Die Kanzlerin spaziert nie einfach so von hier nach da und zurück

 

Das Café „Dionysos“ mit exklusivem Blick auf die Akropolis ist an diesem neunten Tag im November leer und sehr gut beheizt. „Viele Leute haben das nicht“, kommentiert Chris, „die können diesen Winter das Heizöl nicht bezahlen.“ Für meine Denkarbeit war die Zeit im zum Kühlschrank gewordenen Zimmer tödlich. „Kalt kalt kalt“, das Einzige, was mir durch den Kopf ging, selbst sechs Grad plus genügten nicht, eine Vorstellung von Wärme aufkommen zu lassen. Teile des Gesichts schmerzten, von den Händen zog die Schneide bis zu den Ellbogen hinauf. Knut Hamsun, „Hunger“. Ich weiß, wovon du sprichst. Und das Mal davor war es noch ärger, die Limonade zum Block gefroren, die Flasche zersprungen, vier Wochen verbrachte ich die Nachmittage und Abende unter der Federbettdecke. Dass ich Marquez las, blieb mir in Erinnerung. Aber was genau, welches seiner Bücher? Das Wasser war abgestellt, damit die Leitungen nicht platzten, jeden Abend gegen sechs Uhr füllte die Mutter der Vermieterin einen 20-Liter-Eimer für mich. In der nächsten Wohnung wurde es nicht besser. Manchmal ging ich von acht bis elf Uhr abends durch die Straßen der kleinen Ortschaft, weil es draußen im Schnee wärmer war als drinnen. Ich sah die hell erleuchteten Fenster und dachte: „Dort haben sie’s warm.“ Ich setzte mich in der Bahnhofshalle eine Weile auf die Bank. Aber selbst das Holz war kalt. Trotzdem ging ich jeden dritten Tag wieder hin und blieb etwa eine Viertelstunde dort. Ein Mädchen hielt der Bahnhofskatze einen Finger vor’s Maul: „Beiß beiß beiß!“ Ich versuchte, an das zu denken, was ich gelesen hatte. Uta dann eines Tages: „Komm zu mir bis zum Frühling.“ Bei ihr wohnte ich länger als sechs Wochen. Abends betrachteten wir vom Schlafplatz aus die Sterne. Morgens gingen wir zusammen zur Arbeit. Tagsüber sahen wir uns kaum, außer in der Mittagspause. Im Speisesaal war es warm. Man sagte: „Mahlzeit“, wenn man sich zu den anderen an den Tisch setzte. Im Atelier und in der Weberei war es warm. So auch in der Lohnbuchhaltung, in der Kaderleitung und in der Buchhandlung im Ort. In den Schulen war es bestimmt auch warm. In der Bäckerei war es manchmal sogar heiß. Aber im Hinterhaus spürte ich davon nichts. Manchmal klagte die Mutter der Vermieterin darüber, dass man ihr alles weggenommen hatte, und ich hörte ihr zu. Bei ihr im Flur war es auch warm. In keiner der Wohnungen gab es ein WC mit Spülung. Ende des 20. Jahrhunderts. Jetzt leben wir im 21. Jahrhundert. Die Menschen fällen Bäume, Olivenbäume, Akazien, Pappeln, Maulbeerbäume, Feigenbäume, Kiefern und noch andere Bäume, um mit dem Holz Feuer im Kamin machen zu können, damit überhaupt noch irgendwas geht. Es hängt natürlich davon ab, ob es einen Kamin in der Wohnung gibt. Oder die ganze Familie zieht, wie vor 50 Jahren, wieder in die Küche, wo gekocht wird und wo es deshalb einigermaßen warm ist. „Denen es vorher gut ging, denen geht’s jetzt auch noch gut“, sagt Friederiki. Ich kenne nicht die Namen aller Bäume. Bliebe mir aber mehr Zeit und gäbe es jemanden, der sich auskennt, würde ich sie irgendwann wissen, egal, ob das jemanden interessiert oder nicht. „Es ist nicht genug zu wissen.“

Ob man im Wohnviertel etwas merkt von der Krise, so die Frage. „Ich war ja da“, sagt Lotti, „ich weiß ja, wie es da riecht, wie es aussieht. Diese Fotos decken sich nicht mit dem, was ich erlebt, was ich kennen gelernt habe.“ Lotti wendet die Seiten des Buchs „Avenue Patrice Lumumba“. „Aber wann beginnen Fotos zu duften?“ Und wann, in welchem Licht, bei wie viel Grad minus beginnen meine Augen Hamsuns Hunger zu sehen, beginnt mein Geruchssinn den Duft des Jasmin als nicht mehr existent wahrzunehmen oder zu verklären, obwohl ich die Blüte direkt vor der Nase habe. Es ist kaum noch Musik zu hören. Die Schulkinder lärmen, die Glocke schlägt sehr schnell. Kaum noch Musik. Wenn immer Musik war, fällt es auf, wenn keine mehr ist. Aber den Unterschied wahrzunehmen, muss man dort gewesen sein und es erlebt haben. Oder man muss es erfahren haben, davon gehört oder es sich einfach vorstellen können. Wenn man es sich nicht vorstellen kann, gibt es keinen Unterschied. Wenn man selbst nicht da gewesen ist, weiß man es einfach nicht. Oder doch. „Griechenland verschwindet? Wie meinst du das? Die Menschen verschwinden ja nicht. Es ist dann eben so etwas wie ein kleines, armes Land in Afrika.“ Ein Platz wird sich sicher finden für jede der lächelnden Koren des Akropolis-Museums, ob sie dann in der Eremitage stehen oder ob Athen türkisch sein wird oder russisch oder deutsch oder Griechenland unter chinesischem oder kanadischem Protektorat steht oder ob es Ruganien heißt. Die Koren müssen die marmornen Granatäpfel sicher nicht aus der Hand geben, und niemand wird so dumm sein, ihnen die Hände abzuschlagen und ihnen das Lächeln aus den marmornen Gesichtern zu kratzen. Dieses Lächeln gehört ja nicht den Griechen allein. Dieses Lächeln gehört immer denen, die sich einen Kore leisten können. Es ist ganz einfach. Nichts geht verloren, so lange es als in jemandes Besitz befindlich betrachtet wird. Ein Tier gehört dem, der es zähmt und sich vertraut macht, so erfuhr der Kleine Prinz vom Fuchs. Oder gehorcht.

