Überschwelliges Gewaschenwerden steigert der Lyrik unterschwelliges Nichtgewaschensein oder Durst ist schlimmer

Das Infektionskomitee erwidert:
„Lyrik wäscht sich nicht“
die Abwärts!-Redaktion*

Gleich komm ich zur Sache und beginne mit dem hässlichen, Spaß verderbenden “aus Spaß wird Ernst”. Denn um den Ernst geht’s häufig bei der Lyrik. Ob gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche andersherum aus Ernst auch Spaß werden kann, das erleben vielleicht diejenigen noch, die in einem humiden Mikro- oder Makroklima, durchsetzt mit Dreckbatzen und anderem Zeug, bis in solche Zeiten überdauern konnten.

Vorab sei gesagt: Die Lyrik, die sich von demjenigen, der sie schreibt, mehr oder weniger gelöst hat, die Lyrik, die sich verselbständigte wie eine gezeichnete Comicfigur, die zum Leben erwacht ist und ein Eigenleben entwickelt hat – warum sollte diese Lyrik sich waschen oder nicht waschen, warum sollte sie das tun, wovon Homo Sapiens, die nun mehr oder weniger weit entfernt von ihr sind, glauben, dass sie das tue – sich waschen oder nicht waschen? Vielleicht reichen Luft und Liebe ihr aus, um herumzugeistern. Was diese Lyrik tatsächlich treibt, ob sie sich vermehrt, ob es derer viele werden und viele Erscheinungen der Lyrik das eine tun – sich nicht waschen – und die anderen Erscheinungen der Lyrik das andere – sich waschen –, das kann nur schwer erfasst werden. Diese Tatsachen existieren verborgen hinter einem Schleier. Manche Autoren reißen ihn weg, vor mancher Autorin Augen hebt er sich, und sie kann sehen, was die Lyrik treibt, ob sie Gedichte hervorbringt und was diese anstellen. Die griechische Autorin Kiki Dimula ist eine von ihnen. Sie konnte nachverfolgen, welche Initiativen zehn ihrer Verse ergriffen und was denen widerfuhr. In ihrem Gedicht „Verfall“*2 heißt es: „Der sechste und der siebte / am Mast der Ungeduld hochgeklettert / schauten in die Ferne. / Zwei andere holte ich, fast ertrunken / aus der Flut deiner Hingabe heraus.“ Somit wären wir schon ganz nah bei der Lyrik an sich und dem Wasser. Diese wenigen Verse sind in Aktion und werden gerettet, als seien es menschliche Seelen. Dann kann man getrost davon ausgehen, dass auch die Lyrik insgesamt, als die Große Mutter der Verse handlungsfähig ist und mit dem Wasser in Kontakt sein könnte oder nicht.

Ich lasse mich also gern auf dieses “einmal angenommen, dass …” ein und nehme an, es gäbe die Lyrik, von der es heißt, sie wasche sich nicht. “Lyrik wäscht sich nicht”, wird behauptet. Das mag sein. Aber wie lange hält sie das noch durch …

Ich bezweifle sogar, dass Lyrik sich nicht wäscht, und mutmaße vielmehr, dass die Lyrik sich mehrmals am Tag nasssäubert, immer, wenn das Waschen der Welt, das sie vorzunehmen hat, einer Pause bedarf; sie verhält sich also die meiste Zeit wie eine Waschfrau, setzt den einen Fuß vor den anderen, stellt sich auf die Zehenspitzen und vollzieht singend mit Beginn jeder neuen Strophe des Waschfrauenliedes federnd den Absprung, um die Spielbein-Standbein-Stellung zu ändern. Waschen, waschen, waschen den ganzen Tag. Und wenn sie nicht wäscht, dann wringt sie, spült, hängt, legt, rollt, plättet. Dazwischen wird geruht und geschwätzt und sich selbst gewaschen, ganz sicher. Am liebsten mit der Hand. Auch hinter den Ohren. Anders kann’s kaum was mit ihr werden in dieser Welt. Diese Welt will Waschfrauen sehn, und im Kampf um Wasserreserven eher noch mehr als weniger. Die personifiziert Lyrik kann da nicht einfach eine Verweigerungshaltung einnehmen. Schluss mit lustig!, wird es bald heißen. Mit dem Waschen spielt man nicht. Die Lyrik wird widerspenstig, wäscht, wäscht und wäscht. Zuweilen schrubbt sie gar.

“Lyrik wäscht sich nicht” … Ich halte das einerseits für zu absolut formuliert, also für eine partielle Fehlbehauptung, die nur eingeschränkt zutreffend ist. Andererseits mag „Lyrik wäscht sich nicht“ durchaus tauglich sein als „wilde Behauptung mit Teilwahrheitspotenzial“. Auch gut. Wo diese Behauptung nun schon einmal da ist, kann man sie benutzen, um z.B. hinein in eine erdrückende Stille „Lyrik wäscht sich nicht“ zu sagen, wenn einem nichts anderes einfällt, um diese lastende Stille zu stören und eine hilflos sich anschweigende Gemeinschaft vom Druck eines unfreiwilligen Schweigens zu befreien, von dem niemand der Anwesenden weiß, wie es überhaupt eintreten, sich festsetzen und übermächtig werden konnte. Das Entstehen einer solchen Situation in Gemeinschaft von Griechinnen und Griechen halte ich für unwahrscheinlich, für sehr wahrscheinlich aber, dass ein spontan in den Raum gesagtes „I piisi de xeplenete – Lyrik wäscht sich nicht“ lebhafte Unterhaltungen auszulösen vermag, selbst heute noch, in Niedergangszeiten. „Lyrik wäscht sich nicht“ ist ein guter „Aufmacher“, um in Griechenland verschiedene Bekanntschaften zu knüpfen mit Nieder- und Widergängern und mit Aufständischen. Über den Weg der Lyrik sowieso. Und speziell über die ungewaschene. Für Deutschland mag gelten: Man könnte mitten in einer brenzligen Situation versuchen, Zeit zu gewinnen, „Lyrik wäscht sich nicht!“, zur Not auch: „Lyrik wäscht Sicht nicht!“ herausschreien, dadurch Verwirrung stiften und sofort das Weite suchen. In Amerika: Man könnte „Lyrik wäscht sich nicht“ im Badezimmer flüstern oder leicht über das Waschbecken gebeugt sagen und dabei in den Spiegel schauen, während ein Kamerateam versucht, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen, und dem Licht setzenden Kameramann Schweißperlen auf der Stirn stehen.

Die Hoffnung darauf, dass zu Ernst gewordener Spaß sich wieder in Spaß verkehren könnte – und also ein verkündetes “Lyrik wäscht sich nicht” der Beginn von wunderbaren Unterhaltungen wäre, die nicht im Streit enden –, scheint mir für’s Hier und Jetzt allerdings eine aussichtslose, beinah. Ich hab jedenfalls noch nicht genügend zerknirschte Lyriker erlebt, die urplötzlich wie neugeboren ins zärtliche Späßemachen verfallen wären. Lyriker sind Seismographen für Schwingungen der Musik, die dem Ton innewohnt wie der Baum dem Samen, Sprachmusik, die der Stimme Klang gibt. Beim Umgang mit Lyrikern würde man als Erstes erfahren, würde eine derartige Spaß-in-Ernst-Wandlungswelle über’s Land rollen. Aussichtslos also, beinah. Weil allerdings Jannis Ritsos schrieb: “In diesem Beinah wohnt die Dichtung”, will ich daran ruhig glauben, mich in solcher Zuversichts-Verfassung weiterem die Waschfrau Lyrik Betreffendem zuwendend.

Zu lesen war in der Post, die bei mir über den Athener Umweg eintraf:

Denis Scheck, anläßlich der Nominierung Jan Wagners für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015: „Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr erwarten?*1

Es geht um Sauberkeit an sich, an sich selbst und in der Lyrikschreiberei. Desgleichen um die Sauberkeit der Lyrik an sich. Die eine ist von der anderen fast nicht zu trennen, so sehr von manchem auch gewünscht. Man kliereschmiere einfach so was hin, dann wird es heißen: “Schmiert einer was hin, bezeugt’s seinen Sinn. Schreibt einer auf fettiges Wurstpapier, dann krepelt er rum im Durstrevier, dann wird er selbst auch fettig an sich sein, fettgesichtig, und sein Geschriebenes kaum lesenswert, es ist die Wurst nicht wert, die darin eingepackt werden könnte”, – solche Schlüsse, vermute ich, werden von Fettfleck-Papier-Beurteilern gezogen. Am Beispiel von Beuys war das zu erleben. Beuys musste Pelz dagegen aufbieten und die Fußwaschungsaktion, bei der er einen Schlag abbekam. Man kann sich leicht verdächtig machen, nicht ganz sauber zu sein. Auch durch die Verwendung schmutziger Wörter.

Hätte ich diesen Text zur sich waschenden Lyrik z.B. mit “Smegma” begonnen, wäre womöglich gleich am Anfang alles verdorben gewesen, weil Leserin oder Leser angewidert beschlossen hätten: Ekelhaft! Weg damit! Unmöglich es lesen!*3

Sich unmöglich zu machen mit oder durch irgend etwas, das war das auf den ersten Blick Schlimmste, Dümmste, was man selbst sich antun konnte – früher, als man noch gehorchen musste und angewiesen war auf einen Schlaf- und Essplatz bei den Eltern. Sich-unmöglich-Machen vermied man besser, egal, ob das Sich-unmöglich-Machen mutwillig, aus Leichtsinn oder in aller unschuldigen Unwissenheit erfolgt wäre. In letzterem Fall konnte dann womöglich einzig und allein ein Schutzpatronenengel den Totalverstoß aus der Gemeinschaft verhindern und eine Situation herbeiführen, in der alles so weiterlief, als wäre nichts geschehen. Traf aber mutwilliges oder leichtsinniges Sich-unmöglich-Machen zu, war einem kaum noch zu helfen. Eingeladen oder nach da und dort mitgenommen zu werden, von den Mitmenschen akzeptiert, einen Studienplatz zu bekommen, eine Lehrstelle, eine Arbeitsstelle, eine Freundschaftsgabe oder einen Fuß auf den Boden – ausgeschlossen. “Smegma” spielerisch-spaßig in der Gegend zu verteilen, kann noch heute Sich-unmöglich-Machen bedeuten und damit: Risiko. Wie auch absichtliches Sichnichtwaschen des Menschen oder der personifizierten Lyrik. Oder das wilde Deponieren benutzter Tampons im Klinikgebäude, wie Helen Memel es tat, die Heldin des Buchs “Feuchtgebiete”. Die Autorin Charlotte Roche tabuisierte z.B. Smegma nicht. Von achtzehn von mir persönlich nach “Feuchtgebiete” befragten Menschen hatten achtzehn das Buch angelesen, fünfzehn es nach 20 Seiten weggelegt, in die Ecke oder an die Wand geschmissen. “Ekelhaft! Widerwärtig! Unmöglich! Krank! Kann man nicht lesen! Ist das Literatur?!??” Wenn schon die Reaktionen auf eine Smegma thematisierende Prosa so harsch ausfallen, welche mögen dann erst die auf eine Lyrik sein, die sich nicht wäscht? Es mag sein, dass in der Prosa anderes möglich ist als in der Lyrik, siehe “Feuchtgebiete” oder auch das Kapitel “Dana” in Jan Faktors Roman “Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag”. Aber ich vermute, einer Lyrik, die sich nicht wäscht, wird es nicht anders ergehen als dem “Feuchtgebiete”-Prosabuch oder jemandem, der z.B. Smegma zum Lyrikmachen verwendet. Blut und Sperma sind akzeptiert. Smegmatische Lyrik allerdings … Man oder Mann schreibe “Smegma” mit Textilmarker auf ein T-Shirt, rahme dieses Wort mit einer umlaufenden Linie, stelle es sonstwie heraus, gern auch als sei es Poesie, und setze sich in ein Lokal. Es gibt kein zweites Mahl. Es sei denn, ringsum weiß niemand, was Smegma bedeutet und jeder und jede würden vermuten: Smegma bedeute sowas wie “du kannst ma ma”, was nichts anderes wäre als: “du smeg ma ma”, “Leckma!”, “Smegma!” Im Pratergarten vielleicht. (Ich vernehme Protest: “Mach dir wech hier!”) Sich gewaschen zu haben oder nicht, das könnte dann den allerletzten Ausschlag dafür geben, ob man sich überhaupt noch einmal in einer Runde sehen lassen kann. Sich gewaschen zu haben oder sich nicht gewaschen zu haben macht einen gewissen Unterschied. Das gehört zum Erfahrungsschatz der Menschheit seit der Erfindung des Waschens. Seit sich Wachspuppen in Waschpuppen verwandelten. Mit der personifizierten Lyrik, die sich wäscht oder nicht wäscht, verhält es sich nicht anders. Wer verkündet, sie wasche sich nicht, ruft womöglich ihre Massivverbannung herbei. Die Lyrik wäscht sich nicht? Die Lyrik wird sich hüten. Die Lyrik wäscht sich, so oft sie kann, und wenn sie sich mal nicht gewaschen hat, dann wird sie nicht gleich daran sterben. Und wenn’s genug geregnet hat, dann hört’s auch wieder auf. Und es fängt wieder an mit dem Regnen und dem Waschen. Das Waschen, das hört nimmer auf. Es ist damit wie mit der Liebe, die nie aufhört, solange sie am Lieben ist.

