Wenn ich dir was wünschen dürfte …

Zu Mikis Theodorakis’ 91. Geburtstag

Vor zwei, drei Wochen, am Tag, als er seinen 91. Geburtstag feierte, stellte ich eine Postkarte mit Marlene-Dietrich-Porträtfoto zu einem Porträtfoto von ihm. Das ergab sich zufällig bei der Durchsicht eines Stapels Papiere. In dem Augenblick, da sie zu ihm gesellt war, bemerkte ich, dass die beiden sich in einem engen, spannungsvollen Zusammenhang befanden. Mikis und Marlene. Zwei Giganten, Performer, Lyriker, die ich mir in einer Show, gemeinsam auf der Bühne, fast nicht vorstellen kann. Oder irre ich. Die beiden hätten es sicher krachen lassen, falls sie nicht bereits vor dem Abend des Auftritts verkracht gewesen wären. Ohne weiteres vorstellen könnte ich mir jedenfalls sofort Mikis auf der Bühne zusammen mit Udo Lindenberg oder mit Rio Reiser. „Tis nichtas sto balkoni – Auf dem Balkon der Nächte“ – das hätte Rio Reiser vielleicht so gesungen und würde Udo Lindenberg vielleicht so singen, wie sie jeder auf seine Art „Wenn ich mir was wünschen könnte“ interpretierten, das Lied, das als eines der von Marlene Dietrich am markantesten gesungenen gilt.
Als das Porträt von Marlene in unmittelbarer Nähe zu Mikis’ Foto zu sehen war, schien mir, dass dieses Lied ein guter Song für seinen 91. ist:

Man hat uns nicht gefragt,
als wir noch kein Gesicht,
ob wir leben wollten
oder lieber nicht.
Jetzt gehe ich allein
durch eine große Stadt,
und ich weiß nicht,
ob sie mich lieb hat.
Ich schaue in die Stuben
durch Tür und Fensterglas,
und ich warte und ich warte
auf etwas.

Wenn ich mir was wünschen dürfte,
käm ich in Verlegenheit,
was ich mir denn wünschen sollte
– eine schlimme oder gute Zeit?
Wenn ich mir was wünschen dürfte,
möcht ich etwas glücklich sein,
denn wenn ich gar zu glücklich wär,
hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein.

Menschenskind,
warum glaubst du bloß,
gerade dein Leid, dein Schmerz,
wären riesengroß?
Wünsch dir nichts!
Dummes Menschenkind,
Wünsche sind nur schön,
solang sie unerfüllbar sind.

