Über die Apassionata-Frauen & Zoes Gedicht für die Welt

Apassionata-Tagebuch, Berlin, 2. November 2017

Apassionata – Hausherrin oder Dame des Hauses …
Der Legende nach existierte Apassionata einst als Frauensperson. Hört man davon, klingt das beinahe so, wie es im Werbeslogan für ein Kraftfahrzeug heißt: “Mercedes war eine Frau”. Mercedes war eine Frau, und auch Apassionata soll eine Frau gewesen sein. Welches Leben hat sie geführt? Mercedes: der Name der Tochter eines Geschäftsmannes, der sogar die Erlaubnis erhielt, sich Jellinek-Mercedes zu nennen. Ein Mann, der den Namen seiner Tochter annahm. Diese Tochter wurde nicht sehr alt. Und Apassionata … Kann man sie sich vorstellen als Hausfrau, kinderlos oder mit einem, zwei oder mehr Kindern, die eine Kräuterspirale angelegt hat, zur Wassergymnastik geht, Patchworkarbeiten fertigt und diese manchmal in Gemeinschaftsausstellungen zeigt, die das Einwecken beherrscht, auf Senfwickel schwört und die als Vorsitzende des örtlichen Vereins der Neophytenbeobachter von den einen belächelt, von den anderen geachtet wird, als weiblicher Kassenwart aber von allen anerkannt wäre? Ist Frau Apassionata Mikrobiologin mit Migrationshintergrund? Moderatorin? Architektin? Malerin? Hat sie eine Führungsposition inne? Ist sie beruflich ständig unterwegs, verlässt sie die Wohnung fast immer geschminkt, verbringt sie die Nächte allein oder zu dritt, kleidet sie sich klassisch sportlich, hat sie eine Haushaltshilfe, macht sie Dehnungsübungen, kommt sie ohne Navigationssystem aus, weiß sie genau, was sie will? Kann Apassionata überhaupt dem Klischee einer Frau entsprechen?

Die Nomadin
Apassionata könnte eine Frau sein, eine exotische Nomadin, die sich ausgefallen kleidet, schminkt und frisiert, die umherzieht mit ihren Tieren und ihrem Zelt, mit ihren Peitschen, Vorräten und Futtersäcken, eine Nomadin, die vor sich hinsummt und wachsam ist, die alte Wege aufspürt, sich an schwer lesbaren Zeichen orientierend, die das Feuer zu entfachen versteht, die Schamanen konsultiert und zuständige Beamte. Dreimal kann man raten, ob diese Nomadin zuerst die einen oder die anderen aufsucht, bevor sie ihr Zelt aufbaut. Die Nomadin Apassionata hat aus uralten Zeiten eine tragbaren Schrein übernommen, den sie stets mit sich führt. Unter anderem befinden sich darin Waschpulver, Salbe und ein wenig Kitsch. Denn Kitsch ist das einzige Mittel, das hilft gegen Schutzlosigkeit, Überdruss und tiervertreibendes Unwetter. Kitsch bringt ein starkes Funkeln in die Welt. Und Apassionata, die Nomadin, hat ein Funkeln im Blick. In den großen Städten wirkt sie lasziv, in den mittelgroßen Städten kameradschaftlich, in kleineren Städten bodenständig. Doch tatsächlich ist sie immer alles zugleich. Ihre Anpassungsfähigkeit lässt sie überleben. Sie verliert sich nie. Sie wohnt im Unwohnlichen. Dieser uralte Schrein ist ihre einzige Bürde. Er wiegt so viel wie ein ganzes Stück Welt.

Der Apassionata-Himmel
Apassionata – das sind Männer und das sind etliche Frauen. So, wie die Karyatiden das Dach des Erechthion-Tempels auf dem Akropolis-Hügel in Athen tragen, so tragen die Apassionata-Frauen den Himmel der Apassionata, der immer mit der Show wandert und in dem über die Show entschieden wird. Der Himmel über Apassionata ist wechselwettrig, und es bedarf eines Overstage-Passes, um in besonderer Angelegenheit dort vorsprechen zu können. “Chef” ist hier nicht zuhause. Der Organismus “Chef” residiert in der Vielverortung. Der Apassionata-Himmel verengt und weitet sich, er verschiebt seine Etagen und Trennwände und variiert die Deckenhöhen. Es ist ein Himmel, der von vielen Armen getragen werden muss. Der Apassionata-Himmel ist kein Erechthion-Tempel. Dem Apassionata-Himmel würden fünf oder sechs Frauen als Stützen nicht genügen. Im Apassionata-Himmel stauen sich hin und wieder die Gebete. Dann macht er eine Metamorphose durch; er wird federleicht, so dass ein Windstoß ihn fortfegen könnte, wären da nicht die Apassionata-Frauen, die darauf achten, dass dieser Himmel nicht abhebt.