Unter den Schlagworten “Smegma” und “Lyrik” findet sich im Internet allerdings tatsächlich etwas: “Smegma Lyrics”*4. Dort der Songtext: “Ich bin ein Skin”. Die letzten beiden Zeilen: “Ich hab in dieser Zeit so viele Freunde kennengelernt / Und so manche Frau hat mich in ihrem Bett gewärmt”. Ich vermute, ausnahmsweise könnte das einmal eine Lyrik gewesen sein, die sich nicht wäscht, welche den Skin-Songwriter wärmte. Ansonsten – und das mag sogar dem Skin gefallen – wäscht die Lyrik sich in Wassern, die bergauf fließen, in Wassern des Quellursprunges, in Wassern ohne Oberfläche, in Teichen ohne Grund, in Grundwassern ohne Anlass, in Abwassern, Tränen, Harzen, Ölen, in Pampe, Lauge, Hirnwasser, Fruchtwasser, in Gülle, unter Schwall und Wasserfall, in allerlei Substanzen, innen und außen; sie kennt Blut- und Gehirnwäsche. Man bringe um Himmelswillen die Lyrik nicht in Verruf durch Behauptungen wie solche, dass sie sich nicht wasche! Es sei denn, man hat längst Fazit gezogen: “Lyrik? Liest sowieso keiner mehr.”

Vielleicht wurde bei “Lyrik wäscht sich nicht” einfach nur was durcheinandergebracht und es las sich dann so schön und man fand Gefallen daran. Vielleicht sollte es eigentlich eine Provoktion werden. Möglicherweise ist bei deren Formulierung aber was schief gelaufen und anstatt, dass man was Unerwartetes sagen wollte, hatte man ein Flashback, hatte man was in Erinnerung, was sich als ein Eindruck machendes Unerwartetes ausgab, tatsächlich aber etwas längst Bekanntes ist: 1982 sang Gerhard Schöne das Lied “Jule wäscht sich nie”. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Jule nach so vielen Jahren wieder einmal für einige Sekunden durch die Vorderstube der Erinnerung geisterte. “Jule wäscht sich nie”, fröhlich von Gerhard Schöne und begleitet von schallenden Kinderstimmen zu Gehör gebracht, kann sehr leicht zu “Lyrik wäscht sich nicht” mutieren. Die Silbenzahl ist die gleiche. Man verliert jegliche Scheu vor dem Thema. Trotzdem – der Liedtext beschreibt sehr genau, was mit einem Frauenzimmer geschieht, das sich partout nicht waschen will. Und wie es endet. Sie wäscht sich schließlich doch. Sonst hätte sie nie einen abgekriegt. Selbst ein so verständnisvoller Mann wie Gerhard Schöne, der noch auf den aus dem Nest gefallenen Vogel aufmerksam zu machen verstand, musste die Jule schlussendlich in die Wanne steigen und sie Wasser und Seife lieben lernen lassen. Vorher war und blieb alles eine Schweinerei. Der sich nicht waschenden Lyrik erginge es nicht anders. “Ihhhhhh!” und “Schweinerei!”, den Nobelpreis für ungewaschene Lyrik gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche vielleicht. Möge niemandem einfallen, “Lyrik wäscht sich nicht” zu singen. Was als Spaß begänne, könnte mit Anstiftung zur Volksverdreckung enden. Dafür kommt man in die Anstalt und wird unter Aufsicht sauberer Mädel gestellt.

Sich nicht zu waschen gilt als eine der effektivsten Verhütungsmaßnahmen. Auch bei der Lyrik wird das zur Folge haben, dass sie sich nicht weiter vermehrt. Ist das so gewollt? Ein Spezialkommando könnte damit beschäftigt werden herauszufinden, ob in der Welt (in welcher Welt?) verhältnismäßig viel oder wenig Lyrik gelesen wird und ob das darauf zurückzuführen ist, dass die Lyrik sich eben mäßig, mäßig viel, viel oder gar nicht wäscht. Schon sehr bald spielen dann auch Fragen wie diese eine Rolle: Welche Lyrik? Die deutsche, die griechische, die russische, die iranische, portugiesische, lateinamerikanische, die Weltlyrik, die Gelegenheitslyrik usw. usf. …? Wäscht die eine sich mehr, die andere weniger, oder kommt man zum erstaunlichen Resultat, dass die Lyrik sich überall auf der Welt gleich viel oder wenig wäscht?

Reflektieren und fabulieren Lyrikschreiber und -schreiberinnen über ungewaschene oder sich nicht waschende Lyrik? Sagen sie: “Ich sehe schon kommen, dass …”? Baut sich vor ihrem inneren Auge ein Bild auf, eine Szene, in der die Lyrik erscheint und sich über den Brunnen, über das Waschbecken, die Wanne, die Schüssel beugt wie die Königin des Waldes über den Spiegel der Vorhersage in der Verfilmung von “Der Herr der Ringe”? Fragen Autorinnen und Autoren sich, was mit ihren Texten passiert oder wie sie diese aufbauen würden, wäre klar, sie bekämen’s zu tun mit der Lyrik, die sich wäscht oder nicht und die jeden Augenblick hereinplatzen könnte und sie, die sie schreiben, zur Verantwortung ziehen? Finden Zwiegespräche statt tagsüber oder des nachts zwischen Autorinnen und Autoren und der Lyrik? Setzen Autorinnen und Autoren sich auseinander mit dieser planschenden, plätschernden oder wasserscheuen oder sonstwie zum Wasser sich direkt oder indirekt verhaltenden Lyrik wie der Philosoph sich auseinandersetzt mit der Moral, den Nacht- und den noch viel gefährlicheren Tagträumen? Wird eines Tages die Lyrik aufkreuzen am Ende der Straße und heranrücken wie der Riesenmarshmallow in “Ghostbusters” oder der Tyrranosaurus Rex in “Jurassic Park” und die ganze Welt definitiv wissen lassen, ob sie gewaschen oder ungewaschen ist, grundsätzlich oder von Zeit zu Zeit? Oder passiert das längst: Werden Schreiberinnen und Schreiber oder auch Leserinnen und Leser heimgesucht von der sich nicht waschenden, ungewaschenen oder sich sehr wohl waschenden Lyrik, und niemand ringsum bekommt davon etwas mit, nimmt Notiz, will was bemerkt haben; steht sie im Raum wie die Herren bei Kafkas Josef K., der ins Gericht nicht kommen konnte, oder wie bei der Frau, die auf einem Flugblatt bekanntgab, dass die Polizei schon einmal bei ihr gewesen sei, weil sie jemandem ähnlich sehe. Oder könnte dieser Jemand die Lyrik gewesen sein und die Frau kam ins Zimmer und die Polizei war schon wieder weg? Existieren bereits Texte mit Auskünften darüber, ob die sich nicht waschende Lyrik präsent ist oder nicht, ob sie was anstellt mit dem, der sie schreiben soll oder schon geschrieben hat, oder ob sie sich eher zurückhält oder im Gegenteil massiv Einfluss nimmt auf’s Schreiben? Wird etwas darüber gewusst, ob Texte entstanden sind, in denen von der Thematik des Ungewaschenen einzig und allein deshalb dort zu lesen ist, weil die sich nicht waschende Lyrik das verlangt hat, den Schreiber erpresst, ihm gedroht, wenn er solches nicht schriftlich fixiere, dann werde sie sich ihm entziehen? Möglicherweise ist so etwas schon öfter passiert, als man annehmen mag. Viele Autoren haben das Lyrik-Schreiben aufgegeben, und es werden die unterschiedlichesten Gründe dafür genannt. Einer könnte sein, dass die Lyrik sich mit kalter Schulter abgewendet hat, sich verweigerte, geschrieben zu werden, auf Nimmerwiedersehn.

Ob sich wohl eine einzige Lyrikerin findet, die Auskunft darüber gibt, dass sie sich nicht gewaschen hat, nicht wäscht, und dass auch ihre Lyrik ungewaschen oder nicht gewaschen ist? Lyrik gehört zum sich waschenden Menschen wie der Lyriker zum Wasser, dem transformierenden Element. Es gibt deshalb wasserfestes Papier und Stifte, die unter Wasser schreiben, damit Verse, die unter niedergehendem Brausenass einem besonders gern in den Sinn kommen, notiert und somit festgehalten werden können, ehe das fließende Wasser sie mit sich fortnimmt und einem anderen Gedichte Schreibenden als Inspiration zuträgt. Wasser ist ein Vielkönner. Die meisten Poeten duschen gern und die allerbesten baden auch. Es kommt einem da eine Flut von Gedanken. Einer nannte sich sogar zusätzlich Baader. Das war Absicht. Ob er sich in eine leere Wanne legte mit einer prinzipiell beibehaltenen Ungewaschenheit oder nicht, Baader blieb Baader. Soviel konnte bereits eine Wanne ausmachen. Das Wasser war angedacht und ein unterschwelliges Nassmachen damit jedenfalls gegeben; das schlug auch auf die Lyrik durch. Das Wasser nimmt sich die Lyrik vor, die Lyrik den Lyriker, der Lyriker das Waschen, dem Waschen ist das Wasser immanent, der Kreislauf geschlossen. Lyrik wäscht Lyrik. Wer “Lyrik wäscht sich nicht” sagt, der muss auch “waschen” sagen. Mit dem Vorhandensein des Wortes “wäscht” ist alsogleich das Waschen assoziiert und anwesend und damit auch diejenigen, die dieses tun, an sich selbst und an Objekten. Wie wenn man “Störteufel”*5 sagt. “Ferdinands Zauberhäuschen” hat uns gelehrt: “Den Namen nicht nennen!”, um den Namensträger nicht anzulocken. Das Wort “wäscht” wäre also notwendigerweise besser zu vermeiden gewesen, um gar nicht erst den Gedanken daran aufkommen zu lassen und somit – was ja nicht beabsichtigt war – an die Lyrik, die sich wäscht. “Lyrik sich nicht” hätte genügen müssen.

Ein anschauliches Beispiel für die Verbindung von Baden und Dichten bietet das von Elisabeth Shawn illustrierte Buch “Schaumköpfe”, erschienen im Kinderbuchverlag der DDR, die Verse stammen von Heinz Kahlau. “Wäscht man nur Beine, Bauch und Hand, / knirscht auf dem Kopfe noch der Sand.” oder: “So blitzeblank von Kopf bis Zeh, / da schmeckt der süße Milchkaffee.” Das Buch wurde ein Klassiker und ist noch heute zu bestellen. Man könnte es vielleicht einmal neben einen Gedichtband von Jan Wagner halten; es werden sich Abgründe auftun. Lyriker und auch die Lyrik dürfen nicht nur hin und wieder sich waschen und schaumköpfig sein – sie sollten sogar!

Reaktion des Dresdner Autors und Herausgebers Holger Wendland auf „Lyrik wäscht sich nicht“: „Lyrik ist ungewaschen. Lyrik kann sich ja nicht waschen … beziehungsweise: Lyriker können sich waschen, Lyrikerinnen waschen sich sowieso; obwohl die Schweizer Einwanderungsbehörde seinerzeit Else Lasker-Schüler in einem Überwachungsprotokoll vorwarf, sie sei ungewaschen.“ Ungewaschene Lyriker sind meist überfallartig abgeholt worden. Entweder von Amtspersonen oder vom Text. Ist dies der Fall, sollte mit ihnen Nachsicht geübt und ihnen die Benutzung des Waschbeckens gestattet werden, so es sie danach verlangt.

