Überschwelliges Gewaschenwerden steigert der Lyrik unterschwelliges Nichtgewaschensein oder Durst ist schlimmer

Das Infektionskomitee erwidert:
„Lyrik wäscht sich nicht“
die Abwärts!-Redaktion*

Gleich komm ich zur Sache und beginne mit dem hässlichen, Spaß verderbenden “aus Spaß wird Ernst”. Denn um den Ernst geht’s häufig bei der Lyrik. Ob gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche andersherum aus Ernst auch Spaß werden kann, das erleben vielleicht diejenigen noch, die in einem humiden Mikro- oder Makroklima, durchsetzt mit Dreckbatzen und anderem Zeug, bis in solche Zeiten überdauern konnten.

Vorab sei gesagt: Die Lyrik, die sich von demjenigen, der sie schreibt, mehr oder weniger gelöst hat, die Lyrik, die sich verselbständigte wie eine gezeichnete Comicfigur, die zum Leben erwacht ist und ein Eigenleben entwickelt hat – warum sollte diese Lyrik sich waschen oder nicht waschen, warum sollte sie das tun, wovon Homo Sapiens, die nun mehr oder weniger weit entfernt von ihr sind, glauben, dass sie das tue – sich waschen oder nicht waschen? Vielleicht reichen Luft und Liebe ihr aus, um herumzugeistern. Was diese Lyrik tatsächlich treibt, ob sie sich vermehrt, ob es derer viele werden und viele Erscheinungen der Lyrik das eine tun – sich nicht waschen – und die anderen Erscheinungen der Lyrik das andere – sich waschen –, das kann nur schwer erfasst werden. Diese Tatsachen existieren verborgen hinter einem Schleier. Manche Autoren reißen ihn weg, vor mancher Autorin Augen hebt er sich, und sie kann sehen, was die Lyrik treibt, ob sie Gedichte hervorbringt und was diese anstellen. Die griechische Autorin Kiki Dimula ist eine von ihnen. Sie konnte nachverfolgen, welche Initiativen zehn ihrer Verse ergriffen und was denen widerfuhr. In ihrem Gedicht „Verfall“*2 heißt es: „Der sechste und der siebte / am Mast der Ungeduld hochgeklettert / schauten in die Ferne. / Zwei andere holte ich, fast ertrunken / aus der Flut deiner Hingabe heraus.“ Somit wären wir schon ganz nah bei der Lyrik an sich und dem Wasser. Diese wenigen Verse sind in Aktion und werden gerettet, als seien es menschliche Seelen. Dann kann man getrost davon ausgehen, dass auch die Lyrik insgesamt, als die Große Mutter der Verse handlungsfähig ist und mit dem Wasser in Kontakt sein könnte oder nicht.

Ich lasse mich also gern auf dieses “einmal angenommen, dass …” ein und nehme an, es gäbe die Lyrik, von der es heißt, sie wasche sich nicht. “Lyrik wäscht sich nicht”, wird behauptet. Das mag sein. Aber wie lange hält sie das noch durch …

Ich bezweifle sogar, dass Lyrik sich nicht wäscht, und mutmaße vielmehr, dass die Lyrik sich mehrmals am Tag nasssäubert, immer, wenn das Waschen der Welt, das sie vorzunehmen hat, einer Pause bedarf; sie verhält sich also die meiste Zeit wie eine Waschfrau, setzt den einen Fuß vor den anderen, stellt sich auf die Zehenspitzen und vollzieht singend mit Beginn jeder neuen Strophe des Waschfrauenliedes federnd den Absprung, um die Spielbein-Standbein-Stellung zu ändern. Waschen, waschen, waschen den ganzen Tag. Und wenn sie nicht wäscht, dann wringt sie, spült, hängt, legt, rollt, plättet. Dazwischen wird geruht und geschwätzt und sich selbst gewaschen, ganz sicher. Am liebsten mit der Hand. Auch hinter den Ohren. Anders kann’s kaum was mit ihr werden in dieser Welt. Diese Welt will Waschfrauen sehn, und im Kampf um Wasserreserven eher noch mehr als weniger. Die personifiziert Lyrik kann da nicht einfach eine Verweigerungshaltung einnehmen. Schluss mit lustig!, wird es bald heißen. Mit dem Waschen spielt man nicht. Die Lyrik wird widerspenstig, wäscht, wäscht und wäscht. Zuweilen schrubbt sie gar.

“Lyrik wäscht sich nicht” … Ich halte das einerseits für zu absolut formuliert, also für eine partielle Fehlbehauptung, die nur eingeschränkt zutreffend ist. Andererseits mag „Lyrik wäscht sich nicht“ durchaus tauglich sein als „wilde Behauptung mit Teilwahrheitspotenzial“. Auch gut. Wo diese Behauptung nun schon einmal da ist, kann man sie benutzen, um z.B. hinein in eine erdrückende Stille „Lyrik wäscht sich nicht“ zu sagen, wenn einem nichts anderes einfällt, um diese lastende Stille zu stören und eine hilflos sich anschweigende Gemeinschaft vom Druck eines unfreiwilligen Schweigens zu befreien, von dem niemand der Anwesenden weiß, wie es überhaupt eintreten, sich festsetzen und übermächtig werden konnte. Das Entstehen einer solchen Situation in Gemeinschaft von Griechinnen und Griechen halte ich für unwahrscheinlich, für sehr wahrscheinlich aber, dass ein spontan in den Raum gesagtes „I piisi de xeplenete – Lyrik wäscht sich nicht“ lebhafte Unterhaltungen auszulösen vermag, selbst heute noch, in Niedergangszeiten. „Lyrik wäscht sich nicht“ ist ein guter „Aufmacher“, um in Griechenland verschiedene Bekanntschaften zu knüpfen mit Nieder- und Widergängern und mit Aufständischen. Über den Weg der Lyrik sowieso. Und speziell über die ungewaschene. Für Deutschland mag gelten: Man könnte mitten in einer brenzligen Situation versuchen, Zeit zu gewinnen, „Lyrik wäscht sich nicht!“, zur Not auch: „Lyrik wäscht Sicht nicht!“ herausschreien, dadurch Verwirrung stiften und sofort das Weite suchen. In Amerika: Man könnte „Lyrik wäscht sich nicht“ im Badezimmer flüstern oder leicht über das Waschbecken gebeugt sagen und dabei in den Spiegel schauen, während ein Kamerateam versucht, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen, und dem Licht setzenden Kameramann Schweißperlen auf der Stirn stehen.

