwerden

„Kane Parapono“
freie Übertragung des Texts:

Kasten für Massive Beschwerden

Wenn ihr spaziert
Eure Karre chauffiert
oder trinkt coffee double
oder Wasser mit Sprudel
und gleich
sind auch all die Probleme hier
So schreibt
Auf’s Papier
Schreibt
Was euch zerreibt
Gebt nur her Gebt nur her
Beschwerden – je mehr
desto besser
Woran mangelts
Was fehlt
dieser Stadt und quält
Was fehlt
diesem Leben und quält
Gib nur her Gib nur her
deine Beschwerden – je mehr
desto besser
Steck sie in den Karton
… ringsum Beton …
Und die Beschwerden
die machen sich davon
An diesem Tage
in dieser Stunde
an einem Freitag – Ich sage:
Wag’s bei ‘ner kurzen Aktion!
Und schon machen sich davon
Deine Beschwerden, jegliche Plage

Meine Beschwerden
Mein Vergehn, mein Verderben
Meiner Rose Herzstachelstich
diesen will ich verbergen
Ein Geschenk mach ich
euch, ihr massiven Beschwerden
Ich geb euch mein Wort
hier vor Ort
Zu meiner Worte Empfänger
seh ich euch werden

Und wir stell’n den Kasten
mit all den Massiven Beschwerden
hierhin
neben die Bar

Bringt eure Schmerzen her!
Bis Freitag, den 26.6.
GREEN PARK
Mavromattaion 22
Pedion Areos

bei unterhaltungen immer wieder die frage, wie in athen auf die krise reagiert wird. wohlwollendes kopfnicken und ein „das ist gut“ nehme ich wahr, ist die rede von „kollektiven“ (ich hätte nie gedacht, dass dieses wort noch einmal mit so viel sympathie ausgesprochen werden würde); zustimmendes lächeln, kann man was berichten von gegenseitiger unterstützung, die menschen in griechenland einander zuteil werden lassen; hin und wieder ist sogar auch in deutschen medien über derartige unternehmungen in griechenland etwas zu erfahren. naturalien-tausch, selbstversorgung, lehmbauweise, gegenseitiges haareschneiden, olivenöl-projekt etc.
welch eine erleichterung, wenn’s mal nicht um’s geld geht, nicht danach gefragt wird und kein wort darüber verloren. man kann mit ganz anderen sachen staat machen.
vor dem inneren auge entstehen leichterdings bilder, die denen eines paradiesischen gewimmels auf einem gemälde von Hieronymus Bosch ähneln: ahhhh … wie befreiend .. in griechenland sind hunderttausende längst damit beschäftigt, die bergwerke der zwischenmenschlichkeit zu durchwandern und zu bevölkern, sich käse und brot und oliven zukommen zu lassen, als seien’s gold und feinsilber, edelsteine gar, tomaten und feuerholz, haarschneidehändchen, unentgeltliche ärztliche versorgung in stillgelegten flughafen-gebäuden, medikamenten-spenden und vieles vieles andere mehr. wir erleben noch mal eine welt, wie wir (die angehörigen der sandwich-generation) sie aus der kindheit kennen, als vieles von hand gefertigt wurde, bürsten- und matratzenmacher noch am werk waren, als man sich eine tasse mehl oder zucker borgen ging, anschreiben ließ oder eier holte und den weihnachtsbaum von jemandem, der hühner und gänse hatte und ein stück wald, als das menschliche maß noch existierte, kerzen vom kerzenmacher gezogen wurden, als es hallorenkugeln gab, keinen euro, keinen stress …, die eisenbahn fuhr so, dass einem nicht schwindlig werden musste. die Liste der Immateriellen Kulturgüter wurde ständig erweitert, und künstler … das waren seltsame menschen (wie auch langhaarige nicht-künstler-männer oder rothaarige oder brillenträger oder tätowierte oder frauen in so genannten „schlabberkleidern“) … irgendwie anders, etwas fremd, so dass man noch nicht gelassen zu reagieren vermochte, wie es viel später möglich war: „naaaa, das is alles fantasiiiiie!!!“ (dies im hinblick auf die künstler).
fast könnte man meinen: dann wird’s in griechenland jetzt ungefähr auch wieder so sein. wer sich keinen strick nehmen muss, der tauscht feta-käse gegen feuerholz oder einen kanister heizöl, im sommer gegen treibstoff. und mittendrin in dieser ganzen wirtschaft die künstler, noch, die sich was einfallen lassen und sich gestatten, auf der ebene des „übertragenen sinnes“ zu agieren.