Die Stärke der Apassionata-Frauen
Amelie versteht sich auf Anschlusskabel und die Hebebühne und auf das unmerkliche Einwirken der Dichtung des Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau auf die Realisierung der Apassionata-Show; Amelie versteht sich außerdem auf ein spezifisches Vokabular, das international beherrscht wird von Frauen und Männern mit Leuchten.
Liliana versteht sich auf komplexe Zusammenhänge und netzartige Strukturen in Verbindung mit Unendlichkeitsschleifen, Stoffwechselkreisläufen, Fahrplänen und wahrscheinlich auch Blüten-Teemischungen, wenn erforderlich.
Susanne versteht sich auf Farben, Verdünner, Schattenverläufe, auf das Höhen von Weiß, auf Pinsel und das Reparieren von Stoßstellen an Wolken.
Ondria versteht sich auf Bartreiniger und die Bedürfnisse von Dauerwellen-Kitty, außerdem aber auch auf seelisches Fieber, mit dem man, wie mit dem Feuer, nicht spielt.
Brigitte versteht sich auf Stroh und Stall, auf riesige Pferde und alle anderen Pferde jeglicher Größe und Schwere und auf die Beantwortung jeder Frage während der Stallführungen und zu allen Zeiten, da Fragen aufkommen.
Lotti versteht sich auf Geschichte, Koordination von Tänzerinnen, Tänzern, auf das Tragen eines Hütchens und den choreographierten Einsatz von Jojo-Bällen; vor allem weiß sie jegliches Stolpern in einen erstklassigen Wechselschritt zu verzaubern. Lotti ist der Spiegel, der in Erscheinung treten lässt, was sich zeigen soll.
Kerstin versteht sich auf die Große Freiheit, die Freiheit ihrer Tochter Hannah und auf der Freiheit besondere Unfreiheit, die sich in Freiheit wandeln will; Kerstin trägt ein Funkeln in die Arena, das die Nomadin Apassionata auszeichnet.

Anita versteht sich auf die Eigenwilligkeit der Zeiten, auf Pferde, die jung sind, Pferde, die sich verirren, Pferde, Pferde, Pferde, auf Vermittlung zwischen Pferd und Nichtpferd und auf die Liebe, die in alles hineingelegt werden muss, was ewig halten soll.
Heike, Isa, Laura, Dagmar, Alexandra verstehen sich auf das Anmessen der Gewänder, auf Taille und Bizeps, auf Woppi, den Apassionata kundigen Hund, und auf seine Bannkreise, sie verstehen sich auf das tiefe Schweigen, das in der Kostümbildnerei phasenweise vorherrschen muss, damit der richtige Reißverschluss für ein Kleid entdeckt werden kann, wenn er sich in einer riesigen Tüte vergraben hat.
Die Frauen vom Catering verstehen sich auf Ausdauer und ein feines Lächeln, auf den Kaffeeautomaten und seinen Beschützer, der obenauf steht und einen Helm trägt, sowie auf den Heißwasserbereiter und darauf, dass immer etwas zu essen da sein muss, und sie verstehen sich ebenso auf die Reinhaltung der kreisrunden weißen Tischplatten, die energetische Zentren bilden, gefüllt mit einer besonderen Himmelsmilchfarbe, die alle über ihre Tellerränder schauen lässt.
Die Reiterinnen verstehen sich darauf, stets sattelfest zu sein, in jeglicher Hinsicht, sie verstehen sich darauf, Prioritäten zu setzen, auf Pünktlichkeit und Improvisation und auf die Kommunikation mit den voneinander verschiedenen Reitern.
Die Drei Katharinen verstehen sich auf Gemütsfürsorge, auf das Mysterium des Universums und auf manches natürliche Mittel, um dieses Mysterium für die Apassionata wirksam werden zu lassen.
Die Apassionata-Frauen verstehen sich jede Einzelne und alle zusammen hervorragend auf Apassionata.

