Am anderen Ufer der Elbe liegt China

 

Herbert L. bin ich bisher leider nur dreimal begegnet. Das erste Mal in Dresden, da, wo er wohnte, und es hing ein Seil im Eingangsbereich von einer sehr hohen Decke herunter, und ein Kind fasste es und schwang hin und her, und ich dachte: So etwas gibt es also auch in dieser Republik, alle Achtung! Das zweite Mal traf eine Postkarte ein mit der Frage, wo man in Griechenland am besten mit dem Rad das Land erkunden könnte. Vielleicht irre ich mich, aber ich meine mich zu erinnern, dass Herbert L. in Griechenland mit dem Rad herumfahren wollte, und dass er nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass das schwierig werden könnte. Auf solche Gedanken kam ich. Aber wir Menschen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ich glaube, ich sah Herbert L. vor meinem geistigen Auge mit einer Pudelmütze mit Bommel. Männer, die ihre Ohren schützen, können nicht unbedacht handeln, meine ich. Das dritte Mal traf ich Herbert L. 2011. Wir sahen zusammen einen Film und unterhielten uns und später saßen wir zusammen in seinem Auto, und ich glaube, es lag dort etwas Stroh herum, es war in einem der Sommermonate – oder irre ich, Herbert?, und du hast in deinem Auto ab und zu trockenes Gras transportiert. Für deinen Vater? – Herberts Vater lebt im Altersheim. Einmal, als Herbert mit seinem Vater an der Elbe spazieren ging, zeigte der Vater über den Fluss hin zum anderen Ufer und sagte: „Da drüben … liegt China.“ Pause. Dann, bedacht: „Aber das verstehen die Leute in meinem Altersheim nicht.“

Für mich ist diese Aussage eine der schönsten Liebeserklärungen an das Leben, in vielerlei Hinsicht. Nicht nur, weil der Name Ina sich reimt auf China. Das ist noch das Wenigste.

Mein Kollege Gregor Kunz zitierte einmal seine Kollegin Barbara Köhler: „Der Elbe in Dresden sieht man den Atlantik nicht an.“ So jedenfalls meine ich es zu erinnern. Ich kann mich irren. Aber es war auf jeden Fall nicht: „Wer weiß, ob man die dicken Einleitungsrohre noch sieht.“ Ich freue mich auf die korrigierenden Worte von Gregor Kunz oder Barbara Köhler … oder Tilo Köhler. Sie haben etwas zu sagen. Es geschehe! Wann auch immer. Zeit ist genug. Am anderen Ufer der Elbe liegt China. Winke winke. Eure Ina!

© Ina Kutulas