Die Hoffnung darauf, dass zu Ernst gewordener Spaß sich wieder in Spaß verkehren könnte – und also ein verkündetes “Lyrik wäscht sich nicht” der Beginn von wunderbaren Unterhaltungen wäre, die nicht im Streit enden –, scheint mir für’s Hier und Jetzt allerdings eine aussichtslose, beinah. Ich hab jedenfalls noch nicht genügend zerknirschte Lyriker erlebt, die urplötzlich wie neugeboren ins zärtliche Späßemachen verfallen wären. Lyriker sind Seismographen für Schwingungen der Musik, die dem Ton innewohnt wie der Baum dem Samen, Sprachmusik, die der Stimme Klang gibt. Beim Umgang mit Lyrikern würde man als Erstes erfahren, würde eine derartige Spaß-in-Ernst-Wandlungswelle über’s Land rollen. Aussichtslos also, beinah. Weil allerdings Jannis Ritsos schrieb: “In diesem Beinah wohnt die Dichtung”, will ich daran ruhig glauben, mich in solcher Zuversichts-Verfassung weiterem die Waschfrau Lyrik Betreffendem zuwendend.

Zu lesen war in der Post, die bei mir über den Athener Umweg eintraf:

Denis Scheck, anläßlich der Nominierung Jan Wagners für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015: „Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr erwarten?*1

Es geht um Sauberkeit an sich, an sich selbst und in der Lyrikschreiberei. Desgleichen um die Sauberkeit der Lyrik an sich. Die eine ist von der anderen fast nicht zu trennen, so sehr von manchem auch gewünscht. Man kliereschmiere einfach so was hin, dann wird es heißen: “Schmiert einer was hin, bezeugt’s seinen Sinn. Schreibt einer auf fettiges Wurstpapier, dann krepelt er rum im Durstrevier, dann wird er selbst auch fettig an sich sein, fettgesichtig, und sein Geschriebenes kaum lesenswert, es ist die Wurst nicht wert, die darin eingepackt werden könnte”, – solche Schlüsse, vermute ich, werden von Fettfleck-Papier-Beurteilern gezogen. Am Beispiel von Beuys war das zu erleben. Beuys musste Pelz dagegen aufbieten und die Fußwaschungsaktion, bei der er einen Schlag abbekam. Man kann sich leicht verdächtig machen, nicht ganz sauber zu sein. Auch durch die Verwendung schmutziger Wörter.

Hätte ich diesen Text zur sich waschenden Lyrik z.B. mit “Smegma” begonnen, wäre womöglich gleich am Anfang alles verdorben gewesen, weil Leserin oder Leser angewidert beschlossen hätten: Ekelhaft! Weg damit! Unmöglich es lesen!*3

Sich unmöglich zu machen mit oder durch irgend etwas, das war das auf den ersten Blick Schlimmste, Dümmste, was man selbst sich antun konnte – früher, als man noch gehorchen musste und angewiesen war auf einen Schlaf- und Essplatz bei den Eltern. Sich-unmöglich-Machen vermied man besser, egal, ob das Sich-unmöglich-Machen mutwillig, aus Leichtsinn oder in aller unschuldigen Unwissenheit erfolgt wäre. In letzterem Fall konnte dann womöglich einzig und allein ein Schutzpatronenengel den Totalverstoß aus der Gemeinschaft verhindern und eine Situation herbeiführen, in der alles so weiterlief, als wäre nichts geschehen. Traf aber mutwilliges oder leichtsinniges Sich-unmöglich-Machen zu, war einem kaum noch zu helfen. Eingeladen oder nach da und dort mitgenommen zu werden, von den Mitmenschen akzeptiert, einen Studienplatz zu bekommen, eine Lehrstelle, eine Arbeitsstelle, eine Freundschaftsgabe oder einen Fuß auf den Boden – ausgeschlossen. “Smegma” spielerisch-spaßig in der Gegend zu verteilen, kann noch heute Sich-unmöglich-Machen bedeuten und damit: Risiko. Wie auch absichtliches Sichnichtwaschen des Menschen oder der personifizierten Lyrik. Oder das wilde Deponieren benutzter Tampons im Klinikgebäude, wie Helen Memel es tat, die Heldin des Buchs “Feuchtgebiete”. Die Autorin Charlotte Roche tabuisierte z.B. Smegma nicht. Von achtzehn von mir persönlich nach “Feuchtgebiete” befragten Menschen hatten achtzehn das Buch angelesen, fünfzehn es nach 20 Seiten weggelegt, in die Ecke oder an die Wand geschmissen. “Ekelhaft! Widerwärtig! Unmöglich! Krank! Kann man nicht lesen! Ist das Literatur?!??” Wenn schon die Reaktionen auf eine Smegma thematisierende Prosa so harsch ausfallen, welche mögen dann erst die auf eine Lyrik sein, die sich nicht wäscht? Es mag sein, dass in der Prosa anderes möglich ist als in der Lyrik, siehe “Feuchtgebiete” oder auch das Kapitel “Dana” in Jan Faktors Roman “Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag”. Aber ich vermute, einer Lyrik, die sich nicht wäscht, wird es nicht anders ergehen als dem “Feuchtgebiete”-Prosabuch oder jemandem, der z.B. Smegma zum Lyrikmachen verwendet. Blut und Sperma sind akzeptiert. Smegmatische Lyrik allerdings … Man oder Mann schreibe “Smegma” mit Textilmarker auf ein T-Shirt, rahme dieses Wort mit einer umlaufenden Linie, stelle es sonstwie heraus, gern auch als sei es Poesie, und setze sich in ein Lokal. Es gibt kein zweites Mahl. Es sei denn, ringsum weiß niemand, was Smegma bedeutet und jeder und jede würden vermuten: Smegma bedeute sowas wie “du kannst ma ma”, was nichts anderes wäre als: “du smeg ma ma”, “Leckma!”, “Smegma!” Im Pratergarten vielleicht. (Ich vernehme Protest: “Mach dir wech hier!”) Sich gewaschen zu haben oder nicht, das könnte dann den allerletzten Ausschlag dafür geben, ob man sich überhaupt noch einmal in einer Runde sehen lassen kann. Sich gewaschen zu haben oder sich nicht gewaschen zu haben macht einen gewissen Unterschied. Das gehört zum Erfahrungsschatz der Menschheit seit der Erfindung des Waschens. Seit sich Wachspuppen in Waschpuppen verwandelten. Mit der personifizierten Lyrik, die sich wäscht oder nicht wäscht, verhält es sich nicht anders. Wer verkündet, sie wasche sich nicht, ruft womöglich ihre Massivverbannung herbei. Die Lyrik wäscht sich nicht? Die Lyrik wird sich hüten. Die Lyrik wäscht sich, so oft sie kann, und wenn sie sich mal nicht gewaschen hat, dann wird sie nicht gleich daran sterben. Und wenn’s genug geregnet hat, dann hört’s auch wieder auf. Und es fängt wieder an mit dem Regnen und dem Waschen. Das Waschen, das hört nimmer auf. Es ist damit wie mit der Liebe, die nie aufhört, solange sie am Lieben ist.