“Chefin”
Beide Frauen, Mercedes und Apassionata, haben mit Pferdestärken zu tun. Die eine Tochter eines Geschäftsmanns, die andere Nomadin, die ihr Zelt immer wieder abbaut und einpackt. Beide vom Unterwegssein verlockt. Mercedes ist jung gestorben; ihr Name lebt fort. Apassionata nimmt ihren Weg unter dem Apassionata-Himmel, emporgehoben von allen unerschrockenen Apassionata-Frauen als Trägerinnen dieses Himmels – kein Tempel aus urewiger Zeit. Wovon die Apassionata-Frauen träumen, das verwirklicht sich sichtbar in ihrem täglichen Tun, jetzt sogleich sofort. Von ihren Schwestern, den Karyatiden des Erechthion, unterscheiden sie sich. Die Apassionata-Frauen stehen nicht still. Doch auch sie setzen sich den Wettern aus, und wie ihre das Tempeldach tragenden, reglosen Schwestern wissen sie, die Regsamen, um die Hybris, die selbst den Stolzesten eines Tages tief stürzen lassen kann. “Chef” sieht alles, “Chef” kann alles, “Chef” weiß alles. Die Apassionata-Frauen sind “Chefin” und gehen zusammen mit “Chef” die Wege der Nomaden. Den Apassionata-Himmel führen sie mit sich. So weit ihre Zügel reichen. Bis hin zu den Gefilden der Luftschiff-Flüsterer.

Text © Ina Kutulas

———————————————

Ina Kutulas
Zoes Gedicht für die Welt

Ich träum, wie die Welt das Leben erträumt 
Ich träum, wie die Milchstraße all ihre Sterne aufziehen lässt
über der atmenden Erde 
Und ein Wort dringt an mein Ohr – Hoffnung 
So singt es das Lied einem jeden,
der sich des Lebens Fülle erdenkt,
wie auch der Fluss singt von seiner Quelle
wie der Kristall von Sonnenhelle
wie die Feder von des Vogels Flug
wie das Schwert, das entscheidet über Ende und Beginn

Ich träum, wie die Welt das Leben erträumt
ein Leben, das keinen Tag versäumt
im reichen Ergrünen, wo alle Linien, wo alle Zweige
einander berühren, einander begegnen
wie in einem Herzen, zu dem alle Wege führen
Hoffendes Herz – von ihm spricht ein jeglicher Baum

Ich fühle dich wieder, Erde, du lebst,
wenn du, dich drehend, immer dahin strebst,
wo ein Beginnen das nächste jagt
– Mittag wird, Abend wird, die Nacht kommt, es tagt
und wenn wieder und wieder ein Tropfen fällt
aus des Himmels Meer in des Gartens Welt
Ich träum, wie die Welt das Leben erträumt
Ich weiß von der Hoffnung, denn ich weiß von den Bäumen 
Lass mich mit dir vom Erblühen träumen
Es ist keinen Tag für das Leben zu spät
Ich weiß von den Bäumen: Jeder Winter geht
gibt die Erde ihr Schwarz den Lichtstrahlen preis
Ich sag dir, was ich vom Leben weiß
Hoffnung – ein Wort, und es bricht dunkles Eis.


Und immer wieder zu hören während der Proben:

DIE GESCHICHTE VON CLAUDE & ZOE

Ich bin Claude, der Rektor dieses Gymnasiums. Früher war ich hier Schüler. Und auch mein Vater, mein Großvater und mein Urgroßvater waren schon Schüler hier.
Mein Urgroßvater hieß Claude, wie ich. Ich hab ihn natürlich nicht mehr kennengelernt, doch heute konnte ich einiges über ihn erfahren. Besser gesagt: von ihm selbst …

In der Baugrube für das Fundament der neuen Turnhalle haben wir neulich ein rätselhaftes Behältnis entdeckt. Was für eine Überraschung! Es glänzte im dunklen Sand, als würde es uns rufen. Eine Zeitkapsel! Wie spannend!

Ich wollte sie gleich öffnen, doch das Schuljahr ging zuende, und ich musste immerzu Zeugnisse schreiben. Für so etwas Besonderes aber braucht man Ruhe. So blieb die Zeitkapsel im Safe. 