ein beispiel:
das video der künstlerin Effi Rabsilber, die hier performt und für freitag, den 26.6. eine aktion in Athen ankündigt:
Effi’s Video

dass ohne geld trotzdem musizieret, theatergemacht, geschrieben und filmgedreht wird – das scheint bei künstlern – wie inzwischen bei der gesamtbevölkerung griechenlands – vorausgesetzt zu werden. jeder mensch ist ein künstler. das wissen wir. künstler leben aus sich selbst heraus, irgendwie. alle anderen können das von ihnen lernen. ich persönlich glaube nicht nur ganz fest daran, sondern ich bin davon totalüberzeugt. es ist so, wie von Beuys zu lebzeiten offenbart:
„Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung.“
das könnte griechenland retten – oder nicht? da, wo vorher die geldverschwendung an der tagesordnung gewesen zu sein schien (so jedenfalls wird es in den medien in deutschland vermittelt), könnte jetzt kraftvergeudung im sinne von Joseph Beuys obwalten. dagegen dürften die Institutionen nichts haben. kraftvergeudung wird noch nicht besteuert. muttermilch auch nicht. hoffnung wahrscheinlich bald.

auch künstler in griechenland machen jedenfalls was, und ich würde in den medien gern mehr darüber lesen. allerdings nicht unbedingt solche beiträge, in denen sich der kopf darüber zerbrochen wird, ob die frau von Varoufakis gemeint sein könnte im song bzw. video eines britischen sängers, der von einer frau berichtet, die an der kunstschule studierte, aus griechenland kam und deren problem es war, dass sie – als zuuuuuuu reiche – keinen kontakt mehr mit gewöhlichen menschen habe. der, an den sie sich wendete mit ihrer bitte, sie wolle gern das tun können, was gewöhnliche menschen auch täten, reagierte: „verstehe. ich will seh’n, was ich tun kann …“

Varoufakis‘ Frau

ich will seh’n, was ich tun kann
– das vermittelt in ihrem video, aber viel mehr noch mit ihrer aktion EFFI RABSILBER.
sie, in Athen, fordert dazu auf: zettel zu beschreiben, schriftlich alle beschwerden zu fixieren, und die gefalteten zettel dann in den schlitz in der oberseite eines Kastens (Karton) zu stecken, ganz so, wie es von wahlengängen her vertraut ist und keinem schwerfallen dürfte.

Effi Rabsilber schüttelt eine rassel, spricht und singt dazu (zitate aus dem song eines griechischen sängers einflechtend).
zum schluss wird die einladung für freitag, den 26.6. ausgesprochen: man soll
an diesen ort kommen, um seine zettel mit beschwerden loszuwerden – und damit auch die beschwerden an sich, das verheißt Effi.
ich halte diese maßnahme für effektiv – schon deshalb, weil die worte „Effi“ und „effektiv“ mit den gleichen drei buchstaben beginnen und somit einen unmittelbaren dreibuchstaben-triade-zusammenhang herstellen.
ich unterstütze also diese Effi-effektive aktion, um die kunde davon zu verbreiten – selbst in deutschland, wo man sich natürlich fragen kann, wie man von hier aus nach Athen rüberlangen soll, um dort am freitag einen zettel mit beschwerde in den kasten fallen zu lassen, wenn man nicht sich selbst und auch nicht griechenland fallen lassen will. schließlich hat man nicht den langen arm der institutionen-troika, der überall hinreicht und eingreifen kann …
kein problem, man denke sich einfach dahin. alles ist erlaubt. telepathische übermittlungen sind möglich. ich gehe davon aus, dass Effi Rabsilber die nötigen empfänger-antennen auch für solche beschwerden-übermittlungen hat. irgendwas wird sie draus machen. könnt ihr keinen zettel mit vogelpost schicken, so schickt eure gedankenströme mit den in ihnen enthaltenen Massiven Beschwerden.
wir können hier einmal etwas praktizieren, was entschieden zu kurz kommt, wenn es um griechenland-deutschland geht, in den letzten jahren: wir versetzen uns bzw. unsere beschwerden einfach gedanklich dorthin und nehmen teil.

dazu biete ich die textgrundlage (diesem beitrag vornean stehend), damit die des griechischen unkundigen überhaupt einen einstieg in die aktion bekommen können.
ich hab (relativ frei) ins deutsche übertragen (Effi Rabsilber signalisierte keinerlei einwände) und ein wenig mit meinem kollegen Jazra aus Athen darüber kommuniziert.
Jazra schrieb mir, dass Effi Rabsilber anspielt auf die üblichen Service-Briefkästen/-Kästen, Kummerkästen, Kundenreklamationen-Kästen etc., die man in geschäften, evtl. in lokalen, auf ämtern etc. hier und da finden kann.
Effi Rabsilber spielt mit dem wort parapono – schmerz,
was auch so verstanden werden kann: klage.
ich fand dafür: BESCHWERDE
beziehungsweise: Massive Beschwerden (das schien mir der situation angemessen).
in meiner freien version ist der Karton also ein „Kasten für Massive Beschwerden“.