Unter den Schlagworten “Smegma” und “Lyrik” findet sich im Internet allerdings tatsächlich etwas: “Smegma Lyrics”*4. Dort der Songtext: “Ich bin ein Skin”. Die letzten beiden Zeilen: “Ich hab in dieser Zeit so viele Freunde kennengelernt / Und so manche Frau hat mich in ihrem Bett gewärmt”. Ich vermute, ausnahmsweise könnte das einmal eine Lyrik gewesen sein, die sich nicht wäscht, welche den Skin-Songwriter wärmte. Ansonsten – und das mag sogar dem Skin gefallen – wäscht die Lyrik sich in Wassern, die bergauf fließen, in Wassern des Quellursprunges, in Wassern ohne Oberfläche, in Teichen ohne Grund, in Grundwassern ohne Anlass, in Abwassern, Tränen, Harzen, Ölen, in Pampe, Lauge, Hirnwasser, Fruchtwasser, in Gülle, unter Schwall und Wasserfall, in allerlei Substanzen, innen und außen; sie kennt Blut- und Gehirnwäsche. Man bringe um Himmelswillen die Lyrik nicht in Verruf durch Behauptungen wie solche, dass sie sich nicht wasche! Es sei denn, man hat längst Fazit gezogen: “Lyrik? Liest sowieso keiner mehr.”

Vielleicht wurde bei “Lyrik wäscht sich nicht” einfach nur was durcheinandergebracht und es las sich dann so schön und man fand Gefallen daran. Vielleicht sollte es eigentlich eine Provoktion werden. Möglicherweise ist bei deren Formulierung aber was schief gelaufen und anstatt, dass man was Unerwartetes sagen wollte, hatte man ein Flashback, hatte man was in Erinnerung, was sich als ein Eindruck machendes Unerwartetes ausgab, tatsächlich aber etwas längst Bekanntes ist: 1982 sang Gerhard Schöne das Lied “Jule wäscht sich nie”. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Jule nach so vielen Jahren wieder einmal für einige Sekunden durch die Vorderstube der Erinnerung geisterte. “Jule wäscht sich nie”, fröhlich von Gerhard Schöne und begleitet von schallenden Kinderstimmen zu Gehör gebracht, kann sehr leicht zu “Lyrik wäscht sich nicht” mutieren. Die Silbenzahl ist die gleiche. Man verliert jegliche Scheu vor dem Thema. Trotzdem – der Liedtext beschreibt sehr genau, was mit einem Frauenzimmer geschieht, das sich partout nicht waschen will. Und wie es endet. Sie wäscht sich schließlich doch. Sonst hätte sie nie einen abgekriegt. Selbst ein so verständnisvoller Mann wie Gerhard Schöne, der noch auf den aus dem Nest gefallenen Vogel aufmerksam zu machen verstand, musste die Jule schlussendlich in die Wanne steigen und sie Wasser und Seife lieben lernen lassen. Vorher war und blieb alles eine Schweinerei. Der sich nicht waschenden Lyrik erginge es nicht anders. “Ihhhhhh!” und “Schweinerei!”, den Nobelpreis für ungewaschene Lyrik gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche vielleicht. Möge niemandem einfallen, “Lyrik wäscht sich nicht” zu singen. Was als Spaß begänne, könnte mit Anstiftung zur Volksverdreckung enden. Dafür kommt man in die Anstalt und wird unter Aufsicht sauberer Mädel gestellt.

Sich nicht zu waschen gilt als eine der effektivsten Verhütungsmaßnahmen. Auch bei der Lyrik wird das zur Folge haben, dass sie sich nicht weiter vermehrt. Ist das so gewollt? Ein Spezialkommando könnte damit beschäftigt werden herauszufinden, ob in der Welt (in welcher Welt?) verhältnismäßig viel oder wenig Lyrik gelesen wird und ob das darauf zurückzuführen ist, dass die Lyrik sich eben mäßig, mäßig viel, viel oder gar nicht wäscht. Schon sehr bald spielen dann auch Fragen wie diese eine Rolle: Welche Lyrik? Die deutsche, die griechische, die russische, die iranische, portugiesische, lateinamerikanische, die Weltlyrik, die Gelegenheitslyrik usw. usf. …? Wäscht die eine sich mehr, die andere weniger, oder kommt man zum erstaunlichen Resultat, dass die Lyrik sich überall auf der Welt gleich viel oder wenig wäscht?