Heute war der Moment endlich da. Alle hatten sich verabschiedet in die Ferien. Stille kehrte ins Gymnasium ein. Jetzt nahm ich die Zeitkapsel aus dem Safe. Ich war sehr gespannt auf das, was sie enthielt. Ich schraubte sie auf. So viele zusammengerollte Papiere! Vor mir lagen die Aufzeichnungen der Schüler von damals wie Briefe an die Zukunft. Und dann sah ich, dass einer dieser Briefe von Claude, meinem späteren Urgroßvater geschrieben worden war.
Der Brief begann mit folgenden Zeilen:
„Keine gute Zeit. Mir ist, als würde die Welt gefrieren. Die Bäume verschwinden, alles Grün vergeht. Die Welt ist immer mehr eine Welt der Maschinen geworden. Der Ozean des Universums, der diese Welt umgibt, erstarrt. Und die im Eis gefangene Erde will sich nicht länger drehen … Wir müssen diesen Niedergang des Lebens aufhalten, damit es wieder gedeihen kann. Und die Menschen in späteren Zeiten sollen lesen können, was jetzt passiert.“

SPHÄROS’ Mission ist beendet. Alle fünf Elemente zusammen ergeben die Ewigblühende Rose. Das Wasser der Verborgenen Regenbogenquelle, der Federschmuck der Indianer, der Kristallstein der Eskimos, das Schwert der Samurai und … ein sie alle einendes Element: die Liebe. Der junge Mann, der die Rose überbringt, küsst das Mädchen … Und die Welt belebt sich neu … Claude schrieb: „Mit dem, was ein jeder an Schönheit gibt, ist Schönheit in der Welt. Aus dem, was zwei einander geben, erwächst die Kraft des Lebens. Mit jedem Kuss.“ Das Eis schmolz … im wahrsten Sinne des Wortes.
Eigentlich … Ich frage mich: Hat Claude das alles erlebt, oder hat er aufgeschrieben, was ihm in einem Traum erschienen war?

Nichts half offenbar. Die Erde drohte stillzustehn, das meiste Grün war schon erstorben … In Claudes Brief ist zu lesen: „Ein Luftschiff ist aufgetaucht wie ein Traum. Seine Name: SPHÄROS. Es gleitet in seichten Höhen über Berge und Seen, über Meere und Städte, getragen allein von den zauberischen Winden der Wandlung; SPHÄROS sucht sich selbst seinen Kurs. Dieses Luftschiff bringt seine Briefbotschaften in die ganze Welt: Wo sind die Kräfte, der unheilvollen Macht zu begegnen? Wer weiß von den Zaubermitteln, die das Leben erneuern können? Wo sind diese Schätze zu finden? Was werden wir finden? Wer kann die magischen Elemente einen, dass die Erde sich weiter dreht und neu belebt?“ 

„In Kalkutta fand sich das heilige Wasser der Verborgenen Regenbogenquelle. Doch das Böse zu besiegen, reicht es noch nicht.“ So steht es im Brief: „Es wird immer wärmer. Mich umfängt der Zauber der Nacht. Hoch über mir die silbrigen Sterne. Ich träume vor mich hin und fliege mit SPHÄROS, dem Luftschiff meiner Fantasie, zum nächsten Ort, zu dem es mich hinzieht, zum nächsten Element, das gefunden werden will.“

„Ein Tanz kann ein Leben verändern und eine Rose zu einem Reisebegleiter werden“. Das schrieb Claude damals. Romantisch, wie ein junger Poet. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass sich nicht weit vom Jungengymnasium früher auch ein Mädchengymnasium befand. Und die Jungen kamen dort immer vorbei.

Ich glaube, Claude – zu dieser Zeit gerade sechzehn –, er war wohl nicht nur auf der Suche nach einer besseren Welt … Er muss verliebt gewesen sein. So verstehe ich seine Zeilen:„Und weiter geht die Reise mit dem Luftschiff SPHÄROS über Wüsten, Gebirge und ewiges Eis bis zu den entferntesten Längen- und Breitengraden … Als würde ich tanzend träumen. Jeden Tag eine dunkelrote Rose am Revers.“

„Mit SPHÄROS, dem Luftschiff, sind bereits der prächtige Federschmuck der Indianer und der makellose Kristall der Eskimos auf die Reise gegangen. Es fehlt aber noch ein letztes Element: das heilige Schwert der Samurai. Wir sind auf der Suche danach.“  – So steht es im Brief.