Jazra ließ mich außerdem wissen, dass Effi Rabsilber aus einem Lied des Sängers Jannis Parios zitiert:

Jannis Parios Lyrics

für das ich allerdings die übersetzung nicht auch noch bieten kann; denn ich bin nicht sicher, ob es bei mir mit einer ernährung durch noch mehr Beuyssche kraftvergeudung tatsächlich was wird. nicht übermütig werden, sag ich mir. der aktions-freitag ist ja noch nicht da. ich kann nicht riskieren, vorher schlapp zu machen.

„Kasten für Massive Beschwerden“ also als beispiel für eine maßnahme, die gerade in Athen durchgeführt wird und die man im übertragenen sinne auch als kollektive aktion, als gegenseitiges haare-schneiden, als naturalien- und dienstleistungstausch, als abwenden des bösen blicks und als anderen dienst am menschen verstehen kann. ganz besonders aber auch als parallel-maßnahme, die geeignet sein könnte, einen ausgleich zum schwergewicht der neuen liste an bedingungen herzustellen, die zu akzeptieren die troika-institutionen einfordern, um dem schleichenden sterben tausender menschen in griechenland, die opfer dieser anstehenden finanziellen beschränkungen werden, offenbar weiter vorschub zu leisten. noch mehr menschen werden sich keine medizinische hilfe mehr leisten können, noch mehr ärzte verzweifeln, wissend um die tatsache, dass die patienten, die bis eben noch zu ihnen kamen, nicht mehr kommen, weil sie es nicht geschafft, nicht überlebt haben. eventuell folgen die beschlüsse, die womöglich einer gesundschrumpfung der griechischen bevölkerung dienen sollen (?) einer ganz eigenen logik: besatzer wie z.b. 1944 müssen in griechenland nicht mehr unbedingt aufmarschieren. die menschen sterben auch so, von ganz allein …

Effi Rabsilbers video beginnt so:
Close Up: Hand schreibt auf Blatt Papier
Close: Blatt Papier zur Kamera, Text:
ich hab nicht das
Geld, um dich
anzurufen
00:05 Close Up: Gesicht Effi Rabsilber, sie fragt:
“Echete provlima kai essis? – Habt ihr auch ein Problem?”

ja, ich persönlich hab ein riesiges problem. gut, dass Effi Rabsilber das erahnte und eine lösung anbietet. sie ist nicht die einzige.
im januar 2015 performte Joulia Strauss in der Athener galerie BETON 7, eine künstlerin, die zwischen Berlin und Athen den tonfall vermittelt, die lyra schlägt und Mathematische Operationstiere einen kreistanz aufführen lässt: die Übergreifende Dorische Summenkatze, den Depressiven Lydischen Minus-Hund, den Durchsetzungsfähigen Hypophrygischen Pluskampffisch, den Euphorischen Phrygischen Multiplikationsoktopus, den Chauvinistischen Hypophrygischen Integralschwan, die Kathartische Hypolydische Divisionsschildkröte und den Unverzichtbaren Mixolydischen Wurzeladler. man rufe eines dieser transhilfreichen geschöpfe zu sich heran, nutze dessen mitteilsamkeit und heilsamkeit, bediene sich der von diesem ausgesendeten Support-Frequences, um die eigene stimme stützen zu lassen, und entlasse alsogleich ein gesangliches lautgebilde aus dem eigenen mund. alles das unentgeltlich.
vollkommen kostenlos kann ein jeder, den es danach verlangt, ein gut moduliertes mehrfaches „aaa-nar-chiiii-aaaa“ erklingen lassen. auch dieses wird bislang noch nicht besteuert. ich bin der überzeugung, die troika-institutionen können nicht nur andere, sondern hin und wieder auch sich selbst beherrschen. zu gast bei Joulia Strauss würde das schlagen der schamanentrommel bei ihnen womöglich magengrummeln auslösen. zu gast bei Effi Rabsilber aber, im souterrain, dem Beschwerden-Kasten ganz nah, da könnte ein wunder geschehen, auf dass von diesen allmächtigen institutionen ungewöhnliches berichtet werde: „und sie sitzen still und stumm um den großen tisch herum“. die rassel allein gibt das metrum vor. Effi Rabsilber ist für alle da – für diejenigen, die kein geld haben, um zu telefonieren, und für diejenigen, die sich keine vorstellung machen können von einer ausgleichenden gerechtigkeit im übertragenen sinne, die so aussieht, dass die satten hungrig bleiben, die hungrigen aber sich gesättigt fühlen. soll die welt sich ruhig noch einmal verkehren. vielleicht erwachen die sinnlos gestorbenen dann wieder zum leben, anstatt dass noch lebendige sich schon wie tot fühlen müssen.

möge der Kasten für Massive Beschwerden schneller gefüllt sein, als dass eine Systemische Anakonda sich eine Autodidaktische Fledermaus einverleiben kann oder umgekehrt!
Removenceros!
Parasarano!

© Ina Kutulas