Reflektieren und fabulieren Lyrikschreiber und -schreiberinnen über ungewaschene oder sich nicht waschende Lyrik? Sagen sie: “Ich sehe schon kommen, dass …”? Baut sich vor ihrem inneren Auge ein Bild auf, eine Szene, in der die Lyrik erscheint und sich über den Brunnen, über das Waschbecken, die Wanne, die Schüssel beugt wie die Königin des Waldes über den Spiegel der Vorhersage in der Verfilmung von “Der Herr der Ringe”? Fragen Autorinnen und Autoren sich, was mit ihren Texten passiert oder wie sie diese aufbauen würden, wäre klar, sie bekämen’s zu tun mit der Lyrik, die sich wäscht oder nicht und die jeden Augenblick hereinplatzen könnte und sie, die sie schreiben, zur Verantwortung ziehen? Finden Zwiegespräche statt tagsüber oder des nachts zwischen Autorinnen und Autoren und der Lyrik? Setzen Autorinnen und Autoren sich auseinander mit dieser planschenden, plätschernden oder wasserscheuen oder sonstwie zum Wasser sich direkt oder indirekt verhaltenden Lyrik wie der Philosoph sich auseinandersetzt mit der Moral, den Nacht- und den noch viel gefährlicheren Tagträumen? Wird eines Tages die Lyrik aufkreuzen am Ende der Straße und heranrücken wie der Riesenmarshmallow in “Ghostbusters” oder der Tyrranosaurus Rex in “Jurassic Park” und die ganze Welt definitiv wissen lassen, ob sie gewaschen oder ungewaschen ist, grundsätzlich oder von Zeit zu Zeit? Oder passiert das längst: Werden Schreiberinnen und Schreiber oder auch Leserinnen und Leser heimgesucht von der sich nicht waschenden, ungewaschenen oder sich sehr wohl waschenden Lyrik, und niemand ringsum bekommt davon etwas mit, nimmt Notiz, will was bemerkt haben; steht sie im Raum wie die Herren bei Kafkas Josef K., der ins Gericht nicht kommen konnte, oder wie bei der Frau, die auf einem Flugblatt bekanntgab, dass die Polizei schon einmal bei ihr gewesen sei, weil sie jemandem ähnlich sehe. Oder könnte dieser Jemand die Lyrik gewesen sein und die Frau kam ins Zimmer und die Polizei war schon wieder weg? Existieren bereits Texte mit Auskünften darüber, ob die sich nicht waschende Lyrik präsent ist oder nicht, ob sie was anstellt mit dem, der sie schreiben soll oder schon geschrieben hat, oder ob sie sich eher zurückhält oder im Gegenteil massiv Einfluss nimmt auf’s Schreiben? Wird etwas darüber gewusst, ob Texte entstanden sind, in denen von der Thematik des Ungewaschenen einzig und allein deshalb dort zu lesen ist, weil die sich nicht waschende Lyrik das verlangt hat, den Schreiber erpresst, ihm gedroht, wenn er solches nicht schriftlich fixiere, dann werde sie sich ihm entziehen? Möglicherweise ist so etwas schon öfter passiert, als man annehmen mag. Viele Autoren haben das Lyrik-Schreiben aufgegeben, und es werden die unterschiedlichesten Gründe dafür genannt. Einer könnte sein, dass die Lyrik sich mit kalter Schulter abgewendet hat, sich verweigerte, geschrieben zu werden, auf Nimmerwiedersehn.

Ob sich wohl eine einzige Lyrikerin findet, die Auskunft darüber gibt, dass sie sich nicht gewaschen hat, nicht wäscht, und dass auch ihre Lyrik ungewaschen oder nicht gewaschen ist? Lyrik gehört zum sich waschenden Menschen wie der Lyriker zum Wasser, dem transformierenden Element. Es gibt deshalb wasserfestes Papier und Stifte, die unter Wasser schreiben, damit Verse, die unter niedergehendem Brausenass einem besonders gern in den Sinn kommen, notiert und somit festgehalten werden können, ehe das fließende Wasser sie mit sich fortnimmt und einem anderen Gedichte Schreibenden als Inspiration zuträgt. Wasser ist ein Vielkönner. Die meisten Poeten duschen gern und die allerbesten baden auch. Es kommt einem da eine Flut von Gedanken. Einer nannte sich sogar zusätzlich Baader. Das war Absicht. Ob er sich in eine leere Wanne legte mit einer prinzipiell beibehaltenen Ungewaschenheit oder nicht, Baader blieb Baader. Soviel konnte bereits eine Wanne ausmachen. Das Wasser war angedacht und ein unterschwelliges Nassmachen damit jedenfalls gegeben; das schlug auch auf die Lyrik durch. Das Wasser nimmt sich die Lyrik vor, die Lyrik den Lyriker, der Lyriker das Waschen, dem Waschen ist das Wasser immanent, der Kreislauf geschlossen. Lyrik wäscht Lyrik. Wer “Lyrik wäscht sich nicht” sagt, der muss auch “waschen” sagen. Mit dem Vorhandensein des Wortes “wäscht” ist alsogleich das Waschen assoziiert und anwesend und damit auch diejenigen, die dieses tun, an sich selbst und an Objekten. Wie wenn man “Störteufel”*5 sagt. “Ferdinands Zauberhäuschen” hat uns gelehrt: “Den Namen nicht nennen!”, um den Namensträger nicht anzulocken. Das Wort “wäscht” wäre also notwendigerweise besser zu vermeiden gewesen, um gar nicht erst den Gedanken daran aufkommen zu lassen und somit – was ja nicht beabsichtigt war – an die Lyrik, die sich wäscht. “Lyrik sich nicht” hätte genügen müssen.

Ein anschauliches Beispiel für die Verbindung von Baden und Dichten bietet das von Elisabeth Shawn illustrierte Buch “Schaumköpfe”, erschienen im Kinderbuchverlag der DDR, die Verse stammen von Heinz Kahlau. “Wäscht man nur Beine, Bauch und Hand, / knirscht auf dem Kopfe noch der Sand.” oder: “So blitzeblank von Kopf bis Zeh, / da schmeckt der süße Milchkaffee.” Das Buch wurde ein Klassiker und ist noch heute zu bestellen. Man könnte es vielleicht einmal neben einen Gedichtband von Jan Wagner halten; es werden sich Abgründe auftun. Lyriker und auch die Lyrik dürfen nicht nur hin und wieder sich waschen und schaumköpfig sein – sie sollten sogar!