Durch völlig leere Straßen in der Athener Innenstadt ging Angelika Merkel an der Seite von Andonis Samaras am 26.10.2012, die protestierende Bevölkerung wurde ferngehalten, 7.000 Polizisten waren zusammengezogen worden, um die Sicherheit der deutschen Kanzlerin zu gewährleisten. Keine Stecknadel. Dass kaum Musik zu hören ist, ungewöhnlich. Dass die Straßen der Athener Innenstadt vollkommen leer waren, ungewöhnlich. Hast du persönlich die Menschen Schlange stehen sehen vor den Suppenküchen? Nein. Hast du persönlich eine einzige Mutter ihr Kind bei einem SOS-Kinderdorf abgeben sehen? Nein. Hast du persönlich teilgenommen an einer Demonstration auf dem Syndagma-Platz? Nein. Wer weiß, ob es stimmt, was man hört. Ich stand auf dem Bahnsteig der Metro-Station Syndagma-Platz und hörte die Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste! Um 14 Uhr werden diese und drei weitere Stationen des Innenstadtbereichs geschlossen. Die Belüftungsanlage ist außer Kraft.“ Oberirdisch der Platz mit den abgeschlagenen Marmorplatten der Treppenverkleidung. Ich hätte gedacht, dass der Schaden viel größer sei. Dem Augenschein nach waren die Orangen, Bohnen und Tomaten auf dem Samstagsmarkt weitaus aromatischer als in den Jahren zuvor. Können Fotos riechen? Ist die Wirklichkeit eher zu lesen, wenn du sie verstummen lässt in deinen Fingern? Schreib alles auf. Fotografiere. Sing. Geh auf die Straße. Zieh dich aus. Spring. Weiche der Zukunft aus. Verspeise das Lied. Ernähre dich von deiner Markise. Iss das Schwein deines Nachbarn. Du bist Terrorist, wenn du einen Job willst. „Heute Abend“, sagte Kostas, „werde ich dabei sein, vor dem Parlament. Du weißt nicht, was hier los ist. Ich hab die Juntazeit miterlebt. Das hier ist schlimmer als zur Zeit der Junta.“ Wenn du dich nur nicht täuschst. Wenn du nur nicht irrst. Wenn du nur die Wahrheit sagen würdest. Wenn du die Wahrheit kennen würdest. Wenn du hier wärest, mit eigenen Augen sehen könntest, wenn du bliebest, wenn du nicht bleiben könntest, wenn du ausweichen müsstest, wenn du in dein Unglück rennen müsstest. „Manche sind seltsam geworden“, so der Dichter, „die sagen mir: Du hast ja Arbeit, du kannst mich absolut nicht verstehen, von mir bekommst du gar nichts, weder einen Text noch eine Zeichnung. Du weißt ja nicht, wie es mir geht … Und andere sagen gar nichts mehr.“ Im Parlament treten sie ans Rednerpult, einer nach dem anderen und sprechen. Kaum einer, der nicht etwas mehr Redezeit verlangt. Dieser Herr: „Griechenland ist nicht Iphigenie.“ Meint er Iphigenie, bevor sie geopfert wurde, Iphigenie im Augenblick, da sie geopfert wird, oder Iphigenie, die entrückt weiter existiert, anderswo, eine Zeitlang, übergangsweise. Die Medien berichten davon, dass bei den Protestversammlungen Tränengas und Blendgranaten zum Einsatz kommen. Die dort waren, haben anderes zu berichten. Wem kann man glauben. Ich glaube denen, die dort waren und in Panik gerieten. Ich glaube denen, die sich nicht mehr jeden Tag rasieren. Ich glaube denen, die sich noch nicht rasieren müssen. Ich glaube denen, die den Zahnarzt nicht mehr bezahlen können. Ich glaube denen, die immer geschrieben haben. Ich glaube denen, die viele Lieder in- und auswendig wissen. Ich glaube denen, die sagen, sie hätten sich geirrt. In ihnen, letztendlich, erkennt Griechenland sich wieder. Aber vielleicht irre ich. Vielleicht war ich nie dort. Vielleicht war es der zehnte Novembertag. Und vielleicht war es erst der elfte, an dem ich ankam, als ich abflog und meinte, nichts gesehen zu haben mit meinen Augen. Die kleine Kanzlerin hebt die Hand.

Berlin, 14. November 2012
© Ina Kutulas