Das Luftschiff SPHÄROS kehrte zurück an den Ort, wo die Welt im Eis schon gefangen schien, an den Ort, wo SPHÄROS’ Reise begonnen hatte, dorthin, wo der Gymnasiast Claude damals wartete und hoffte, dass Menschen aus allen Ecken der Welt einträfen, die magischen Elemente zu einen.

„Sie sind gekommen“, heißt es im Brief. Doch ehe ich weiterlese, möchte ich erst noch einmal durch das Gymnasium gehen, ganz allein, und mir die leeren Räume anschauen. Auch den Klassenraum, in dem mein Urgroßvater als Schüler gesessen hat. Und von wo er durch das Fenster zum Mädchengymnasium hinübersehen konnte, wenn sein Blick über die Baumkronen ging … Also bis gleich!

Jetzt, wo ich im Klassenraum des Schülers Claude stehe, der mein Urgroßvater war, schaue ich aus dem Fenster, und zum ersten Mal sehe ich etwas, das mir ohne den Brief nie aufgefallen wär. Da drüben … Zu wem hat mein Urgroßvater wohl hinüber geschaut …? Eine niedrige Mauer ist dort, die zum Balancieren einlädt, als riefe sie ein Mädchen heran, dieses Mädchen, das sich hin und her drehen sollte, um von Claude bemerkt zu werden. Und dahinter muss ein Bau gewesen sein. Pfeiler und Stützen, Leitern und Balken, Gewichte und Räder, Ketten und Stangen – die Architektur eines Fabriksaals. Wie errichtet für ein Fest der Maschinen, für einen lärmenden Ball der Giganten aus Stahl, aus Motorengedröhn und schrillen Tönen. Und über diesem Saal wölbte sich die Kuppel mit dem Globus, der sich nicht mehr drehte, sondern stillstand wie ein erfrorenes Herz.

Das ist die Geschichte meines Urgroßvaters. Ich wollte sie euch unbedingt erzählen, bevor ich heute das Gymnasium verlasse. Bevor ich die Tür zum letzten Mal abschließe, denn ab jetzt bin ich Pensionär. Allerdings … Zu dieser Geschichte gehört auch das Gedicht des Mädchens. Ihr Gedicht, das in der Zeitkapsel wartete, von uns entdeckt zu werden. Und wie ich eben erst begriff, dieses Mädchen, in die der junge Claude sich verliebt hatte, das war später meine Urgroßmutter Zoe.

Text © Ina Kutulas

Ausgiebige Huldigung an die Brandschutztür

Apassionata-Tagebuch, Berlin, 5. November 2017

Schwellensituation

Die Brandschutztür steht niemals weit offen. Energetisch aufgeladen mit ihrer eigenen Verschlossenheit, weckt sie leise Erwartungen in jedem, der sich ihr nähert. Lauscht man aufmerksam, während man die Entfernung zur Tür verringert, hört man sie umso deutlicher  wispern. Die Spannung wächst. Die Brandschutztür verlangt einem ein wenig Habacht ab. Etwas bereitet sich vor … Hat man die Klinke und leicht gegen den Türflügel gedrückt, lässt die Brandschutztür einen passieren und schließt sich gleich darauf wieder. Es sind nur zwei, drei Schritt von einer Hälfte der Hallenwelt in die andere, und keine von beiden ist die schlechtere. Diese Halle funktioniert als geparkte räumliche Gesamtsituation, die ein Luftschiff, ein Iglu, einen Globus und eine ganze Mannschaft in Obhut hat und die Brandschutztür als Instanz. Die Brandschutztür (mit Wächter1 der Show, mit den Drei Katharinen, mit “Chef” und “Chefin” im Bunde), sie bleibt für Apassionata in Riesa in Stellung. Keine Chance den Feuersbrünsten der Welt! Die Brandschutztür ermöglicht wehrhafte Blockade, sie öffnet sich nur in eine Richtung, sie ist somit wegweisend und wirkt Orientierungslosigkeit entgegen. In der Brandschutztür irrt man nicht.