Dichtern, die sich nicht waschen, könnten ihre Texte anzumerken sein. Die nämlich werden mit der Zeit immer steriler oder bröseliger ob der trockenen Selbstversuchslaborbedingungen, unter denen sie entstehen. Staubbildung ist die Folge, Niesschnupfen. Die Dichter fallen in sich zusammen wie Sandsäulen. Viel zu viel Energie wird verschwendet auf den Trotz gegen das Sichwaschen beziehungsweise Nassmachen. Das macht zusätzlich mürbe. Erstens: Diese Energie fehlt beim Dichten. Zweitens: Von sich nicht waschenden Dichtern verfasste Texte entwickeln eine merkwürdige, regressive Eigendynamik. Sie neutralisieren sich schließlich oder verkümmern.

Eine andere Möglichkeit, die ein Gedicht haben kann, ist ein Geschriebenwerden von sauberer, gewaschener Hand, an sauberem, gereinigtem Ort, ein gefülltes Glas in der Nähe. Sofort entwickelt der Text ein Fließverhalten und beginnt, sich anzureichern, denn wo nichts ist, kann umso mehr noch aufgenommen werden. Sich nicht waschende Lyriker mögen fleißig sein, die Lyrik der sich Waschenden hat aber Fließqualität. Wasserhinzugabe zur geschriebenen Lyrik und nachfolgende Schaum-, Schimmel- oder Fäulnisbildung sind ein Garant für das Entstehen aufregendster Verse oder auch eines fuchsig machenden Kurzschlusses, der hochgradig energetisch befördernd auf die Aktivitäten des Autors wirken kann.

Es sei erinnert an die Beschreibung des Spiels, das Matthias Baader Holst einmal in einer Bahnhofshalle mit herabfallenden Wassertropfen*6 trieb, die er vor den Augen der Zuschauer rieb und zerrieb, als könne er aus Flüssigem Trockenes machen. Ein ionenangereicherter Autor, der ständig Lyrik hervorbrachte und diese lebte. Von ihm konnte man lernen: Ein wenig verderbliches Aroma wird gebraucht. Ohne Flüssigkeitszugaben ist das nicht zu haben. Geruchsbildung garantiert Reaktionen. Wasser hält den Kreislauf am Zirkulieren, bewirkt Fäulnis, Zersetzung, Verschlammung, Neukeimung. Das Schreiben muss im Flusse bleiben. Dichter sollten nicht das Trockne suchen, sondern in den Regen gehn, verderben, vergehn und widerwerden. Der Autor Gregor Kunz am 1. Dezember 2012: “PS.: Irgendwann 2008 im Sommer hatte ich so einen Regen, mitten in den gelben Kornfeldern der sächsischen Pampa, oder der hatte mich an einer baumlosen Landstraße. Eine gigantische Wolke stand dunkelblaugrau überm Elbtal, eine merkwürdig schwefelige Bewegung um sich selbst, ein blauer Wirbel gedehnter Zeit. Kurz vor dem Platzen habe ich sie fotografiert, dann Apparat und Zigaretten tief im Rucksack verstaut. Dann habe ich nicht mehr viel gesehen, nur Wasser, das sehr dicht von oben nach unten fiel und wieder hochspritzte, schäumte und floss, in Bächen und Nebeln herumzog. Die Autos fingen an zu schwimmen und ich bin von der Straße weg und langsam über die Felder gegangen auf ein kleines Waldstück zu, von dem ich wußte, wo ungefähr es liegen musste. „Poeten rennen nicht“, meinte Arno Schmidt, aber selbst wenn, es hätte nichts genützt. Als ich da war, war ich auch durch.
Ich hab dann unter Kiefern und Eichen im Regen gestanden und gewartet und hätte gern geraucht. Es goß noch wenigstens 20 Minuten und gleichzeitig schien die Sonne.“ Lyrikschreiber, die nicht gern regennass werden, nicht viel trinken und nicht in die Nähe von andern gehen, die sie nasspritzen könnten, spülen zumindest Gläser oder waschen ihre Pullover in Flüssen oder Regentonnen oder sie suchen die Nähe von Springbrunnen. Deren Lyrik ist immer dabei. Geriete sie ihnen zu stumpf – es würde kaum wer darauf anspringen. Langweilig. Bleibt leicht unbemerkt. Am Menschen kann man das studieren. Wer nach nichts riecht, wird schneller vergessen.

Geruchsbildung, besser noch: Gestank fördert das Aufmerken und die Aggressivität im umgebenden Biotop, und ganz ohne diese kommt insbesondere lyrisches Schaffen nicht aus. Beispiele für eine solche zwischenmenschliche, sensationsförderliche Feindseligkeit gibt es einige. Will man sich davon überzeugen, begebe man sich am besten Ende Juli nach Griechenland, vorzugsweise nach Athen, wasche sich bei 38 Grad vier Tage nicht, lasse auch seine Lyrik sich nicht waschen, setze sich dann dort hin, wo Menschen Gespräche führen, und warte ab, was passiert. Auch am 6. Juni 2015, in Berlin, bei 34 Grad wäre so etwas auszuprobieren möglich gewesen. Da hätte man konkrete Erfahrungen sammeln können, falls man solche des Sich-nicht-Waschens noch nie gemacht hat, trotzdem aber die Vorstellung entwickelte, nach welcher die personifizierte Lyrik sich sowieso grundsätzlich nicht wasche. Du ahnungslose Heiterkeit …

Sich einige Zeit nicht gewaschen zu haben, ist der beste Garant für Tumult, für Messer, die in Taschen aufgehen, für Fluchtverhalten, das ausgelöst wird. Die Lyrik liebt das, manchmal. Wenn ihr danach ist. Wenn sie sich derart zu verwirklichen gedenkt. Das kann ihr gelingen, auf zweierlei Weise. Durch aktives Nichtwaschen, aber auch dadurch, dass sie Homo Sapiens in raffinierter Weise dazu bringt, von ihr zu denken, dass sie sich nicht gewaschen habe, oder von ihr solches zu behaupten. Wie das vor sich geht, ist ebenfalls im zwischenmenschlichen Bereich zu beobachten.

Selbst die in einem völlig neutral gehaltenen Ton getroffene Aussage: “der riecht” oder: “der roch sehr eigen” oder: “der wäscht sich nicht” ist wohl ein wesentlich effektiveres Mittel, Menschen zu diffamieren und damit Groll und Empörung zu erzeugen, als es andere, kompliziert erdachte und sonstwie geäußerte, bösartige Behauptungen vermögen. “der wäscht sich nicht” wird andere auf Abstand zu diesem Ungewaschenen gehen lassen. Nicht auszudenken, wär’s erst eine Sie. Und die Lyrik ist ja eine Sie. Ein unüberlegt dahingesagtes “Lyrik wäscht sich nicht” könnte zu deren Isolierung führen, sie kaum noch zur Kenntnis genommen oder gelesen werden, ihre Existenz in einer Mikro-Nische wäre so gut wie besiegelt. Welche allerdings zu einer Makro-Nische zu mutieren vermag, immerhin. Trotzdem – wenige Leser fänden Zugang zu ihr, so wie Besucher, die vor einem Käfig im Zoologischen Garten auch dann ausharren würden, wenn sich darin nichts sehen ließe außer einer Höhle, in oder vor der sich nichts regt. Immer wird es jemanden geben, davon überzeugt: “Da ist was! Auch, wenn man’s nicht sieht!” Viele jedoch sind von diesem inneren Vertrauen nicht erfüllt, gehen vorbei, schauen nicht einmal flüchtig zum Käfig hin oder denken sich: ‘Warum hat man das Gehege nicht längst geräumt oder ein anderes Tier reingesetzt oder eine Spiellandschaft draus gemacht?’ Ahnungslos, dass in der Tiefe der Höhle die Lyrik wohnt, die sich zurückgezogen hat, ungewaschen, verschmäht von den meisten Menschen, sich hier konzentrierend und abwartend, Widerstandskräfte bildend. Es bräuchte nur einen Technischen Mitarbeiter in diesem Zoologischen Garten, der auf die Idee kommen könnte, tatsächlich aus dem leeren Käfig mit der von den Tieren verlassenen Höhle eine Spiellandschaft werden zu lassen … Was dann folgen würde, wozu die Lyrik sich, einmal in ihrer Hinterecke aufgescheucht, entwickeln könnte, ließe sich seitenlang ausführen, bis dahin, dass sie abermals Einzug hielte in jedes Haus und in jedermans Sinn, dass es zu einer Renaissance der Lyrik käme und so weiter und so fort, gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche.

Vorerst aber wird mit der Lyrik das geschehen, was auch demjenigen widerfährt, über den geäußert wurde: “der wäscht sich nicht” oder “… nicht immer” oder “… nicht richtig”. Solches einmal in die Welt gesetzt, macht die Runde, schneller noch als anderes. Ich halte manche solcher “der-riecht”-Bemerkungen für üble Nachrede und glaube daran, dass Böse Geister diejenigen mit sich nehmen werden, die entsprechende Rede führen, seit ich wiederholt erfuhr, dass ausgerechnet Übel-Nachreder vom Butzemann einkassiert und nicht wiedergesehen wurden, die sich in Sicherheit gewiegt hatten und aus dieser vermeintlich wohlig komfortablen Situation heraus über andere geäußert, dass diese nicht immer gut riechen würden, oder die vermeintlich hilflose Menschen gar noch hilfloser zu machen versuchten durch Empfehlungen wie “Waschen hilft.” oder: “Nicht kratzen, sondern waschen!”

Gewiss, das kann ungeahnte Verteidigungskräfte freisetzen … Eine Möglichkeit, sich gegen solches zu wehren, wäre die lautstarke Entgegnung: “Nichtwaschen hilft mehr.” Bekanntlich reinigt Dreck den Magen und Wasserscheu hat Katzenwäsche zur Folge und ein Katzensiebenleben. Sich überlebensgewiss und immun gegen Diffamierung zu zeigen, bedarf allerdings einer entsprechenden Schlagfertigkeit. Es gilt zu signalisieren: Man wasche sich bewusst nicht. Man wäre vornehmlich Lyriker, durchdrungen von Lyrik, die sich nicht wäscht, man könnte auf die fiese Stänkerei mit Gegenpestgeruch reagieren und wär fein raus im Prozess der ausgleichenden Gerechtigkeit. Eine Mitgliedschaft im Infektionskommitee könnte womöglich auch als Selbstbewusstseins-Stabilisator taugen. Man benutze aus unterschiedlichen Gründen kein Washi-Papier. Man lege das Datum für den Internationalen Nichtwaschtag fest und propagiere, die Welt solle sich einen Tag lang nicht waschen … oder auch eine ganze Woche nicht oder nie mehr. In dieser Zeit könne Lyrik gelesen werden.

Es käme auf die Probe auf’s Exempel an, herauszufinden, ob das funktioniert mit dem Nichtwasch-Kontern, zu welchem Zeitpunkt, an welchem Ort, bei wem, unter welchen Begleitumständen, bei welchen Wasserständen und Tauchtiefen.

Man kann sich aber auch still verhalten, scheinbar defensiv, das Opfer mimen, dem Übel-Redner-Peiniger einen lustvollen Moment vermeintlicher Ewigseligkeit gönnen, indem man Tränen in die Augen steigen lässt, die Mundwinkel sinken, den Kopf hängen, die Schultern hochzieht, geneigten Hauptes und insgesamtgeknickt sich abwendet, in ruhiger Gewissheit, dass der Butzemann bereits unterwegs ist und “diese Angelegenheit klären oder bereinigen wird”.

Hochmut kommt vor dem Fall. Kaum hatte ich mich – während ich mit viel Wasser einen teuren Holzboden glänzend und sauber wischte, um der Lyrik einen Spiegel zu bieten – daran erinnert, wie grausam die Rachegötter sein können, stieß ich mit dem Wischmoppstielende gegen einige hochempfindliche Objekte, die vom Sockel stürzten und Dellen in die Dielen schlugen; eine deutliche Botschaft im Sinne von: Demut vor dem Feind! Es ist erschreckend vorhersehbar, wie treffsicher die warnenden Geister sich einstellen beim kleinsten Anflug von Überlegenheitsdünkel. In der Lyrik schlägt Schere den Stein nicht und Stein nicht Schere, Papier deckt den Brunnen nicht und Brunnen schluckt nicht Papier. Keine Sieger und Besiegten. Man wasche sich nicht oder wasche sich, die eine oder andere Lyrik wird überdauern. Nichtwaschen lässt den Humor strohig werden wie in einem Humidor die Zigarre ohne etwas Feuchtigkeit. Nichtwaschen gibt sich etwas unlustig. Und manch eine Lyrik ist dem Tiefernsten durchaus nicht abgeneigt. Diese trägt selten bunt, ihre French Maniküre ist das Schwarz unter den Fingernägeln. Gegen Ende der fünften, sechsten oder siebenten nachatlantischen Epoche könnte sich das vielleicht ändern. Aber vorerst bleibt’s dabei: Falls die Lyrik sich nicht wäscht, so will sie sich doch waschen.