Reaktion des Dresdner Autors und Herausgebers Holger Wendland auf „Lyrik wäscht sich nicht“: „Lyrik ist ungewaschen. Lyrik kann sich ja nicht waschen … beziehungsweise: Lyriker können sich waschen, Lyrikerinnen waschen sich sowieso; obwohl die Schweizer Einwanderungsbehörde seinerzeit Else Lasker-Schüler in einem Überwachungsprotokoll vorwarf, sie sei ungewaschen.“ Ungewaschene Lyriker sind meist überfallartig abgeholt worden. Entweder von Amtspersonen oder vom Text. Ist dies der Fall, sollte mit ihnen Nachsicht geübt und ihnen die Benutzung des Waschbeckens gestattet werden, so es sie danach verlangt.

Dichtern, die sich nicht waschen, könnten ihre Texte anzumerken sein. Die nämlich werden mit der Zeit immer steriler oder bröseliger ob der trockenen Selbstversuchslaborbedingungen, unter denen sie entstehen. Staubbildung ist die Folge, Niesschnupfen. Die Dichter fallen in sich zusammen wie Sandsäulen. Viel zu viel Energie wird verschwendet auf den Trotz gegen das Sichwaschen beziehungsweise Nassmachen. Das macht zusätzlich mürbe. Erstens: Diese Energie fehlt beim Dichten. Zweitens: Von sich nicht waschenden Dichtern verfasste Texte entwickeln eine merkwürdige, regressive Eigendynamik. Sie neutralisieren sich schließlich oder verkümmern.

Eine andere Möglichkeit, die ein Gedicht haben kann, ist ein Geschriebenwerden von sauberer, gewaschener Hand, an sauberem, gereinigtem Ort, ein gefülltes Glas in der Nähe. Sofort entwickelt der Text ein Fließverhalten und beginnt, sich anzureichern, denn wo nichts ist, kann umso mehr noch aufgenommen werden. Sich nicht waschende Lyriker mögen fleißig sein, die Lyrik der sich Waschenden hat aber Fließqualität. Wasserhinzugabe zur geschriebenen Lyrik und nachfolgende Schaum-, Schimmel- oder Fäulnisbildung sind ein Garant für das Entstehen aufregendster Verse oder auch eines fuchsig machenden Kurzschlusses, der hochgradig energetisch befördernd auf die Aktivitäten des Autors wirken kann.

Es sei erinnert an die Beschreibung des Spiels, das Matthias Baader Holst einmal in einer Bahnhofshalle mit herabfallenden Wassertropfen*6 trieb, die er vor den Augen der Zuschauer rieb und zerrieb, als könne er aus Flüssigem Trockenes machen. Ein ionenangereicherter Autor, der ständig Lyrik hervorbrachte und diese lebte. Von ihm konnte man lernen: Ein wenig verderbliches Aroma wird gebraucht. Ohne Flüssigkeitszugaben ist das nicht zu haben. Geruchsbildung garantiert Reaktionen. Wasser hält den Kreislauf am Zirkulieren, bewirkt Fäulnis, Zersetzung, Verschlammung, Neukeimung. Das Schreiben muss im Flusse bleiben. Dichter sollten nicht das Trockne suchen, sondern in den Regen gehn, verderben, vergehn und widerwerden. Der Autor Gregor Kunz am 1. Dezember 2012: “PS.: Irgendwann 2008 im Sommer hatte ich so einen Regen, mitten in den gelben Kornfeldern der sächsischen Pampa, oder der hatte mich an einer baumlosen Landstraße. Eine gigantische Wolke stand dunkelblaugrau überm Elbtal, eine merkwürdig schwefelige Bewegung um sich selbst, ein blauer Wirbel gedehnter Zeit. Kurz vor dem Platzen habe ich sie fotografiert, dann Apparat und Zigaretten tief im Rucksack verstaut. Dann habe ich nicht mehr viel gesehen, nur Wasser, das sehr dicht von oben nach unten fiel und wieder hochspritzte, schäumte und floss, in Bächen und Nebeln herumzog. Die Autos fingen an zu schwimmen und ich bin von der Straße weg und langsam über die Felder gegangen auf ein kleines Waldstück zu, von dem ich wußte, wo ungefähr es liegen musste. „Poeten rennen nicht“, meinte Arno Schmidt, aber selbst wenn, es hätte nichts genützt. Als ich da war, war ich auch durch.
Ich hab dann unter Kiefern und Eichen im Regen gestanden und gewartet und hätte gern geraucht. Es goß noch wenigstens 20 Minuten und gleichzeitig schien die Sonne.“ Lyrikschreiber, die nicht gern regennass werden, nicht viel trinken und nicht in die Nähe von andern gehen, die sie nasspritzen könnten, spülen zumindest Gläser oder waschen ihre Pullover in Flüssen oder Regentonnen oder sie suchen die Nähe von Springbrunnen. Deren Lyrik ist immer dabei. Geriete sie ihnen zu stumpf – es würde kaum wer darauf anspringen. Langweilig. Bleibt leicht unbemerkt. Am Menschen kann man das studieren. Wer nach nichts riecht, wird schneller vergessen.

Geruchsbildung, besser noch: Gestank fördert das Aufmerken und die Aggressivität im umgebenden Biotop, und ganz ohne diese kommt insbesondere lyrisches Schaffen nicht aus. Beispiele für eine solche zwischenmenschliche, sensationsförderliche Feindseligkeit gibt es einige. Will man sich davon überzeugen, begebe man sich am besten Ende Juli nach Griechenland, vorzugsweise nach Athen, wasche sich bei 38 Grad vier Tage nicht, lasse auch seine Lyrik sich nicht waschen, setze sich dann dort hin, wo Menschen Gespräche führen, und warte ab, was passiert. Auch am 6. Juni 2015, in Berlin, bei 34 Grad wäre so etwas auszuprobieren möglich gewesen. Da hätte man konkrete Erfahrungen sammeln können, falls man solche des Sich-nicht-Waschens noch nie gemacht hat, trotzdem aber die Vorstellung entwickelte, nach welcher die personifizierte Lyrik sich sowieso grundsätzlich nicht wasche. Du ahnungslose Heiterkeit …

Sich einige Zeit nicht gewaschen zu haben, ist der beste Garant für Tumult, für Messer, die in Taschen aufgehen, für Fluchtverhalten, das ausgelöst wird. Die Lyrik liebt das, manchmal. Wenn ihr danach ist. Wenn sie sich derart zu verwirklichen gedenkt. Das kann ihr gelingen, auf zweierlei Weise. Durch aktives Nichtwaschen, aber auch dadurch, dass sie Homo Sapiens in raffinierter Weise dazu bringt, von ihr zu denken, dass sie sich nicht gewaschen habe, oder von ihr solches zu behaupten. Wie das vor sich geht, ist ebenfalls im zwischenmenschlichen Bereich zu beobachten.