Transformationen

Die Brandschutztür wandelt freie Bewegung in gerichtete Kraft. Jeder, der durch diese Tür gegangen und so aus dem einen Bereich der Halle in den anderen gekommen ist, wird “drüben” zu einer Erscheinung, für zwei Sekunden, kaum dass er diese Tür hinter sich hat. Jeder hat an dieser Stelle, in diesem Moment Ausstrahlung und Aura. Es würde nicht weiter erstaunen, ließen sich Begrüßungs-, Bewunderungs- oder Hochrufe vernehmen. Stattdessen beinah jedesmal bemerkenswertes Schweigen. Hier ist jeder ein König. Ein ruhiges In-Sich-Gekehrt-Sein hat sich des Erschienenen in Nullkommanix bemächtigt. Die Brandschutztür im Rücken. Nichts weiter als ein schlichter Hintergrund, so hintergründig jetzt wie vordem vordergründig, drüben, auf der anderen Seite, wenn man vor dieser Tür stand, im Begriff, sie zu öffnen. Zwischen Vorher und Nachher, zwischen Dort und Hier liegt die magische Sekundenphase eines Seitenwechsels. Wechselwirkung setzt ein. Blicke erfassen bereits die Gestalt dessen, der plötzlich im Raum steht, als übernähme die Vorderseite seines Körpers die Funktion eines munteren Lebkuchenglanzbildes, das den Lebkuchen an sich aufpeppt. Jeder Erschienene könnte was bringen, könnte Mitteilung machen wollen. Er könnte die Botschaft zu verkünden haben: “Apassionata forever! Herz statt Commerz!” Die Brandschutztür ist ein Heiligtum. Wer durch die Brandschutztür gekommen ist, nimmt sich auf der einen Seite des Flügels wie eine Prophezeiung aus, auf der anderen wie ein Prophet.

Kosmisches und mehr

Man wirkt ein wenig “erweitert”, stärker dimensioniert, ist die Brandschutztür gerade lautlos ins Schloss gefallen, kaum ist man im Hüben angelangt, das eben noch das Drüben war. Man ist itzo eingetroffen und so gestimmt, dass eine spontane Great Performance das Normalste der Welt wäre. Holger könnte hymnischen Gesang anstimmen. Er verhält sich stattdessen. Er ist die Größe π im Allüberall des Apassionata-Wirkungsbereichs. Die Hymne der Apassionata wird täglich neu geschrieben, von unsichtbarer Hand. Sie dringt in jede Ecke der Halle, sie lässt die Farben klingen, sie erfüllt die Vorbereitungszeit der Show wie Zimtaroma die Duftkörbe. Die wohltemperierte Stimme von Stage Manager ist zu hören: “Noch sieben Minuten bis … Noch fünfzehn Minuten bis … Zwanzig Minuten noch bis …” Matthias’ Ansagen wären im Fall des Falles die beste Vorbereitung auf den Start einer weltrettenden Rakete. Eine stark verlangsamte Rakete ist das Apassionata-Luftschiff. “Crew” an Bord und zur Stelle. Die Brandschutztür eine Luke zum All, aus dem alles kommt, in das alles wieder eingeht. SPHÄROS, das Luftschiff, gleitet in großem Bogen von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Woppi on his way

Woppis Anwesenheit konterkariert die Situation Brandschutztür. Woppi beschleunigt nicht, er bummelt nicht, er hat seinen eigenen Spürsinn und ein geflecktes Fell. Woppi ist Extremrealist, ohne Frage. Woppi unterscheidet sich vom Pferd, er geht nicht durch, er macht Leika, der ersten Raumfahrt-Hündin, die schönste Ehre (die gerade heute vor 60 Jahren in die ewigen Jagdgründe einging und Woppis seelische Urgroßmutter sein könnte). Woppi verfällt hin und wieder in leisen Schlummer. Woppi liebt die Woppi-Decke. Von den Pferden weiß man weniger. Oder mehr. Je nachdem, welche Beziehungen man zu ihnen aufgebaut hat. Es war wohl nie zu erleben, dass ein Pferd durch die Brandschutztür geführt wurde und menschenähnliche Wandlung erfuhr. Den Pferden sind das Portal zur Arena mit den beiden Toren, die Black Box und hinter der Black Box eine weitere Lauffläche die Wandlungszonen. Woppi, der Hund, ist im Bereich der Brandschutztür die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Keinerlei Veränderung. Woppi mag einer anderen Weltensphäre angehören. Er huscht durch den Brandschutztürspalt und braucht keine Zehntelsekunde, sich der veränderten Raumsituation anzupassen oder einzufügen. Woppi erwartet womöglich, dass die Raumsituation sich auf ihn einstellt. Häufig tut sie ihm den Gefallen. Tut sie es nicht, macht sich Woppi bemerkbar. Besonders gern in der Kostümbildnerei. Für Woppi vielleicht der beste Ort, um von Zeit zu Zeit etwas Krawall zu schlagen, denn dort hat er ein Alleinstellungsmerkmal als Krawallmacher. So, wie er auch im Bereich der Brandschutztür ein Alleinstellungsmerkmal hat: Woppi, the Cool.

