Für Gert Hof

 

Zum Jahreswechsel – Immer wieder

2012 dachte ich immer wieder an Gert. Im Januar, als er starb. Im Februar zur Beerdigung – es war ein kalter Tag, in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs ließ Wanja das letzte Lied hören „Hurt“ von Johnny Cash:

… If I could start again,
A million miles away,
I will keep myself,
I would find a way …

Die beiden Herren vom Personal öffneten die Flügeltür. Es fielen riesige Schneeflocken aus dem Himmel und bedeckten das dunkle Grün ringsum. Ansonsten war alles ganz schwarz. Einer war mit einem riesigen roten Schal gekommen. Rob trug große Ringe und stand eine Weile für sich. Im Februar waren wir bei Mikis und hörten seine Sinfonien. Im März, während ich „Medea“ von Mikis hörte, als ich las und las und las, was in Griechenland vor sich geht. Im April, als ich Griechenland vor mir sah und Gert in Griechenland, als ich „Medea“ von Mikis hörte und mich erinnerte an Hamburg. Im Mai, der mich erinnerte an unseren Aufenthalt auf Rhodos, 2006, als Gert mit riesengroßen Schritten allein weit voraus ging bis ans Ende der Mole. In diesem unbeschreiblichen Juni, der mich erinnerte an Gert mit einem Halm in der Hand. Im Juli, der mich erinnerte an einen Tag, als wir uns zufällig in die Arme liefen, auf der Greifswalder Straße, 2010, Gert suchte sein Auto. Im August, als wir mit Bella im Nuthe-Urstromtal drehten für „Medea“. Im September, der mich erinnerte an die Fahrt mit dem Schiff. Im Oktober, der mich erinnerte an das erste Mal, als ich Gert überhaupt sah – kurz, 1999, in der Passionskirche – und an New York, als Gert über den Millennium-Event Berlin nachdachte. Im November, der mich erinnerte. Und jetzt, im Dezember, der mich erinnerte. Vor zwölf Jahren rasten die Bilder durch uns hindurch, die unser Weg sein sollten für so viele Jahre, wie ein Jahr Monate hat. Jetzt sind es bald dreizehn. Das Jahr Gert verlängert sich. Ich wüsste gern, wie du die Sache siehst, Syndrofos Avli … Griechenland, wo das Meerwasser von Varkisa nachts sich mühte, schwarz zu bleiben; in Limnos stach uns die Sonne am frühen Nachmittag fast besinnungslos, Kopfschmerz, Minze statt Aspirin. Wanjas Satz, der immer wieder zitiert wurde: „Papa, sei nicht traurig.“ Und immer wieder Temperamine aus Dosen oder auch nicht. „I will keep myself“. I will find a way. See you, Gert.

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Das an die Nieren geht 

gewidmet Gert Hof
 

DAS. Das an die Nieren geht. Und wenn im Rachen des Alls eine Zunge sich spitzt. Hervor schnellt sie, Erdengötter zu greifen. Drei … Zwei … Eins … Zero. Diesen Kuss der ganzen Welt. Satt ist zu essen vom Durst. Wer kosten will vom groben Brot der Wahrheit, muss Märchen verschlungen haben.

Einmal wird sein … Aus dem Schlaf schreckte der Junge mit dem weißen Gesicht und vernahm das Kratzen und Schürfen. Aus dem Schlaf drang das Wachen wie aus Falten das Tal, unerhört. Draußen wuchs wohl das Gebirge der elften Stunde. Es lauern unter dem Bett, wie man weiß, keine Eintagsfliegen. Da juckte es das Kind im Rückenmark. Es lief durchs Zimmer ungeachtet aller Finsternis und riss das Fenster auf. In diesem Augenblick zertrümmerte des Sturmes Stille die Krone des Süßkirschbaums und eine Zacke des dunkelsten Sterns schlug dem Jungen das Auge aus. Flog eine Krähe herbei und sprach, bis sie gealtert war und von Rede leer und aufgesaugt wurde von schlehblauer Farbe, tintenvergällt.

Einmal wird sein. Der Junge mit dem weißen Gesicht warf sich zurück in sein Bett, dem aber das Fenster nun anverwandelt war. So glitt das Kind in den Äther und wusste eine klaffende Wunde in der Welt. Fortan kannten den Jungen die Engel der höheren Ordnung, und wenn sie gut gelaunt waren, dann riefen sie ihn bei seinem Namen. Waren sie aber missmutig, dann forderten sie die Dinge des Unmöglichen ein. Einmal wird sein.

Das Nichtermüdende Wasser sollte der Junge mit dem weißen Gesicht und dem Reptilienauge suchen gehen. Und sollte, so er es gefunden hatte, einen Krug davon tragen durch die ganze Welt und nicht einen einzigen Tropfen davon verschütten, und – angekommen am hohen Berg der Bescheidenheit, der hinüberragt an die Sohle des Ur-Ozeans – selbst leeren den Krug, um beraubt zu sein allen Schlafs und gequält von sämtlichen Träumen, die nun keine Seele mehr finden, sie heimsuchen zu können. Denn das Nichtermüdende Wasser war feuriges Elixier, das an die Nieren geht. Dem brenn ich die Augen aus – so klang dieses Hecheln.

Solche Art, Licht zu machen, ist Wachtraumgeburt. Und was wachend geträumt wird, zischelt, wie man weiß, unerhörter noch als das im Schlaf Erschaute. Der Äußere Raum schlägt um, das Innere stülpt sich über sein Selbst. Fasst das ein Meer, bewehrt mit Himmelsspiegeln. Taucher aus Taucha, einmal wird sein, das Wrack der Titanic jagt dich aus Venus’ Bahnen in die Arenen des Saturn. Musik schlaucht Atemstoff. Blendwerk trifft Augenlicht. Wird so der Stahl gehärtet und gelichtstrahlt der Dachstuhl der Welt. Im Höhlenschwarz hast du Gesicht gezeigt. Hell wurde es, weiß wie Blüten von Kirschen. Oder wie von Kirschblüten nicht. Wie Salzlake, die rinnt hinab an Orangenbaumstämmen.

Und wieder die Prüfungen der Götter. Und die Prüfungen der Menschen. Mit gleißenden Zinken sollst die Sphärenäcker du durchpflügen, sprudelnde Sterne säen, die Glutfelder wässern mit Sonnenschmelze und Stroh verspinnen zu Gold.

Darüber kann ich nur lachen, sagt der Junge mit dem schneefarbenen Gesicht. Und ersteigt die Sternentreppe. Und stößt die Tür auf zum Raum, wo im Ofen die Sonne verbrennt. Und trinkt von Wasser und Licht, um sterben, sich erden zu können und wieder zu werden. Einmal wird sein. Denn er weiß eine Krähe, die Augen aushackt, und einen Adler, der Leber frisst, und seinen geflügelten Drachen, dessen Feuerzunge den Wächtern des Eisernen Turms an die Nieren geht.

Berlin, Januar 2012
© Ina Kutulas