Ich verweile an dieser Stelle noch eine Zeitlang da, wo es nix mehr zu lachen gab, gibt, wo die Welten aufeinander prallen. Sich nicht waschen wollen ist das eine, sich nicht waschen können, das andere, sich waschen zu wollen und doch nicht zu können, wieder was anderes. Wie auch immer: Nichtwaschen führt zu Verstoßenwerden.

Ein Bus. Der junge Mann hatte es nicht geschafft, rechtzeitig das WC zu erreichen. Für die nächsten drei Stunden blieb er in einem Radius von etwa zweieinhalb Metern isoliert, in der sonst allerbeengtesten Situation. Dass er nicht erschlagen wurde lag daran, dass man statt seiner seine Frau schlug und später sie mit den beiden Säuglingen aussetzte, in einem Landstrich, in dem weit und breit nichts war als steinharter, aufgeplatzter Erdboden.

Folter, Erniedrigung, Isolationshaft gehen immer wieder auch damit einher, Menschen das Sichwaschen zu verweigern. Die Reaktionen auf den so gepeinigten, ungewaschenen Menschen sind vorherwissbar; von ihm wird Abstand genommen, er wird gemieden, ohne dass die Menschen um ihn herum sich dazu absprechen müssten.

Oder das: “Ihm ist es unangenehm, sich in der Gemeinschaftsdusche vor den anderen Männern auszuziehen. Oft wartet er bis drei Uhr nachts, damit er die Duschräume für sich allein hat.“ So zu erfahren im Artikel*7 über einen Flüchtling aus Syrien, untergebracht in einer Turnhalle in Berlin-Zehlendorf.

Die angeführten Beispiele berichten allesamt von Männern, und sie seien ergänzt durch das des “Stinkers”, eines vom Erniedriger erniedrigten Erniedrigers aus der Filmserie “Games of Thrones”.

Der Dichter Jannis Ritsos rettete seine Seele in den Gefangenenlagern auf den Inseln Jaros und Leros, weil er seinem Entschluss treu blieb, sich täglich zu waschen, morgens und abends, wie schwer es ihm auch wurde und gemacht wurde.

Das Sich-Waschen gänzlich einzustellen an einem Ort, an dem fließend warmes Wasser aus der Wand kommt und Licht aus der Zimmerdecke, ist nicht selten ein Akt des Trauerns um einen geliebten Menschen, Nichtwaschen die letzte Möglichkeit einer Reaktion auf das Leben, das nicht mehr stattfindet. Ich hatte außerdem einmal eine Begegnung mit einem Mann, der das Sich-Waschen aufgeben wollte, nachdem er erfahren hatte, dass die von ihm gepflanzten Bäume abgeholzt worden waren. Er meinte sich daran zu erinnern, dass Beethoven einmal geäußert habe, der Verlust eines geliebten Baumes könne ihn mehr schmerzen als der eines Menschen. Es mag Fälle von Lyrik geben, die dem entsprechen.

Als Trotzreaktion auf die Einschätzung eines Literaturbewerters, der von ihm für gut befundene Lyrik in Verbindung mit ausreichender Körperhygiene bringt, wäre menschliches Nichtwaschen eine gewagt kuriose Idee, zumal, wenn von dem Herrn nicht zu wissen ist, ob dieser selbst stets gewaschen ist und ob, wenn ja, dabei sämtliche Bereiche seines Körpers mit einbezogen wurden in die Waschung. Und ob der gelobte Lyriker sich tatsächlich genügend wäscht und zwar unter Einbeziehung aller Bereiche des Körpers und gemessen an wessen Nase. Wie will der Literaturbewerter das wissen … Was kann der Lyriker dafür?

Eine Äußerung von Denis Scheck rief Gegenwehr hervor? Ideal! Da haben wir ja bereits das Gute daran. Die Anti-Kräfte sind am Wirken. Jan Wagner schreibt von Giersch und Koalabären? Die sind bereits vom Aussterben bedroht. Unter anderem wegen zu großer Trockenheit. Um die Waschbären steht es noch nicht so dramatisch. “Dit is den Waachner seene Sache, von welche Bärn der schreibt, lasst den nur machen, der wird schon wissen …” Giersch im Garten bekämpft man mit Storchenschnabel.

Es folgte also auf Herrn Scheckens Lob des Jan Wagner, dessen feine Manieren und vorbildliche Körperhygiene ein Aufruf des Infektionskommitees zur Einsendung ungebleichter Texte. Wohlweißlich aber nicht zum Trotznichtwaschen als Reaktion auf ein möglicherweise einfach so dahingeschwätztes “mangelnde Körperhygiene”, das durch die Tatsache des Gedrucktwordenseins seinen Schwätz-Charakter verloren hat und sich – eben noch schwarz auf weiß – in einer für manchen möglicherweise bedrohlichen Wirkmächtigkeit aus dem Text herauszulösen und gewaltig aufzurichten wagen könnte wie ein Wächter, der seine scharfen Blicke alsbald schweifen ließe, um jeden Ungewaschenen oder Teilungewaschenen auszumachen, die Häscher auf diesen zu hetzen, die Häscher, die eigens dafür verantwortlich wären, den überwältigten Womöglichstinker einer Zwangswaschung zu unterziehen … Nichtwaschen als Reaktion auf ein temporär beängstigend wirkendes “mangelnde Körperhygiene” – dazu braucht es wohl einer gehörigen Portion Furcht, Trotz, Widerstands-Courage. Eine Aufforderung zum Nichtwaschen würde mir, der aus der Elbestadt Magdeburg Stammenden, eine Reaktion wie diese in Erinnerung rufen: “… und wenn eener sacht: Spring inne Elbe!, dann machste das och – oder?!” Und wenn einer dich auffordert: Spring nicht in die Elbe, wasch dich nicht, putz dir nicht die Zähne, meide die Inbetriebnahme der Waschmaschine, dann … Hat aber niemand verlangt. Zweite Reaktion, die mir in Erinnerung käme, würde das Nichtwaschen verlangt: ein trockenes “Nur so kann man sparen”. Selbstverständlich, im Zustand des verschmiertverdreckten Verrecktseins spart man das meiste Wasser. Habt aber auch niemand verlangt.

Selbst das Infektionskommitee wagt – obwohl der Lyriker Wagner eine Rolle spielt – sich nicht viel weiter vor als bis zur Ausgabe der Parole “Lyrik wäscht sich nicht” und bis dahin, Brecht zu zitieren: “Waschen verdirbt das Talent”. Wer allerdings weiß, wie Brecht das gemeint hat und in welchem Zusammenhang geäußert. Hat man je etwas über den ungewaschenen Berthold Brecht erfahren? Schrieb Brecht vom das Talent verderbenden Waschen aus eigener Erfahrung? Dass Waschen die Verse verdürbe – dazu äußerte er sich nicht – oder? Nur im Hinblick auf das Talent. Zu fragen wäre wohl: welcherart Talent? und: wessen? Waschen oder Gewaschenwerden, Waschen oder Sichselbstwaschen? Waschen verdirbt das Talent eher nicht, denn wer beim vielen Waschen noch schreiben kann, der hat tatsächlich welches; Talent erweist sich erst unter Schwierigkeiten als ein solches, wahrhaftiges. Man probiere einmal das Schreiben unter Wasser. Wo Wasser ist, da braucht man meist auch eine Dichtung. Waschen verdirbt die Zigarre.

Wenn es also heißt: “Lyrik wäscht sich nicht”, dann kann es sich bei ihr nur um ein überschwelliges Nichtgewaschensein handeln, welches immer zugleich auch ein unterschwelliges Gewaschenwerden ausmacht. Keine Furcht vor der sich waschenden und die Welt waschenden Lyrik! Lyrik will sich gewaschen haben! Am Wasserstand probt sie ihren Widerstand, übt alle Tage Wasserwiderstand, lässt alles sich schlammfruchtig anreichern mit ihrem Gewäsch. Waschet euch unsauber! Ertrinken ist schlimmer. Oder Durst.

Fortsetzungstext, Stand 19. Juni 2015

© Ina Kutulas

 

*1 Liebe Mitstreiterinnen und -streiter, Bewegte und Umgetriebene,
aus gegebenem Anlaß (s. unten) startet die Zeitschrift „Abwärts!“ für ihre nächste Ausgabe im Juli einen Aufruf. Über zahlreiche Rück- und Wasserstandsmeldungen zum Thema würden wir uns freuen – das Genre ist freigestellt (gern auch weiterverbreiten).

Herzliche Grüße,
die Abwärts!-Redaktion

***

„Babypille fauler Zauber
Ajax hält das Becken sauber.“ Heiner Müller

Denis Scheck, anläßlich der Nominierung Jan Wagners für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015: „Jan Wagner schreibt wunderbare Gedichte über so gegensätzliche Themen wie den Giersch im Garten oder Koalabären, außerdem besitzt er perfekte Umgangsformen und nutzt sein Dichtertum nicht als Ausrede für schlechtes Benehmen und mangelnde Körperhygiene. Was kann man von einem Lyriker mehr erwarten?“

Das Infektionskomitee Abwärts! erwidert: „Lyrik wäscht sich nicht“ und fordert auf, ungebleichte Texte und Kommentare jeglicher Couleur (bzw. Odeur) für die nächste Ausgabe einzusenden (an: abwaerts@basisdruck.de). Redaktionsschluß (Waschtag): 19. Juni 2015.

PS. „Waschen verdirbt das Talent.“ Bertolt Brecht

*2 aus Kiki Dimula, Gedicht “Verfall”, in “Plötzlich wurde ich hellhörig”, Romiosini Verlag Köln, 2008

*3 Abwandlung von Frank Lanzendörfers “unmöglich es leben”

*4 http://genius.com/Smegma-ich-bin-ein-skin-lyrics

*5 Störteufel: Figur aus “Ferdinands Zauberhäuschen”, Kinderhörspiel, LP LITERA 8 60 076, DDR 1970

*6 aus: Peter Wawerzinek, “zu matthias Baader holst. EINE ER-INNERUNG”: “WIE ICH EINMAL MIT MEINEM FREUND BAADER ZUM BAHNHOF KAM UND NICHT VON IHM FORT DOCH IN FAHRT GERIET […] Zeilenzauber. Wortzaudern. Zauber und Zunder. Baader spricht. Es sprechen Baaders Hände. Es reden Baaders Fingerspitzen. Ellenbogen spannen Bögen aus Silben, Worten, Sätzen. Das Gedicht verdichtet sich über die Köpfe des Publikums hinweg zu einem Wortregenbogen, aus dessen Mitte schillernde Worte wie Wasser tropfen, die Baader zwischen Fingerspitzen zerreibt wie Tabak zerbröselt.
Als wäre Wasser nicht Wasser. Als wären Worte nicht Worte. …”

*7 http://www.tagesspiegel.de/berlin/bezirke/zehlendorf/alltag-eines-syrischen-fluechtlings-in-berlin-die-welt-ist-eine-turnhalle/11536076.html

Mit Schallverstärker und Lebenswasser

20.15 Uhr. Sonne.

Ich veröffentliche heute Abend die Übersetzung dieses zutiefst berührenden Texts von Petros Argiriou. Die Sonne scheint. Sommer. Petros Argiriou schreibt über seine Mutter, die sich vor wenigen Tagen das Leben genommen hat.

Ich kann mit dieser Veröffentlichung nicht warten. Es ist keine Zeit. Seit mehr als drei Jahren nimmt sich jeden Tag in Griechenland ein Mensch das Leben. Auf die eine oder andere Weise. An manchen Tagen sind es zwei Menschen. In einem Land, das die niedrigste Selbstmordrate in Europa hatte, bis sich die Verhältnisse so rasend schnell und so katastrophal änderten, dass vielen Menschen keine Möglichkeit mehr blieb, der brutalen Realität genügend Lebenskraft entgegen zu setzen. Genügend Lebenskraft – das wäre ein letzter Funke Hoffnung. Und weiterhin muss es heißen: keine Möglichkeit mehr bleibt.

„Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.“

Während ich nachts an der Übersetzung arbeitete, bewegte sich auf der Internetseite, auf der Petros Argirious Text zu lesen ist, unaufhörlich der Zähler, der Auskunft darüber gab, wie viele Menschen diese Seite besucht hatten. Als ich meine Arbeit beendet hatte, stand der Zähler still. Er zeigte 99999. Und er bewegte sich nur deshalb nicht so rasend schnell weiter, weil es das sechste Feld noch nicht gab, das für die Hunderttausender-Position vorgesehen war. Während ich mich auf die Übersetzung konzentriert hatte, hatten tausende Leser diese Internetseite besucht und von Warwara Argirious Tod erfahren. Tausende Menschen, Zehntausende. Ein stiller Hinweis darauf, wie viele Menschen in Griechenland auf die eine oder andere Weise betroffen sind von Selbstmordfällen, von Suiziden im Familien-, Freundes-, Bekanntenkreis.
Es empört mich zutiefst, dass der deutsche Außenminister während seines Treffens vor einer Woche mit Herrn Samaras und Herrn Venizelos in Athen imstande war, in die Fernsehkameras zu sagen: „Wenn Sie diesen Reformkurs durchhalten, wird das die Geburtsstunde eines neuen Aufschwungs sein.“
(http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-westerwelle-mahnt-athen-zum-sparen-a-909368.html)

Wie kann man diesen Satz über die Lippen bringen angesichts so vieler Selbstmorde? In einer Situation, die sich Tausenden Menschen nicht anders als eine vollkommen aussichtslose zeigt, redet Herr Westerwelle von „durchhalten“. Mache er es einmal vor, um aus Erfahrung zu sprechen. Gehe er da hin, wohin sich Günter Wallraff einst begeben hat: nach „ganz unten“. Halte Herr Westerwelle mit denen, die nicht weiter wissen, nur einmal ein Vierteljahr aus. Manche mögen sagen: drei Wochen genügen schon. Aber ich würde vorschlagen: drei Monate. Ohne Klimaanlage. Am besten, Herr Westerwelle beginnt gleich jetzt damit. Im Juli, August, September lässt sich hervorragend darüber reflektieren, ob es angemessen ist, von „durchhalten“ zu sprechen. Im November, Dezember, Januar abermals.
Dieser Reformkurs führt dazu, dass sich in Griechenland seit mehr als drei Jahren Hunderte Menschen das Leben genommen haben. Dieser Reformkurs wäre als erfolgreich zu bezeichnen, wenn die Menschen weiterleben würden. Wenn kein einziger sich mehr umbringen würde wegen der Folgen dieses mörderischen Reformkurses.
Wenn Menschen sterben, dann ist dieser Reformkurs falsch. Er ist unverantwortlich. Er ist lebensfeindlich. Er ist erwiesenermaßen tödlich. Er hat bereits viele hundert Menschenleben gekostet, und er nimmt denjenigen einen Teil des Lebens, die diese Menschen liebten. Er macht die Menschen fertig. Wie kann Herr Westerwelle sich hinstellen und sagen?
Dieser Reformkurs tötet uns alle, auf die eine oder andere Weise. Das ist die nicht ausgesprochene, bittere Wahrheit, enthalten in der Aussage: „die Deutschen stünden „an der Seite Griechenlands“. Man sehe sich in einer „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“.“ Seit Monaten scheint mir diese „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ dominiert von destruktiven Kräften, die jeden, der sie nicht schweigend hinnimmt und sich ihnen ergibt, zum Kriminellen erklären. Wenn dieser Reformkurs nicht gestoppt wird, wird die von Herrn Westerwelle vermutete „Geburtsstunde eines neuen Aufschwungs“ eine weitere Todesstunde werden in einem Auflösungsprozess, dem immer mehr Menschen der „Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ zum Opfer fallen.
Petros Argiriou fand dafür dieses Bild: „Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes.“
Schweigen und Sprachlosigkeit gestatten uns, mit den Toten zu sein. Sie sind allerdings nicht geeignet, um das bedrohte Leben zu verteidigen gegen diese tödlichen Maßnahmen, diesen Irrsinn, gegen die Schneider, die dem Kaiser mit großen, scharfen Scheren prächtige Gewänder anmessen und denjenigen zu erstechen drohen, der rufen könnte: „Aber er hat ja gar nichts an!“

Ina Kutulas
Freitag, 28. Juni 2013

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Sie hat einen Namen: Sie heißt Warwara Argiriou. Sie war meine Mutter.
von Petros Argiriou, ihrem Sohn

 

Ich habe die Auflistung derer, die sich wegen der Krise das Leben genommen haben, nicht mehr weitergeführt. Aber ich bin mir absolut sicher: seit gestern steht dort + 1. Ich bin mir dessen absolut sicher, denn dieses + 1, das zur Rechnerei des Todes hinzugekommen ist – das war … meine Mutter.

Ich habe mich von meinen Eltern emotional sehr früh abgenabelt, weil sie das System unterstützt und mich darauf vorbereitet haben, wie das in allen Haushalten zu der Zeit der Fall war. In meinen Augen (denen eines Teenagers), war die emotionale Abnabelung von meinen Eltern ein titanischer Kampf gegen das System, das ich von kleinauf als deformiert und korrupt wahrgenommen hatte, ohne dass irgendwelche giftzüngigen politischen Kräfte mich hätten erst noch indoktrinieren und dazu erziehen müssen, gegen dieses System zu sein.

Natürlich, im gleichen Maße, wie ich recht hatte, hatte ich auch unrecht. Denn meine Eltern waren, wie Millionen andere Eltern auch, einfache und gutgläubige Menschen, sie waren gefangen in der Kredit-Konsum-Schulden-Falle ihrer Zeit. Ein tödlicher Irrtum für sie und meine Generation und für etliche Generationen, die noch kommen werden – doch es war ein Irrtum, der auf Unwissenheit beruhte. Genau wegen dieser meiner frühzeitigen Abnabelung und weil ich mich von allen Eltern-Stereotypisierungen freigemacht habe, kann ich Ihnen ganz objektiv sagen:

Meine Mutter war eine Heilige. Wann immer sie eine Notsituation erkannte, nahm sie sich dieser Angelegenheit an. Sie verbrachte Jahre in den Krankenhäusern der Erniedrigung und des Leids als freiwillige Krankenbetreuerin und als Seelendoktor für Dutzende von Verwandten und Bekannten und Unbekannten. Sie umarmte jedes Kind, das ihren Weg kreuzte. Ihre Seele ließ nicht den kleinsten Makel erkennen, nicht die geringste Arglist. Die grenzenlose Liebe meiner Mutter war das „Bindemittel“ unserer Familie.

Immerzu rastlos – ein so lebendiges Wesen hatte meine Mutter, dass sie darin all ihre Kinder übertraf. Ohne zu jammern hat sie so viele Kreuze getragen. Nie beklagte sie sich wegen irgendetwas. Sie verlangte nichts für sich. Alles für die anderen. Warwara für alle – und niemand für Warwara. Sie konnte sich nicht dazu durchringen, um Hilfe zu bitten.

Die letzten Jahre waren ihre schwierigsten – selbst, nachdem sie schon so viel durchgemacht hatte. Die Krise hielt auch in ihrem Leben, in ihrem Haushalt Einzug. Eine Zukunft für ihre drei Kinder, die alle studiert hatten, nicht in Sicht. Die Rente ihres Ehemannes radikal gekürzt. Ihre eigene Rente, die sie hart erarbeitet hatte und bis zum Schluss bekam, wurde um mehr als die Hälfte gekürzt. Eine Rente – geraubt von diesem Politiker-Lumpenpack.

Jeden Tag Vaters Klagen. Der Druck unerträglich. Der Psychoterror der Medien, der ständig darauf abzielte, uns dazu zu bringen, dass wir uns mit dem massenhaften Raub unseres Eigentums, unserer Würde, unseres Lebens abfinden würden.

Mutter lud sich eines jeden Kreuz auf. Sie arbeitete ohne Unterlass im Haushalt, auch nachts. Sie war unnachgiebig sich selbst gegenüber. Schonte sich nicht. Sie schlief jeden Tag nur vier Stunden, um alles perfekt zu erledigen.

Vor zwanzig Tagen brach meine gute Mutter plötzlich zusammen unter all dem Druck und Schmerz, der sich nach und nach in ihr aufgestaut hatte. Dieser kleine Ausbund von Leben, der so viel Energie in sich hatte, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sie wollte nicht essen. Sie wollte nicht sprechen. Die Hilflosigkeit der Ärzte.

Irgendwann einmal hatten die Worte meiner Mutter – mit der ihnen innewohnenden, erhellenden Lebensweisheit – mich tief berührt, als sie zu mir sagte: „Mein Junge, ich bewundere dich. Du bist wie eine Phönix. Immer wenn du stürzt, erhebst du dich wieder.“ Ich hab versucht, ihr dieses Darlehen an Seelengröße zurückzugeben. Ihr zu sagen: Mutter, erinnerst du dich: Phönix – du und ich.

Aber die Dunkelheit hat ihren Lebensfunken erstickt. In ihrer Verwirrung sagte sie irres Zeug. Sie erzählte ihren Kindern – also uns -, dass sie uns umgebracht hat. Dass sie uns vernichtet hat. Sie bat um Verständnis für ihr Verbrechen. Sie verlangte, sie der Polizei zu übergeben. Sie verlangte, man möge sie exemplarisch bestrafen. Eine Strafe, weil sie ihr ganzes Leben eine Heilige war. Das Fernsehen sprach aus ihr. Sagte, sie habe das alles verschlungen. All die Milliarden. Sie war es, die sie geklaut hat. Sie verlangte, der Polizei übergeben zu werden.

Ihr war klar, welches Dunkel in ihrem Kopf herrschte. Sie kannte diese Krankheit sehr gut, nachdem sie geduldig schon soundso viele auf deren letztem Stück des Lebensweges begleitet hatte. Sie wollte sich auf keinen Fall dieser Krankheit ergeben. Sie ist unseren Händen entglitten.

Während andere in ihrem Alter den Tod fürchten, öffnete sie das Fenster des Schlafzimmers, in dieser schicksalhaften Sekunde, als unser Vater in die Küche ging, um die Herdplatte auszuschalten, und wagte ihren heroischen Ausbruch. Still, ohne zu klagen, nahm sie ihre Kreuze mit, um ihren federleichten 43-Kilo-Körper etwas schwerer zu machen, damit der Tod sie ernst nähme, den sie im Hinblick auf sich selbst immer auf die leichte Schulter genommen hatte.

Der Tod machte aus meiner Mutter keine Heldin. Nicht so, wie er es mit dem Helden Dimitris Christoulas gemacht hatte. Eine Heldin war meine Mutter in ihrem Alltagsleben. Eine kleine, alltägliche Heldin. Schreie drangen herauf. Und gleich danach sahen wir sie, die sich vom Balkon gestürzt hatte, unten neben dem Müll liegen. Jeder aus unserer Familie, jeder von uns, die wir sie alle so sehr geliebt hatten, zerbrach. Die Säule unseres Zuhause brach, als ihre Knochen brachen. Ein jeder von uns stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und krümmte sich schluchzend am Boden. Wir gingen nach unten und dann in die wie vom Blitz getroffene Menge.

Unsere Mutter verließ uns so, wie wir sie gekannt hatten: ohne eine einzige Schramme. Ohne einen Tropfen Blut, der ihr Antlitz hätte beflecken können. Alles in ihr. Alle Verletzungen waren innere. Wie im Leben, so auch im Tod. Unser geliebtes kleines Mädchen.

Mein Vater riss sich die Haare aus. Mein kleines Vögelchen! Mein Lämmchen! Meine kleine Taube! Noch immer war er verliebt in sie, seine Gefährtin auf Lebenszeit. Er weinte nicht seinetwegen. Er weinte um sie. Keiner von uns weinte um seiner selbst willen. Wir alle weinten, weil wir etwas so Kostbares verloren hatten. Ich bin ein Mörder, rief mein Vater. Ich bin ein Verbrecher. Nein, mein Vater war kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Der seine geliebte Gefährtin verloren hat.