Selbst die in einem völlig neutral gehaltenen Ton getroffene Aussage: “der riecht” oder: “der roch sehr eigen” oder: “der wäscht sich nicht” ist wohl ein wesentlich effektiveres Mittel, Menschen zu diffamieren und damit Groll und Empörung zu erzeugen, als es andere, kompliziert erdachte und sonstwie geäußerte, bösartige Behauptungen vermögen. “der wäscht sich nicht” wird andere auf Abstand zu diesem Ungewaschenen gehen lassen. Nicht auszudenken, wär’s erst eine Sie. Und die Lyrik ist ja eine Sie. Ein unüberlegt dahingesagtes “Lyrik wäscht sich nicht” könnte zu deren Isolierung führen, sie kaum noch zur Kenntnis genommen oder gelesen werden, ihre Existenz in einer Mikro-Nische wäre so gut wie besiegelt. Welche allerdings zu einer Makro-Nische zu mutieren vermag, immerhin. Trotzdem – wenige Leser fänden Zugang zu ihr, so wie Besucher, die vor einem Käfig im Zoologischen Garten auch dann ausharren würden, wenn sich darin nichts sehen ließe außer einer Höhle, in oder vor der sich nichts regt. Immer wird es jemanden geben, davon überzeugt: “Da ist was! Auch, wenn man’s nicht sieht!” Viele jedoch sind von diesem inneren Vertrauen nicht erfüllt, gehen vorbei, schauen nicht einmal flüchtig zum Käfig hin oder denken sich: ‘Warum hat man das Gehege nicht längst geräumt oder ein anderes Tier reingesetzt oder eine Spiellandschaft draus gemacht?’ Ahnungslos, dass in der Tiefe der Höhle die Lyrik wohnt, die sich zurückgezogen hat, ungewaschen, verschmäht von den meisten Menschen, sich hier konzentrierend und abwartend, Widerstandskräfte bildend. Es bräuchte nur einen Technischen Mitarbeiter in diesem Zoologischen Garten, der auf die Idee kommen könnte, tatsächlich aus dem leeren Käfig mit der von den Tieren verlassenen Höhle eine Spiellandschaft werden zu lassen … Was dann folgen würde, wozu die Lyrik sich, einmal in ihrer Hinterecke aufgescheucht, entwickeln könnte, ließe sich seitenlang ausführen, bis dahin, dass sie abermals Einzug hielte in jedes Haus und in jedermans Sinn, dass es zu einer Renaissance der Lyrik käme und so weiter und so fort, gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche.

Vorerst aber wird mit der Lyrik das geschehen, was auch demjenigen widerfährt, über den geäußert wurde: “der wäscht sich nicht” oder “… nicht immer” oder “… nicht richtig”. Solches einmal in die Welt gesetzt, macht die Runde, schneller noch als anderes. Ich halte manche solcher “der-riecht”-Bemerkungen für üble Nachrede und glaube daran, dass Böse Geister diejenigen mit sich nehmen werden, die entsprechende Rede führen, seit ich wiederholt erfuhr, dass ausgerechnet Übel-Nachreder vom Butzemann einkassiert und nicht wiedergesehen wurden, die sich in Sicherheit gewiegt hatten und aus dieser vermeintlich wohlig komfortablen Situation heraus über andere geäußert, dass diese nicht immer gut riechen würden, oder die vermeintlich hilflose Menschen gar noch hilfloser zu machen versuchten durch Empfehlungen wie “Waschen hilft.” oder: “Nicht kratzen, sondern waschen!”

Gewiss, das kann ungeahnte Verteidigungskräfte freisetzen … Eine Möglichkeit, sich gegen solches zu wehren, wäre die lautstarke Entgegnung: “Nichtwaschen hilft mehr.” Bekanntlich reinigt Dreck den Magen und Wasserscheu hat Katzenwäsche zur Folge und ein Katzensiebenleben. Sich überlebensgewiss und immun gegen Diffamierung zu zeigen, bedarf allerdings einer entsprechenden Schlagfertigkeit. Es gilt zu signalisieren: Man wasche sich bewusst nicht. Man wäre vornehmlich Lyriker, durchdrungen von Lyrik, die sich nicht wäscht, man könnte auf die fiese Stänkerei mit Gegenpestgeruch reagieren und wär fein raus im Prozess der ausgleichenden Gerechtigkeit. Eine Mitgliedschaft im Infektionskommitee könnte womöglich auch als Selbstbewusstseins-Stabilisator taugen. Man benutze aus unterschiedlichen Gründen kein Washi-Papier. Man lege das Datum für den Internationalen Nichtwaschtag fest und propagiere, die Welt solle sich einen Tag lang nicht waschen … oder auch eine ganze Woche nicht oder nie mehr. In dieser Zeit könne Lyrik gelesen werden.

Es käme auf die Probe auf’s Exempel an, herauszufinden, ob das funktioniert mit dem Nichtwasch-Kontern, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort, bei wem, unter welchen Begleitumständen, bei welchen Wasserständen und Tauchtiefen.

Man kann sich aber auch still verhalten, scheinbar defensiv, das Opfer mimen, dem Übel-Redner-Peiniger einen lustvollen Moment vermeintlicher Ewigseligkeit gönnen, indem man Tränen in die Augen steigen lässt, die Mundwinkel sinken, den Kopf hängen, die Schultern hochzieht, geneigten Hauptes und insgesamtgeknickt sich abwendet, in ruhiger Gewissheit, dass der Butzemann bereits unterwegs ist und “diese Angelegenheit klären oder bereinigen wird”.