It’s magic!

Alle Kostüme, die aus der Kostümbildnerei in die Halle und von dort zurück in die Kostümbildnerei getragen werden, verwandeln und wiederverwandeln sich. Kein Kostüm ist bis in die letzte Faser zweimal das selbe. Die Brandschutztür nimmt Einfluss auf das Getragenwerden, und das Getragenwerden nimmt Einfluss auf den kostümtragenden Träger. Niemand und kaum etwas bleibt unbeeinflusst und sich selbst einen ganzen Tag gleich. Kein Handy, kein Hütchen, kein Kaffeebecher, keine Wasserflasche, keine Karotte, keine Liste, kein Jojo.

Die Brandschutztür bedeutet eine Unterbrechung für den gedankenverloren Forteilenden, den flinken Hin- oder Hergänger; sie unterteilt das Von-Hier-Nach-Dort in zwei Phasen. Es wird etwas wie ein Vor-Und-Hinter-Dem-Bühnenvorhang daraus. Die Brandschutztür ist Befindlichkeits-Schleuse – und zugleich Schranke. Nur dem Feuer gilt sie als Sperre. Dem Sperrfeuer des Zeitdrucks bietet sie die breite Seite. Sperrangelweit auf stößt diese Tür allein ein mächtiger Sturmwind, der dem Gehetzten, dem schnell weiter eilen Wollenden die Klinke aus der Hand reißt. Dann strömt heftig bewegte Frischluft in den Raum, sich vermischend mit Heizluft, die aus den Löchern des durchsichtigen Schlauchs unter der Decke in den Cateringbereich geblasen wird. Die langen weißen Stoffbahnen vor den Wänden schlagen Wellen, der Flanell wird oberflächlich gekämmt, Staub aus ihm herausgelöst und fortgeweht, hinein in die Lücken zwischen und hinter den Waschmaschinen und Wardrobe-Cases oder hinaus ins Weite, bis nach Oschatz. Dieser Staub soll niemanden kümmern. Die Brandschutztür ist das eigentliche Thema, Apassionata in Riesa durch die Wirkmacht der Brandschutztür reinste Magie.

Conditions

Steht die Brandschutztür länger offen, stimmt etwas nicht. Die Brandschutztür schützt generell vor zu viel Wirbel. Wenn sie zu ist. Wenn sie nicht zu ist, besteht Gefahr. “Crew” könnte durcheinanderkommen. “Crew” sollte nie in der Zugluft sitzen. Eine “Crew” mit steifem Hals oder Hexenschuss, eine “Crew”, die durch den Wind ist, macht keine gute Apassionata. “Crew” wechselt an die Tische im Windschatten. Der Kampf zwischen Abluft und Aufwind findet ohne verschwurbelte “Crew” statt. Keine atemberaubenden Turbulenzen! Die Brandschutztür soll ein wohlfeiles Hindernis sein und zum Atemholen zwingen. Die Brandschutztür ist die Pause der dahinströmenden Gedanken in einem Kopf, den man möglicherweise noch dazu woanders hat. Beim Durchschreiten der Brandschutztür kann er flugs zurechtgerückt werden. Die Brandschutztür bringt jeden wieder ganz zu sich. Das Öffnen, Hindurchgehen, Schließen wird zum Akt kurzzeitiger Besinnung, Konzentration. Hier kriegt man sich ein. Die Linie zwischen Ost- und West-Himmelsrichtung ist von dieser Tür als sensiblem Punkt unterbrochen wie von einer Schaltstelle. Einfach so tatenlos durchrauschen kann man hier nicht. Die Brandschutztür verlangt von Personen ein wenig Engagement. Handlung. Wandlung. Wandlungsfähigkeit. So wird für Apassionata fast unmerklich trainiert und konditioniert. Was uns nicht umbringt, hält uns fit. Die Brandschutztür ist ein immer anwesender Fitmacher.

Text & Fotos © Ina Kutulas