Meine Mutter hinterließ keinen Abschiedsbrief. Wir haben’s nicht mehr geschafft, Adieu zu sagen, ihre letzten Wünsche zu hören, ihre Hand zu halten, ihr über das Haar zu streichen, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Sie verließ uns wie eine, die vorangeht, stolz und allein. Der Tod meiner Mutter wird uns noch mehr Schulden aufbürden. Wie ich schon vor Jahren das Schicksal unserer Heimat vorhergesagt habe: Wir bringen es fast nicht über uns, unsere Tote zu begraben, denn vor einigen Augenblicken war sie noch so lebendig. Sie hat uns ein reiches Erbe hinterlassen. Ihre unendlich große Seele. Ein kleines Stück ihrer Seele, das unser zerrissenes Herz zusammenhält, unser Herz, in dem ihr sinnloser Tod eine klaffende Wunde hinterlassen hat. Damit es uns nicht härter, sondern zu besseren Menschen macht. Ein Erbe, das wir ehrenvoll bewahren wollen. Ich hoffe … ich kann nur hoffen, dass wir uns als ihres Nachlasses würdig erweisen werden. Ihrer Liebe für alle Menschen.

Ich war einer der Ersten, der das Schicksal der durch die Krise zu Selbstmördern gemachten Menschen thematisiert hat. Eine von ihnen ist nun gekommen und hat uns, unser Leben heimgesucht. Meine Mutter hat uns davon überzeugen wollen, dass sie eine Mörderin war. Dass sie uns getötet hat. Meine Mutter war keine Mörderin. Sie war heilig. Mein Vater schrie, dass er ein Mörder ist. Weil er sie hatte sterben lassen. Er ist kein Mörder. Er ist ein guter Mensch. Weder ich bin ein Mörder noch sonst irgend jemand aus unserer Familie.

Ich weiß aber, wer der Mörder meiner Mutter ist. Natürlich war es nicht seine Hand, die sie aus dem Fenster stieß. Das geschah durch ihren eigenen Willen und mit Hilfe ihrer unbeugsamen, fast heroischen Hartnäckigkeit ihrer Würde. Allerdings war es der Mörder, der die große und erdrückende Last auf ihren Rücken lud, ganz oben auf all die Kreuze, die sie seit Jahrzehnten freiwillig und ohne zu klagen mit ihren 43 Kilo getragen hatte. Es war allerdings der Mörder, der diese unermüdliche, rastlose Frau zwang, gelähmt vor Scham im Bett zu bleiben, gleich neben dem Fenster, ihrem Fluchtweg aus dem Leben. Und nur dieses Fenster konnte sie noch als Ausweg aus einem inneren Schmerz sehen, der so fürchterlich war, dass sie ihm nicht mal mehr stammelnd hätte Ausdruck verleihen können.

Dieser Mörder ist ein Serienkiller, der Immunität genießt und einen Freibrief hat, mit Gift und Schalldämpfer zu töten – er ist das politische System dieses Landes. Und für diesen Mörder muss die Todesstrafe wieder eingeführt werden.

Ewige Ruhe dir, unsere Warwara, geliebtes kleines Mädchen!

Petros Argiriou

http://agriazwa.blogspot.de/2013/06/blog-post_4376.html

 

Folgend der Laufmasche durch die Häkelschrift der untermächtigen Überwäsche

 

Dieser Irrglaube, wir könnten von anderen ernsthaft erwarten,
sich so zu geben, dass wir sie endlich erträglich fänden …,
darin liegt einer der Gründe für unsere Vernichtung.
Pavlos Angelopoulos, 1987

 

Über Matthias Baader-Holst zu schreiben, würde für mich keinen Sinn machen, bezöge ich mich ausschließlich auf die Vergangenheit: wieso weshalb warum ist er in eine Straßenbahn gelaufen, wie sah er aus, wie agierte er, was hatte er zu sagen, wie hoch war seine Gasrechnung, hatte die Gasrechnung etwas damit zu tun, dass er des öfteren mit Gasmaske in Erscheinung trat? Ich ließe mich besser fragen, mir sagen: HAT sein fortwährendes In-Erscheinung-Treten, des öfteren mit Gasmaske, etwas zu tun mit den Gasmaskenträgern vom 26.9. oder vom 9.10.2012, Athen, mit dem unbewaffneten Mädchen im roten Shirt vom 25.9.2012, Madrid, traktiert vom Polizeiknüppel, in den Klammergriff genommen und weggeschleift. Wenn sie will, die ganze Welt, sie kann es sich anschauen, Tag für Tag, was dieser Baader mit ihr zu schaffen hat.

Es könnte mir gefallen, über Sofia in den Spree-Athener Sophienhöfen zu schreiben am Tag, als Sanya aus Sofia nach Berlin kam. Es könnte mir gefallen, über Nelson Mandela und das Mandala zu schreiben. Es könnte mir gefallen, den Broiler wieder neben dem Boiler zu verzehren. Es könnte mir gefallen, über Baader und mich zu schreiben, wir standen am Kastanienbaum, der in Blüte stand, Baader und ich in den Gardinen-Brautschleier gewickelt, unter der Krone des Anne-Frank-Baums. Am Tag, als ich darüber schrieb, geriet Anne Marie Frank in meinen Text, am Tag, als der Kastanienbaum seine Früchte abwarf wie Geschosse, am Tag, als die Gummigeschosse gegen die Protestierenden abgefeuert wurden in Madrid, an Tagen, als die Protestierenden ferngehalten wurden von den Parlamenten, an Tagen, als die Parlamente die Protestierenden verrieten, an Tagen, als der Sturm ging, an Tagen, als Anne Marie Frank in Auschwitz-Birkenau war, in der Zeit des jüdischen Neujahrsfests, in der Zeit von Jom Kippur, in der Zeit des Laubhüttenfests, in der Zeit, als die stachligen Schalen der Kastanienfrüchte aufbrachen, wenn sie aufschlugen auf dem Boden, in der Zeit, da Medea im Lande Medien sich umdrehen musste, um endlich einen Blick zurück zu schicken zu ihren von ihrer Hand ermordeten Kindern. Medea trug ein langes Kleid. Medea ging ich an. Baader trug einen Tarnanzug und wurde dadurch auffällig, zwei Polizisten hielten ihn an wegen seiner „Überangezogenheit“, am Tag, als der Eintritt in die Museen frei war, so frei wie ein Eintritt zur Demonstration, und Baader trägt wieder den Tarnanzug und ich noch einmal den Baaderbrautanzug. Ich hab all das in der Hand und nichts als meine SAG-Maske einzubüßen.

Unser Brautmantelkleid war, ist die Decke, unter der die Herbeigerufenen nach wie vor stecken, Gelittene und Untragbare, Verzagte und Verdammte, gut ausgestattet mit diesem Crazy Baader Holst Patchwork – zu werden ein Patchword: der blaue Gottesmuttermantel, der Mantel des Christophorus, Novalis’ lange Haare und seine Mantelknöpfe, der Hemdkragen des Friedrich Hölderlin, le Chiffon Rouge, das Tuch des Jannis Ritsos, der Bakuninslip, der Schurz eines Tarzan, der Pelzmantel des Joseph Beuys, der Stock des St. Patrik in den Händen Artauds und dessen Stummer Schrei – aufgefangen vom Stummen Schrei Edvard Munchs -, ein Zylinderhut von Magritte, Majakowskis XXL-Hose im Wolkenwind, die Schuh- und Kofferberge von Auschwitz, Sophie Scholls Seitenscheitel und die Weiße Rose und die Weißen Rosen von Athen, die Nana Mouskouri herbei sang, Manolis Glezos’ Fahne und die Weiße Rose der Sophie Scholl in den Händen des Falk Harnack in Athen, die Ketten Günter Wallraffs in Athen, Andreas Baaders Jeansanzug, die Flieger-Kappe Johannes Baaders, Frank Lanzendörfers Lederjacke, der Kleiderstoff der Anna Achmatowa, Heiner Müllers Brille, Inge Müllers fast knielange Kinderstrümpfe, Rotkäppchens Korb, Wawerzineks Hebammentasche, Jan Faktors Armbanduhr, Elke Erbs bodenlange Röcke und Schlüsselbänder um der Autorin Hals, die Jesuslatschen, Schlipse, Badekappen, Rasierklingen, Emaillebroschen, Häkchen und Ösen, Bernsteinketten, die Heftpflaster, die Scheuerlappen, das Häkelgarn, der rote Wischmopp, der Baader zur Perücke wurde, Bert Papenfuß’ Springerstiefel, Johannes Jansens weiße Herrenhemden, Gregor Kunz’ Lederband oder Bänder „und dann wieder nicht“, Frida Kahlos Blusen, Wolfgang Hilbigs Umhängetasche, Adolf Endlers Bart, Tilo Köhlers blaues T-Shirt, Gert Hofs selbstgestrickte Unterwäsche, Christel Seidel-Zaprassis’ Klöppelspitzen, Leggings, Palästinensertücher, Militärmäntel, Batikblusen, Büstenhalter, Schlenkerbeutel, V-Pullover, Hosenträger, Geheimnisträger, Gummistiefel, Nylonkittel, Malimo, Rosa Extra, Mondos, Chinafrottee, Assi-Jacken, Konsumjeans, Bundeswehrparka, das Mantelfutter, die unerschöpfliche, bodenlose Frechheit, dieses Sammelsurium, diese Lumpenkiste mit allem, was auf keine Kuhhaut mehr ging und das es in keinem schlechten Russenfilm gab. Darin lag, liegt Baaders Macht. Er machte, macht damit, darum und daraus permanent Aktion, Theater, Welle, Tugend, seinen Schmerzbau.

Häufig erschien er im Tarnanzug oder Turnanzug und mit Gasmaske. So auch zu einer Szenischen Lesung des Stückes „Sondeur“ von Jannis Ritsos, die mehrere Autoren und Autorinnen + 1 männliches Baby in einem Kino in Dresden anlässlich des 80. Geburtstages des griechischen Dichters veranstalteten. Baader wechselte generell gern seine Kostümierung, wie auch ich an diesem Tag im Frühling 1989. Von der Taucherin wurde ich zur Pilotin mit Badekappe, zur Rennfahrerin mit Pelzkragen, und im letzten Bild sollte ich als Braut erscheinen. Man hatte mir allerdings abgeraten, eine Feinstrumpfhose mit String-Tanga-Print, die mir aus Athen, also aus dem kapitalistischen Ausland geschickt worden war, zu tragen und meine Beine zu zeigen. Ich sollte auf keinen Fall in dieser Aufmachung auf die Bühne gehen. Das bekümmerte mich sehr. Die Gründe konnte ich nur ahnen: Vielleicht hätte mein Aufputz gegen die Brandschutzregeln oder gegen die Hygienebestimmungen verstoßen. Ich war in der sechsten Woche schwanger und meinte, ich sei um den verrücktesten Augenblick meines bis dahin währenden Mädchendaseins gebracht. Während das Publikum im Saal dem Dokumentarfilm über Ritsos folgte – Sag Himmel, auch wenn keiner ist -, stand ich, die unglückliche DiesesTagsNachtBraut, einige Meter hinter der Leinwand und vergoss vor Wut salzige Tränen, die String-Tanga-Print-Feinstrumpfhose in der Hand. Baader erfasste die Situation, setzte die Gasmaske ab und zog sich diese Strumpfhose über den Kopf. Dann zog er mich am Brautschleier, führte mich hin und her, als müssten wir einen Gang zum Altar proben, und dann ging er mit mir noch weiter. Draußen roch es nach lackiertem Holz und Gärung. Baader beugte sich über mich, er nahm mir mit seinen Spinnennetzhäkelfingern den weißen Schleier ab, zog seine Jacke aus und hängte sie mir über. Er wickelte den meterlangen Plauener Gardinen-Tüll um sich, um mich und um den Stamm einer Kastanie und begann zu sprechen. Wir waren abwesend, ich ging in seiner Rede unter und auf. Er zelebrierte diese Messe. Er wollte mir den Helga-Hahnemann-Behandlungsstuhl verschaffen, den Gynäkologenstuhl des Doktor Mengele. Er sezierte aus dem Wort Urinal meinen Namen und steckte ihn mir zwischen die Lippen. Bevor sie dich anzeigen, hab ich dich auszuführen. Über uns die Fülle der Blütenkerzen, es streuten sich weiße Blätter auf uns mit Spuren von Karminrot, ich bekam ein Baader-Holst-Gamma-Eule-Nachtfalter-Tatoo, ich bekam den Schlag mit der Grünen Rose und hatte noch tagelang Schmerzen am Halse.