Hochmut kommt vor dem Fall. Kaum hatte ich mich – während ich mit viel Wasser einen teuren Holzboden glänzend und sauber wischte, um der Lyrik einen Spiegel zu bieten – daran erinnert, wie grausam die Rachegötter sein können, stieß ich mit dem Wischmoppstielende gegen einige hochempfindliche Objekte, die vom Sockel stürzten und Dellen in die Dielen schlugen; eine deutliche Botschaft im Sinne von: Demut vor dem Feind! Es ist erschreckend vorhersehbar, wie treffsicher die warnenden Geister sich einstellen beim kleinsten Anflug von Überlegenheitsdünkel. In der Lyrik schlägt Schere den Stein nicht und Stein nicht Schere, Papier deckt den Brunnen nicht und Brunnen schluckt nicht Papier. Keine Sieger und Besiegten. Man wasche sich nicht oder wasche sich, die eine oder andere Lyrik wird überdauern. Nichtwaschen lässt den Humor strohig werden wie in einem Humidor die Zigarre ohne etwas Feuchtigkeit. Nichtwaschen gibt sich etwas unlustig. Und manch eine Lyrik ist dem Tiefernsten durchaus nicht abgeneigt. Diese trägt selten bunt, ihre French Maniküre ist das Schwarz unter den Fingernägeln. Gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche könnte sich das vielleicht ändern. Aber vorerst bleibt’s dabei: Falls die Lyrik sich nicht wäscht, so will sie sich doch waschen.

Ich verweile an dieser Stelle noch eine Zeitlang da, wo es nix mehr zu lachen gab, gibt, wo die Welten aufeinander prallen. Sich nicht waschen wollen ist das eine, sich nicht waschen können, das andere, sich waschen zu wollen und doch nicht zu können, wieder was anderes. Wie auch immer: Nichtwaschen führt zu Verstoßenwerden.

Ein Bus. Der junge Mann hatte es nicht geschafft, rechtzeitig das WC zu erreichen. Für die nächsten drei Stunden blieb er in einem Radius von etwa zweieinhalb Metern isoliert, in der sonst allerbeengtesten Situation. Dass er nicht erschlagen wurde lag daran, dass man statt seiner seine Frau schlug und später sie mit den beiden Säuglingen aussetzte, in einem Landstrich, in dem weit und breit nichts war als steinharter, aufgeplatzter Erdboden.

Folter, Erniedrigung, Isolationshaft gehen immer wieder auch damit einher, Menschen das Sichwaschen zu verweigern. Die Reaktionen auf den so gepeinigten, ungewaschenen Menschen sind vorherwissbar; von ihm wird Abstand genommen, er wird gemieden, ohne dass die Menschen um ihn herum sich dazu absprechen müssten.

Oder das: “Ihm ist es unangenehm, sich in der Gemeinschaftsdusche vor den anderen Männern auszuziehen. Oft wartet er bis drei Uhr nachts, damit er die Duschräume für sich allein hat.“ So zu erfahren im Artikel*7 über einen Flüchtling aus Syrien, untergebracht in einer Turnhalle in Berlin-Zehlendorf.

Die angeführten Beispiele berichten allesamt von Männern, und sie seien ergänzt durch das des “Stinkers”, eines vom Erniedriger erniedrigten Erniedrigers aus der Filmserie “Games of Thrones”.

Der Dichter Jannis Ritsos rettete seine Seele in den Gefangenenlagern auf den Inseln Jaros und Leros, weil er seinem Entschluss treu blieb, sich täglich zu waschen, morgens und abends, wie schwer es ihm auch wurde und gemacht wurde.

Das Sich-Waschen gänzlich einzustellen an einem Ort, an dem fließend warmes Wasser aus der Wand kommt und Licht aus der Zimmerdecke, ist nicht selten ein Akt des Trauerns um einen geliebten Menschen, Nichtwaschen die letzte Möglichkeit einer Reaktion auf das Leben, das nicht mehr stattfindet. Ich hatte außerdem einmal eine Begegnung mit einem Mann, der das Sich-Waschen aufgeben wollte, nachdem er erfahren hatte, dass die von ihm gepflanzten Bäume abgeholzt worden waren. Er meinte sich daran zu erinnern, dass Beethoven einmal geäußert habe, der Verlust eines geliebten Baumes könne ihn mehr schmerzen als der eines Menschen. Es mag Fälle von Lyrik geben, die dem entsprechen.

Als Trotzreaktion auf die Einschätzung eines Literaturbewerters, der von ihm für gut befundene Lyrik in Verbindung mit ausreichender Körperhygiene bringt, wäre menschliches Nichtwaschen eine gewagt kuriose Idee, zumal, wenn von dem Herrn nicht zu wissen ist, ob dieser selbst stets gewaschen ist und ob, wenn ja, dabei sämtliche Bereiche seines Körpers mit einbezogen wurden in die Waschung. Und ob der gelobte Lyriker sich tatsächlich genügend wäscht und zwar unter Einbeziehung aller Bereiche des Körpers und gemessen an wessen Nase. Wie will der Literaturbewerter das wissen … Was kann der Lyriker dafür?

Eine Äußerung von Denis Scheck rief Gegenwehr hervor? Ideal! Da haben wir ja bereits das Gute daran. Die Anti-Kräfte sind am Wirken. Jan Wagner schreibt von Giersch und Koalabären? Die sind bereits vom Aussterben bedroht. Unter anderem wegen zu großer Trockenheit. Um die Waschbären steht es noch nicht so dramatisch. “Dit is den Waachner seene Sache, von welche Bärn der schreibt, lasst den nur machen, der wird schon wissen …” Giersch im Garten bekämpft man mit Storchenschnabel.