Meine Schwangerschaft verlief hervorragend. Wahrscheinlich wegen seiner Ermutigung zur Überangezogenheit, wegen dieser Berührung mit dem Nagel des Kleinen Fingers, wegen dieser gemeinsamen Vorgeschichte im Zelt aus Bügelvlies, wegen des Nähkästchens, in das wir unsere Plaudereien gesagt hatten, im September 1985, als die Badewanne in der Prenzlauer Allee zur Baaderwanne geworden war und sich nicht wieder rückverwandeln ließ, wegen der Gasschutztür, die ich ins Spiel gebracht hatte und an deren rostiger Drehrosette Baader seine Finger färbte. Es gab Goldbroiler im Stehen neben dem Boiler und Nacht für Nacht Janna Bitschewskaja, kalte Mandarinen im Kühlschrank, Erbsen mit Rauchfleisch, kein Handwasch-, dafür aber zwei Spülbecken und ein Einzelbett. Es gab Milchbrötchen und Schriften aus Milch und den Tintenkiller und die Korrekturflüssigkeit. Vom Zeiss-Großplanetarium herüber richtete sich etwas auf uns, über dessen Strahl wir in den Innenraum des gesprengten Gasometers gelangten, wo wir die Dokumente vergruben und die Hände einer in des anderen Taschen. Wir befingerten die Löcher, die geplatzten Nähte, die Velour-, Krepp- und Packpapierstreifen. Wir besiegelten unser stilles Einvernehmen mit etwas Ofenrohrfarbe.

Ich bin keinem anderen Menschen begegnet, der sich dermaßen konsequent keiner Kleiderordnung unterwarf, der so aus der Reihe tanzte und jegliche Eitelkeit verunmöglichte, der Klamotten so aus- und anzog, er besaß eigentlich keine Klamotten, sondern er nahm sich ihrer für eine Weile an, sie tauchten irgendwann bei ihm auf und verschwanden irgendwann wieder. Im Grunde war er immer nur nackt und der Demokratischste von allen in dieser Republik. Er untergrub das Diktat der Bekleidungsindustrie stets und ständig. Er war für knapp eine Woche mein persönliches Mode-Institut, mein Exquisit, mein Intershop, mein Natascha-Laden. Er baute mir ein Tipi. Er rief mich „Squaw!“ Er sprach: „Howgh!“ Er verschnitt die Webpelzmusterstücke, die ich im Koffer hatte. Er benutzte Nahttrenner, Einfädler und Kopierrädchen. Er kritzelte in meinen Zeichnungen herum. Er versuchte sich als Rabindranath Tagore. Er leckte das Kohle- und das Butterbrot- und das Millimeter- und das Achatpapier und die Sonderbriefmarken von den Weltfestspielen. Er entwarf ein Schnittmuster für einen Klimtkussmantel. Er zweckentfremdete den Kapselheber. Er demonstrierte mit Reißbrettstiften, Pusteröhrchen und Fixativ, wie man sich unmöglich macht. Er fragte nach Buchbinderleinen und Hasenleim, nach Jutta, Gutta, Ochsengalle. Er ließ sich das Wort Sprelacart wieder und wieder auf der Zunge zergehen. Er widerfuhr mir. Er tätowierte meinen Knetgummi mit der Radiernadel. Er sprang aus dem Anzug, erbot sich mir als Lichttisch, pauste sich durch, applizierte seinen Lebendgeruch mit Kreuz- und Hexenstich in meinen Ausweis. Er verschwand. Er ließ das Wasser laufen. Er tauchte wieder auf.

Er ging an die Quelle. Er stellte sich schützend vor die Briefe an die Jugend des Jahres 2017. Er entfachte Feuer. Er war mehr als eigen. Man schaue ihn sich an. Das wird uns blühen. Man werfe einen Blick in die Dreizeitigkeit. Noch fünf Jahre, dann werden wir hinüber sein. Baader passt gut nach Griechenland. Er ist darin aufgehoben, und Griechenlands Unterangezogenheit findet in ihm seine Entsprechung. Die Athener Gasmasken riechen nach seinem Atem. Die Vertreibung der Klamotten-Nazis nahm durch ihn einen Neuanfang. Kleider machen nach wie vor Leute im Herz-Ghetto, das den Menschen von einer Kammer in die andere Kammer schickt. Athenwitz, Athenbelsen, Athenwald, Athenhausen, Athenblinka.

Matthias, oh Haupt, atme durch, zieh dich aus, geh baadern, voll Blut und Wunden, folgend deiner ureigenen Matthäus-Passion, überbringe deine Fruchtblase den Parlamentariern, lege deine Eierkuchen ihnen zu Füßen, du Lumpenstrumpf, und lass sie sich daran sättigen, bis ihnen die Augen übergehen. Dein Hunger regiere. Komm an die Magnetische Tafel. Vermählen wir uns erneut bei diesem Mahl. Lass uns baad-duschen im Sag-Gas, ins Totgesagte komm und schau, ich lass mich deine Fresse halten und halt du mir die Klappe, die Schleierschleppe, die Treue, den Brustmaulkorb, ausgestopft mit stinkenden, schimmligen Fußlappen. Ich verzehr deinen Pustekuchen. An deinem unsichtbaren Faden die Welt hängt. Wer wen abschleppt – du wirst es mir sagen, gestern, immer wieder, unter den Kastaniengestirnen, hinter dem Berg aus Grünen Rosen, unter der Saugglocke deiner dahergesagten Worte, hinter der Gasmaske im Nebel deines Fixativ.

 
Berlin, Oktober 2012
© Ina Kutulas

Die Kanzlerin spaziert nie einfach so von hier nach da und zurück

 

Das Café „Dionysos“ mit exklusivem Blick auf die Akropolis ist an diesem neunten Tag im November leer und sehr gut beheizt. „Viele Leute haben das nicht“, kommentiert Chris, „die können diesen Winter das Heizöl nicht bezahlen.“ Für meine Denkarbeit war die Zeit im zum Kühlschrank gewordenen Zimmer tödlich. „Kalt kalt kalt“, das Einzige, was mir durch den Kopf ging, selbst sechs Grad plus genügten nicht, eine Vorstellung von Wärme aufkommen zu lassen. Teile des Gesichts schmerzten, von den Händen zog die Schneide bis zu den Ellbogen hinauf. Knut Hamsun, „Hunger“. Ich weiß, wovon du sprichst. Und das Mal davor war es noch ärger, die Limonade zum Block gefroren, die Flasche zersprungen, vier Wochen verbrachte ich die Nachmittage und Abende unter der Federbettdecke. Dass ich Marquez las, blieb mir in Erinnerung. Aber was genau, welches seiner Bücher? Das Wasser war abgestellt, damit die Leitungen nicht platzten, jeden Abend gegen sechs Uhr füllte die Mutter der Vermieterin einen 20-Liter-Eimer für mich. In der nächsten Wohnung wurde es nicht besser. Manchmal ging ich von acht bis elf Uhr abends durch die Straßen der kleinen Ortschaft, weil es draußen im Schnee wärmer war als drinnen. Ich sah die hell erleuchteten Fenster und dachte: „Dort haben sie’s warm.“ Ich setzte mich in der Bahnhofshalle eine Weile auf die Bank. Aber selbst das Holz war kalt. Trotzdem ging ich jeden dritten Tag wieder hin und blieb etwa eine Viertelstunde dort. Ein Mädchen hielt der Bahnhofskatze einen Finger vor’s Maul: „Beiß beiß beiß!“ Ich versuchte, an das zu denken, was ich gelesen hatte. Uta dann eines Tages: „Komm zu mir bis zum Frühling.“ Bei ihr wohnte ich länger als sechs Wochen. Abends betrachteten wir vom Schlafplatz aus die Sterne. Morgens gingen wir zusammen zur Arbeit. Tagsüber sahen wir uns kaum, außer in der Mittagspause. Im Speisesaal war es warm. Man sagte: „Mahlzeit“, wenn man sich zu den anderen an den Tisch setzte. Im Atelier und in der Weberei war es warm. So auch in der Lohnbuchhaltung, in der Kaderleitung und in der Buchhandlung im Ort. In den Schulen war es bestimmt auch warm. In der Bäckerei war es manchmal sogar heiß. Aber im Hinterhaus spürte ich davon nichts. Manchmal klagte die Mutter der Vermieterin darüber, dass man ihr alles weggenommen hatte, und ich hörte ihr zu. Bei ihr im Flur war es auch warm. In keiner der Wohnungen gab es ein WC mit Spülung. Ende des 20. Jahrhunderts. Jetzt leben wir im 21. Jahrhundert. Die Menschen fällen Bäume, Olivenbäume, Akazien, Pappeln, Maulbeerbäume, Feigenbäume, Kiefern und noch andere Bäume, um mit dem Holz Feuer im Kamin machen zu können, damit überhaupt noch irgendwas geht. Es hängt natürlich davon ab, ob es einen Kamin in der Wohnung gibt. Oder die ganze Familie zieht, wie vor 50 Jahren, wieder in die Küche, wo gekocht wird und wo es deshalb einigermaßen warm ist. „Denen es vorher gut ging, denen geht’s jetzt auch noch gut“, sagt Friederiki. Ich kenne nicht die Namen aller Bäume. Bliebe mir aber mehr Zeit und gäbe es jemanden, der sich auskennt, würde ich sie irgendwann wissen, egal, ob das jemanden interessiert oder nicht. „Es ist nicht genug zu wissen.“

Ob man im Wohnviertel etwas merkt von der Krise, so die Frage. „Ich war ja da“, sagt Lotti, „ich weiß ja, wie es da riecht, wie es aussieht. Diese Fotos decken sich nicht mit dem, was ich erlebt, was ich kennen gelernt habe.“ Lotti wendet die Seiten des Buchs „Avenue Patrice Lumumba“. „Aber wann beginnen Fotos zu duften?“ Und wann, in welchem Licht, bei wie viel Grad minus beginnen meine Augen Hamsuns Hunger zu sehen, beginnt mein Geruchssinn den Duft des Jasmin als nicht mehr existent wahrzunehmen oder zu verklären, obwohl ich die Blüte direkt vor der Nase habe. Es ist kaum noch Musik zu hören. Die Schulkinder lärmen, die Glocke schlägt sehr schnell. Kaum noch Musik. Wenn immer Musik war, fällt es auf, wenn keine mehr ist. Aber den Unterschied wahrzunehmen, muss man dort gewesen sein und es erlebt haben. Oder man muss es erfahren haben, davon gehört oder es sich einfach vorstellen können. Wenn man es sich nicht vorstellen kann, gibt es keinen Unterschied. Wenn man selbst nicht da gewesen ist, weiß man es einfach nicht. Oder doch. „Griechenland verschwindet? Wie meinst du das? Die Menschen verschwinden ja nicht. Es ist dann eben so etwas wie ein kleines, armes Land in Afrika.“ Ein Platz wird sich sicher finden für jede der lächelnden Koren des Akropolis-Museums, ob sie dann in der Eremitage stehen oder ob Athen türkisch sein wird oder russisch oder deutsch oder Griechenland unter chinesischem oder kanadischem Protektorat steht oder ob es Ruganien heißt. Die Koren müssen die marmornen Granatäpfel sicher nicht aus der Hand geben, und niemand wird so dumm sein, ihnen die Hände abzuschlagen und ihnen das Lächeln aus den marmornen Gesichtern zu kratzen. Dieses Lächeln gehört ja nicht den Griechen allein. Dieses Lächeln gehört immer denen, die sich einen Kore leisten können. Es ist ganz einfach. Nichts geht verloren, so lange es als in jemandes Besitz befindlich betrachtet wird. Ein Tier gehört dem, der es zähmt und sich vertraut macht, so erfuhr der Kleine Prinz vom Fuchs. Oder gehorcht.

Durch völlig leere Straßen in der Athener Innenstadt ging Angelika Merkel an der Seite von Andonis Samaras am 26.10.2012, die protestierende Bevölkerung wurde ferngehalten, 7.000 Polizisten waren zusammengezogen worden, um die Sicherheit der deutschen Kanzlerin zu gewährleisten. Keine Stecknadel. Dass kaum Musik zu hören ist, ungewöhnlich. Dass die Straßen der Athener Innenstadt vollkommen leer waren, ungewöhnlich. Hast du persönlich die Menschen Schlange stehen sehen vor den Suppenküchen? Nein. Hast du persönlich eine einzige Mutter ihr Kind bei einem SOS-Kinderdorf abgeben sehen? Nein. Hast du persönlich teilgenommen an einer Demonstration auf dem Syndagma-Platz? Nein. Wer weiß, ob es stimmt, was man hört. Ich stand auf dem Bahnsteig der Metro-Station Syndagma-Platz und hörte die Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste! Um 14 Uhr werden diese und drei weitere Stationen des Innenstadtbereichs geschlossen. Die Belüftungsanlage ist außer Kraft.“ Oberirdisch der Platz mit den abgeschlagenen Marmorplatten der Treppenverkleidung. Ich hätte gedacht, dass der Schaden viel größer sei. Dem Augenschein nach waren die Orangen, Bohnen und Tomaten auf dem Samstagsmarkt weitaus aromatischer als in den Jahren zuvor. Können Fotos riechen? Ist die Wirklichkeit eher zu lesen, wenn du sie verstummen lässt in deinen Fingern? Schreib alles auf. Fotografiere. Sing. Geh auf die Straße. Zieh dich aus. Spring. Weiche der Zukunft aus. Verspeise das Lied. Ernähre dich von deiner Markise. Iss das Schwein deines Nachbarn. Du bist Terrorist, wenn du einen Job willst. „Heute Abend“, sagte Kostas, „werde ich dabei sein, vor dem Parlament. Du weißt nicht, was hier los ist. Ich hab die Juntazeit miterlebt. Das hier ist schlimmer als zur Zeit der Junta.“ Wenn du dich nur nicht täuschst. Wenn du nur nicht irrst. Wenn du nur die Wahrheit sagen würdest. Wenn du die Wahrheit kennen würdest. Wenn du hier wärest, mit eigenen Augen sehen könntest, wenn du bliebest, wenn du nicht bleiben könntest, wenn du ausweichen müsstest, wenn du in dein Unglück rennen müsstest. „Manche sind seltsam geworden“, so der Dichter, „die sagen mir: Du hast ja Arbeit, du kannst mich absolut nicht verstehen, von mir bekommst du gar nichts, weder einen Text noch eine Zeichnung. Du weißt ja nicht, wie es mir geht … Und andere sagen gar nichts mehr.“ Im Parlament treten sie ans Rednerpult, einer nach dem anderen und sprechen. Kaum einer, der nicht etwas mehr Redezeit verlangt. Dieser Herr: „Griechenland ist nicht Iphigenie.“ Meint er Iphigenie, bevor sie geopfert wurde, Iphigenie im Augenblick, da sie geopfert wird, oder Iphigenie, die entrückt weiter existiert, anderswo, eine Zeitlang, übergangsweise. Die Medien berichten davon, dass bei den Protestversammlungen Tränengas und Blendgranaten zum Einsatz kommen. Die dort waren, haben anderes zu berichten. Wem kann man glauben. Ich glaube denen, die dort waren und in Panik gerieten. Ich glaube denen, die sich nicht mehr jeden Tag rasieren. Ich glaube denen, die sich noch nicht rasieren müssen. Ich glaube denen, die den Zahnarzt nicht mehr bezahlen können. Ich glaube denen, die immer geschrieben haben. Ich glaube denen, die viele Lieder in- und auswendig wissen. Ich glaube denen, die sagen, sie hätten sich geirrt. In ihnen, letztendlich, erkennt Griechenland sich wieder. Aber vielleicht irre ich. Vielleicht war ich nie dort. Vielleicht war es der zehnte Novembertag. Und vielleicht war es erst der elfte, an dem ich ankam, als ich abflog und meinte, nichts gesehen zu haben mit meinen Augen. Die kleine Kanzlerin hebt die Hand.

Berlin, 14. November 2012
© Ina Kutulas

Am anderen Ufer der Elbe liegt China

 

Herbert L. bin ich bisher leider nur dreimal begegnet. Das erste Mal in Dresden, da, wo er wohnte, und es hing ein Seil im Eingangsbereich von einer sehr hohen Decke herunter, und ein Kind fasste es und schwang hin und her, und ich dachte: So etwas gibt es also auch in dieser Republik, alle Achtung! Das zweite Mal traf eine Postkarte ein mit der Frage, wo man in Griechenland am besten mit dem Rad das Land erkunden könnte. Vielleicht irre ich mich, aber ich meine mich zu erinnern, dass Herbert L. in Griechenland mit dem Rad herumfahren wollte, und dass er nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass das schwierig werden könnte. Auf solche Gedanken kam ich. Aber wir Menschen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ich glaube, ich sah Herbert L. vor meinem geistigen Auge mit einer Pudelmütze mit Bommel. Männer, die ihre Ohren schützen, können nicht unbedacht handeln, meine ich. Das dritte Mal traf ich Herbert L. 2011. Wir sahen zusammen einen Film und unterhielten uns und später saßen wir zusammen in seinem Auto, und ich glaube, es lag dort etwas Stroh herum, es war in einem der Sommermonate – oder irre ich, Herbert?, und du hast in deinem Auto ab und zu trockenes Gras transportiert. Für deinen Vater? – Herberts Vater lebt im Altersheim. Einmal, als Herbert mit seinem Vater an der Elbe spazieren ging, zeigte der Vater über den Fluss hin zum anderen Ufer und sagte: „Da drüben … liegt China.“ Pause. Dann, bedacht: „Aber das verstehen die Leute in meinem Altersheim nicht.“

Für mich ist diese Aussage eine der schönsten Liebeserklärungen an das Leben, in vielerlei Hinsicht. Nicht nur, weil der Name Ina sich reimt auf China. Das ist noch das Wenigste.

Mein Kollege Gregor Kunz zitierte einmal seine Kollegin Barbara Köhler: „Der Elbe in Dresden sieht man den Atlantik nicht an.“ So jedenfalls meine ich es zu erinnern. Ich kann mich irren. Aber es war auf jeden Fall nicht: „Wer weiß, ob man die dicken Einleitungsrohre noch sieht.“ Ich freue mich auf die korrigierenden Worte von Gregor Kunz oder Barbara Köhler … oder Tilo Köhler. Sie haben etwas zu sagen. Es geschehe! Wann auch immer. Zeit ist genug. Am anderen Ufer der Elbe liegt China. Winke winke. Eure Ina!

© Ina Kutulas

Für Gert Hof

 

Zum Jahreswechsel – Immer wieder

2012 dachte ich immer wieder an Gert. Im Januar, als er starb. Im Februar zur Beerdigung – es war ein kalter Tag, in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs ließ Wanja das letzte Lied hören „Hurt“ von Johnny Cash:

… If I could start again,
A million miles away,
I will keep myself,
I would find a way …

Die beiden Herren vom Personal öffneten die Flügeltür. Es fielen riesige Schneeflocken aus dem Himmel und bedeckten das dunkle Grün ringsum. Ansonsten war alles ganz schwarz. Einer war mit einem riesigen roten Schal gekommen. Rob trug große Ringe und stand eine Weile für sich. Im Februar waren wir bei Mikis und hörten seine Sinfonien. Im März, während ich „Medea“ von Mikis hörte, als ich las und las und las, was in Griechenland vor sich geht. Im April, als ich Griechenland vor mir sah und Gert in Griechenland, als ich „Medea“ von Mikis hörte und mich erinnerte an Hamburg. Im Mai, der mich erinnerte an unseren Aufenthalt auf Rhodos, 2006, als Gert mit riesengroßen Schritten allein weit voraus ging bis ans Ende der Mole. In diesem unbeschreiblichen Juni, der mich erinnerte an Gert mit einem Halm in der Hand. Im Juli, der mich erinnerte an einen Tag, als wir uns zufällig in die Arme liefen, auf der Greifswalder Straße, 2010, Gert suchte sein Auto. Im August, als wir mit Bella im Nuthe-Urstromtal drehten für „Medea“. Im September, der mich erinnerte an die Fahrt mit dem Schiff. Im Oktober, der mich erinnerte an das erste Mal, als ich Gert überhaupt sah – kurz, 1999, in der Passionskirche – und an New York, als Gert über den Millennium-Event Berlin nachdachte. Im November, der mich erinnerte. Und jetzt, im Dezember, der mich erinnerte. Vor zwölf Jahren rasten die Bilder durch uns hindurch, die unser Weg sein sollten für so viele Jahre, wie ein Jahr Monate hat. Jetzt sind es bald dreizehn. Das Jahr Gert verlängert sich. Ich wüsste gern, wie du die Sache siehst, Syndrofos Avli … Griechenland, wo das Meerwasser von Varkisa nachts sich mühte, schwarz zu bleiben; in Limnos stach uns die Sonne am frühen Nachmittag fast besinnungslos, Kopfschmerz, Minze statt Aspirin. Wanjas Satz, der immer wieder zitiert wurde: „Papa, sei nicht traurig.“ Und immer wieder Temperamine aus Dosen oder auch nicht. „I will keep myself“. I will find a way. See you, Gert.

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Das an die Nieren geht 

gewidmet Gert Hof
 

DAS. Das an die Nieren geht. Und wenn im Rachen des Alls eine Zunge sich spitzt. Hervor schnellt sie, Erdengötter zu greifen. Drei … Zwei … Eins … Zero. Diesen Kuss der ganzen Welt. Satt ist zu essen vom Durst. Wer kosten will vom groben Brot der Wahrheit, muss Märchen verschlungen haben.

Einmal wird sein … Aus dem Schlaf schreckte der Junge mit dem weißen Gesicht und vernahm das Kratzen und Schürfen. Aus dem Schlaf drang das Wachen wie aus Falten das Tal, unerhört. Draußen wuchs wohl das Gebirge der elften Stunde. Es lauern unter dem Bett, wie man weiß, keine Eintagsfliegen. Da juckte es das Kind im Rückenmark. Es lief durchs Zimmer ungeachtet aller Finsternis und riss das Fenster auf. In diesem Augenblick zertrümmerte des Sturmes Stille die Krone des Süßkirschbaums und eine Zacke des dunkelsten Sterns schlug dem Jungen das Auge aus. Flog eine Krähe herbei und sprach, bis sie gealtert war und von Rede leer und aufgesaugt wurde von schlehblauer Farbe, tintenvergällt.

Einmal wird sein. Der Junge mit dem weißen Gesicht warf sich zurück in sein Bett, dem aber das Fenster nun anverwandelt war. So glitt das Kind in den Äther und wusste eine klaffende Wunde in der Welt. Fortan kannten den Jungen die Engel der höheren Ordnung, und wenn sie gut gelaunt waren, dann riefen sie ihn bei seinem Namen. Waren sie aber missmutig, dann forderten sie die Dinge des Unmöglichen ein. Einmal wird sein.

Das Nichtermüdende Wasser sollte der Junge mit dem weißen Gesicht und dem Reptilienauge suchen gehen. Und sollte, so er es gefunden hatte, einen Krug davon tragen durch die ganze Welt und nicht einen einzigen Tropfen davon verschütten, und – angekommen am hohen Berg der Bescheidenheit, der hinüberragt an die Sohle des Ur-Ozeans – selbst leeren den Krug, um beraubt zu sein allen Schlafs und gequält von sämtlichen Träumen, die nun keine Seele mehr finden, sie heimsuchen zu können. Denn das Nichtermüdende Wasser war feuriges Elixier, das an die Nieren geht. Dem brenn ich die Augen aus – so klang dieses Hecheln.

Solche Art, Licht zu machen, ist Wachtraumgeburt. Und was wachend geträumt wird, zischelt, wie man weiß, unerhörter noch als das im Schlaf Erschaute. Der Äußere Raum schlägt um, das Innere stülpt sich über sein Selbst. Fasst das ein Meer, bewehrt mit Himmelsspiegeln. Taucher aus Taucha, einmal wird sein, das Wrack der Titanic jagt dich aus Venus’ Bahnen in die Arenen des Saturn. Musik schlaucht Atemstoff. Blendwerk trifft Augenlicht. Wird so der Stahl gehärtet und gelichtstrahlt der Dachstuhl der Welt. Im Höhlenschwarz hast du Gesicht gezeigt. Hell wurde es, weiß wie Blüten von Kirschen. Oder wie von Kirschblüten nicht. Wie Salzlake, die rinnt hinab an Orangenbaumstämmen.

Und wieder die Prüfungen der Götter. Und die Prüfungen der Menschen. Mit gleißenden Zinken sollst die Sphärenäcker du durchpflügen, sprudelnde Sterne säen, die Glutfelder wässern mit Sonnenschmelze und Stroh verspinnen zu Gold.

Darüber kann ich nur lachen, sagt der Junge mit dem schneefarbenen Gesicht. Und ersteigt die Sternentreppe. Und stößt die Tür auf zum Raum, wo im Ofen die Sonne verbrennt. Und trinkt von Wasser und Licht, um sterben, sich erden zu können und wieder zu werden. Einmal wird sein. Denn er weiß eine Krähe, die Augen aushackt, und einen Adler, der Leber frisst, und seinen geflügelten Drachen, dessen Feuerzunge den Wächtern des Eisernen Turms an die Nieren geht.

Berlin, Januar 2012
© Ina Kutulas