Es folgte also auf Herrn Scheckens Lob des Jan Wagner, dessen feine Manieren und vorbildliche Körperhygiene ein Aufruf des Infektionskommitees zur Einsendung ungebleichter Texte. Wohlweißlich aber nicht zum Trotznichtwaschen als Reaktion auf ein möglicherweise einfach so dahingeschwätztes “mangelnde Körperhygiene”, das durch die Tatsache des Gedrucktwordenseins seinen Schwätz-Charakter verloren hat und sich – eben noch schwarz auf weiß – in einer für manchen möglicherweise bedrohlichen Wirkmächtigkeit aus dem Text herauszulösen und gewaltig aufzurichten wagen könnte wie ein Wächter, der seine scharfen Blicke alsbald schweifen ließe, um jeden Ungewaschenen oder Teilungewaschenen auszumachen, die Häscher auf diesen zu hetzen, die Häscher, die eigens dafür verantwortlich wären, den überwältigten Womöglichstinker einer Zwangswaschung zu unterziehen … Nichtwaschen als Reaktion auf ein temporär beängstigend wirkendes “mangelnde Körperhygiene” – dazu braucht es wohl einer gehörigen Portion Furcht, Trotz, Widerstands-Courage. Eine Aufforderung zum Nichtwaschen würde mir, der aus der Elbestadt Magdeburg Stammenden, eine Reaktion wie diese in Erinnerung rufen: “… und wenn eener sacht: Spring inne Elbe!, dann machste das och – oder?!” Und wenn einer dich auffordert: Spring nicht in die Elbe, wasch dich nicht, putz dir nicht die Zähne, meide die Inbetriebnahme der Waschmaschine, dann … Hat aber niemand verlangt. Zweite Reaktion, die mir in Erinnerung käme, würde das Nichtwaschen verlangt: ein trockenes “Nur so kann man sparen”. Selbstverständlich, im Zustand des verschmiertverdreckten Verrecktseins spart man das meiste Wasser. Habt aber auch niemand verlangt.

Selbst das Infektionskommitee wagt – obwohl der Lyriker Wagner eine Rolle spielt – sich nicht viel weiter vor als bis zur Ausgabe der Parole “Lyrik wäscht sich nicht” und bis dahin, Brecht zu zitieren: “Waschen verdirbt das Talent”. Wer allerdings weiß, wie Brecht das gemeint hat und in welchem Zusammenhang geäußert. Hat man je etwas über den ungewaschenen Berthold Brecht erfahren? Schrieb Brecht vom das Talent verderbenden Waschen aus eigener Erfahrung? Dass Waschen die Verse verdürbe – dazu äußerte er sich nicht – oder? Nur im Hinblick auf das Talent. Zu fragen wäre wohl: welcherart Talent? und: wessen? Waschen oder Gewaschenwerden, Waschen oder Sichselbstwaschen? Waschen verdirbt das Talent eher nicht, denn wer beim vielen Waschen noch schreiben kann, der hat tatsächlich welches; Talent erweist sich erst unter Schwierigkeiten als ein solches, wahrhaftiges. Man probiere einmal das Schreiben unter Wasser. Wo Wasser ist, da braucht man meist auch eine Dichtung. Waschen verdirbt die Zigarre.

Wenn es also heißt: “Lyrik wäscht sich nicht”, dann kann es sich bei ihr nur um ein überschwelliges Nichtgewaschensein handeln, welches immer zugleich auch ein unterschwelliges Gewaschenwerden ausmacht. Keine Furcht vor der sich waschenden und die Welt waschenden Lyrik! Lyrik will sich gewaschen haben! Am Wasserstand probt sie ihren Widerstand, übt alle Tage Wasserwiderstand, lässt alles sich schlammfruchtig anreichern mit ihrem Gewäsch. Waschet euch unsauber! Ertrinken ist schlimmer. Oder Durst.

Fortsetzungstext, Stand 19. Juni 2015

© Ina Kutulas

 

*1 Liebe Mitstreiterinnen und -streiter, Bewegte und Umgetriebene,
aus gegebenem Anlaß (s. unten) startet die Zeitschrift „Abwärts!“ für ihre nächste Ausgabe im Juli einen Aufruf. Über zahlreiche Rück- und Wasserstandsmeldungen zum Thema würden wir uns freuen – das Genre ist freigestellt (gern auch weiterverbreiten).

Herzliche Grüße,
die Abwärts!-Redaktion

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„Babypille fauler Zauber
Ajax hält das Becken sauber.“ Heiner Müller

Denis Scheck, anläßlich der Nominierung Jan Wagners für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015: „Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr erwarten?“

Das Infektionskomitee Abwärts! erwidert: „Lyrik wäscht sich nicht“ und fordert auf, ungebleichte Texte und Kommentare jeglicher Couleur (bzw. Odeur) für die nächste Ausgabe einzusenden (an: abwaerts@basisdruck.de). Redaktionsschluß (Waschtag): 19. Juni 2015.

PS. „Waschen verdirbt das Talent.“ Bertolt Brecht

*2 aus Kiki Dimula, Gedicht “Verfall”, in “Plötzlich wurde ich hellhörig”, Romiosini Verlag Köln, 2008

*3 Abwandlung von Frank Lanzendörfers “unmöglich es leben”

*4 http://genius.com/Smegma-ich-bin-ein-skin-lyrics

*5 Störteufel: Figur aus “Ferdinands Zauberhäuschen”, Kinderhörspiel, LP LITERA 8 60 076, DDR 1970

*6 aus: Peter Wawerzinek, “zu matthias Baader holst. EINE ER-INNERUNG”: “WIE ICH EINMAL MIT MEINEM FREUND BAADER ZUM BAHNHOF KAM UND NICHT VON IHM FORT DOCH IN FAHRT GERIET […] Zeilenzauber. Wortzaudern. Zauber und Zunder. Baader spricht. Es sprechen Baaders Hände. Es reden Baaders Fingerspitzen. Ellenbogen spannen Bögen aus Silben, Worten, Sätzen. Das Gedicht verdichtet sich über die Köpfe des Publikums hinweg zu einem Wortregenbogen, aus dessen Mitte schillernde Worte wie Wasser tropfen, die Baader zwischen Fingerspitzen zerreibt wie Tabak zerbröselt.
Als wäre Wasser nicht Wasser. Als wären Worte nicht Worte. …”

*7 http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/zehlendorf/alltag-eines-syrischen-fluechtlings-in-berlin-die-welt-ist-eine-turnhalle/11536076.html