Kurz vor Mikis’ Geburtstag war Panajotis aus Griechenland da. Nachdem wir uns etwa eine Stunde unterhalten hatten, sagte er: „Was mir auffällt, bei denen, die ich hier in Berlin erlebe, in den Clubs und Cafés … Die jungen Griechen haben keine Träume mehr. Wenn der Mensch keine Träume mehr hat, ist sein Leben vorbei. Was aus diesen „Kindern“ wird – ich weiß es nicht. Was aus Griechenland wird – ich weiß es nicht. Griechenland existierte, solange die Menschen träumten. Selbst in den Kriegen hatten sie ihre Träume nicht verloren, nicht im Bürgerkrieg, nicht während der Junta. Sondern jetzt. Ich werde mein Kind fernhalten davon. Griechenland muss geträumt werden. Es ist eigentlich ein geträumtes Land.“ Panajotis lächelte und verabschiedete sich.
Inzwischen, so war gestern in Spiegel online zu lesen, ist mehr als jeder Zweite der 15- bis 24-Jährigen ohne Job. Man könnte wohl auch deutlich machen: fast jeder. Man stelle sich das für Deutschland vor und lege dieses vorgestellte Bild seiner Mitdenkerei zugrunde, wenn man von hier aus darüber befinden will, was „die Griechen“ tun müssten.
Mikis’ Lieder sind erfüllt vom Träumen der Menschen, das es in allen Jahren gab, in jeder Realität, durch alle Zeiten hindurch. Es ging immer darum, den Horizont erweitern zu wollen. Mikis erzählt in seinen Texten von Träumen, die er des Nachts sah, so dass nicht mehr unterschieden werden kann, wann der Traum in die Wirklichkeit übergeht oder die Wirklichkeit in den Traum, der Nacht- in den Tagtraum, das Tageserleben ins Visionieren. Deshalb ist seine Musik nichts für Menschen, die nichts erträumen. Sie ist etwas für Menschen, die mehr Träume haben, als sie je verwirklichen können, auch wenn sie nimmermüde wären. Je wacher, desto mehr zu tun im Sinn.
Mikis benannte im Gespräch mit dem Journalisten Eberhard Schade im Jahr 2002 seinen früheren Traum: jeden Tag die Akropolis sehen zu können – der sich ihm erfüllte –, und den bis dahin noch unerfüllten: die Aufführung seiner Opern-Tetralogie zu erleben. Auch dazu ist es gekommen.
Wovon träumt Mikis heute? Oder: Was wünscht er sich? In einem Interview mit Carina Prange zu seiner CD Resistance sagte er vor etwa zehn Jahren: „Ich sehe es so, dass meine lebenslangen Bemühungen nicht nur keine Flucht aus der Realität waren, sondern selbst die “wirkliche Wirklichkeit” darstellen. Deshalb tut es mir Leid, wenn andere Menschen diese Möglichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Schlimmer noch – wenn sie sie nicht einmal erahnen können!“
Dass die Menschen eine Ahnung haben von der Selbstverwirklichung durch Bemühen, das könnte heute durchaus noch immer Mikis’ Wunsch sein, ein Traum, gerade weil dieser Traum in der jetzigen Zeit in die Ferne gerückt ist. Vielleicht wird ihn dort, in einer unermesslichen Distanz, ein Wesen wie Marlene Dietrich empfangen – der solches sehr nah gewesen sein muss: Erfüllung in Anstrengungen finden – und ihn in die Gegenwart zurücksenden. In eine Gegenwart allerdings, in der, wie ich es in einem Artikel benannt fand, „die Gesellschaft sich vielen als eine nach unten fahrende Rolltreppe darstellt, gegen die sie anlaufen müssen, um nicht abzusteigen“. Lehrstoff nahm man in sich auf, der zu Leerstoff geworden ist, verpufft in einer Situation, in der die Alternative darin zu bestehen scheint, Menschen von Europa fern zu halten, die nicht aus Europa sind. Eine Situation, in der etliche sich diese Vorstellung vom Glücklichsein machen: ‚Wenn wir doch erst alles nur für uns allein hätten, dann wär alles gut!’ Statt weiter „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ von Marlene Dietrich scheinen sie noch immer Gitte Hænning in sich zu hören, ein stampfendes Fordern: „Ich will alles Ich will alles Und zwar sofort Eh der letzte Traum in mir zu Staub verdorrt“. Wie sollte mit denen, die in diesen 1983er Und-Zwar-Sofort-Schranken denken, Staat zu machen sein? Zeit ist nicht nur Geld. Das erzählen die Traumzeit-Bilder der Aborigines.
Schon ist das Bild von den zwei Inseln außerhalb Europas dagegengesetzt, auf die man Unerwünschte deportieren könnte, getrennt nach Männern und Frauen, ob allein hergekommen oder mit Familie. Es sei kostengünstig. Eine Rückwanderungsbehörde soll die Organisation übernehmen, so der Vorschlag der AfD-Vorsitzenden, von dem vor drei Tagen zu lesen war. Man macht ganz einfach eine Wanderung. Und dort hinten, in der Ferne, wo man hinwandert, ja so gerne, da gibt es Arbeit und Unterkunft und Essen und Duschen. Das Meer wird seekrank und verschluckt den Ruf: „Petri Heil!“ Charon in seinem Boot wendet sich um. „How many roads must a man walk down / before you call him an man / How many seas must a white dove sail …“ Da steht König Midas, noch einmal quicklebendig, am ersten Hafentor. Und wieder ruft er: „Bacchus, Bacchus, sei mir hold, mach, dass alles wird zu Gold!“ Und die Seeräuberjenny steht am zweiten Hafentor und ruft: „Und das Schiff mit acht Segeln / Und mit fünfzig Kanonen / Wird entschwinden mit mir.“ Und Lale Andersen ruft vom dritten Hafentor her: „Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den einen / Den ich so lieb wie keinen, und der mich glücklich macht. / Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen / Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.“ Und Marlene am vierten Hafentor singt: „Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund / Hebt mich wie im Traume Dein verliebter Mund. / Wenn sich die späten Nebel drehn, / Werd‘ ich bei der Laterne stehn, / Wie einst Lili Marleen, wie einst Lili Marleen.“
Man könnte meinen, die Jugend hätte diesen Traum zu träumen verdient: Von Tor zu Tor gehen, jeder Stimme zuhören zu können, ein blauer Himmel darüber, Wolken, die dahinziehen wie prächtige Schiffe, und in der Mitte der Insel ein langer, gedeckter Tisch, an dem alle Dichter und Sänger sitzen und ihre Mantinaden erdenken. Sollten die Kinder es nicht besser haben? Marlene Dietrich selbst schrieb einen Liedtext, damit Kindern gesungen werden könnte:

Sch … kleines Baby, wein‘ nicht mehr,
die Mami kauft dir einen Teddybär.

Und wenn der Teddybär nicht mehr springt,
kauft dir die Mami einen Schmetterling.

Und fliegt der Schmetterling ganz weit,
kauft dir die Mami ein rotes Kleid.

Und wenn das rote Kleid zu rot,
kauft dir die Mami ein Segelboot.

Und wenn das Segelboot zu nass ,
kauft dir die Mami den größten Spaß.

Und ist der größte Spaß zu klein,
kauft dir die Mami den Sonnenschein.

Und wenn die Sonne wird dunkel sein,
kauft dir die Mami ein Vögelein.

Und wenn das Vöglein nicht mehr singt,
kauft dir die Mami einen goldenen Ring.

Wenn dir das Ringlein nicht gefällt,
kauft dir die Mami die ganze Welt.

Wenn dir die ganze Welt zu groß,
kauft dir die Mami das große Los.

Wenn sich das große Los nicht lohnt,
kauft dir die Mami den Silbermond.

Und wenn der Mond verweht im Wind,
bist du noch immer das schönste Kind.

Der von Marlene Dietrich hochgeschätzte Erich Kästner zeigt den Erwachsenen derweil allerdings noch immer Das Riesenspielzeug:

Eins habt ihr leider nicht bedacht:
daß Kinderhaben auch verpflichtet.
Ihr wart auf uns nicht eingerichtet,
ihr habt uns nur zur Welt gebracht.

Ihr habt uns mancherlei gelehrt,
Latein und Griechisch, bestenfalles.
Nun sind wir groß, doch das ist alles.
Und was ihr lehrtet, ist nichts wert.

Ihr habt uns in die Welt gesetzt.
Wer hatte euch dazu ermächtigt?
Wir sind nicht existenzberechtigt
und fragen euch: Und was wird jetzt?

Schon sind wir eine Million!
Wir waren fleißig und gelehrig.
Und ihr? Ihr schickt uns, minderjährig,
fürs ganze Leben in Pension.

Wir leben wie im Krankenhaus
und lassen uns von euch verwalten.
Wir werden von euch ausgehalten
und halten das nicht länger aus!

Sind wir denn da, um nichts zu tun?
Wir, die gebornen Arbeitslosen,
verlangen Arbeit statt Almosen
und fragen euch: Und was wird nun?

Einst wußtet ihr noch euren Text,
als ihr uns noch für Puppen hieltet
und wie mit Spielzeug mit uns spieltet.
Doch wir sind Spielzeug, welches wächst!

Auf eigne Rechnung und Gefahr
will jeder, was er lernte, nützen.
Die Tage regnen in die Pfützen,
und jede Pfütze wird ein Jahr.

Die Zeit ist blind und blickt uns an.
Die Sterne ziehn uns an den Haaren.
Das ganze Leben ist verfahren,
noch ehe es für uns begann.

Vernehmt den Spruch des Weltgerichts:
Ihr gabt uns seinerzeit das Leben,
jetzt sollt ihr ihm den Inhalt geben!
Daß ihr uns liebt, das nützt uns nichts.

Man könnte meinen, Kästner habe seinen Text nicht 1930, sondern soeben erst geschrieben. Und das Land, welches als die Wiege der europäischen Kultur galt, ist inzwischen vielleicht zu deren Luftschaukel geworden.
Was für eine Situation, in der in so vielen einzelnen Elternhäusern die Erwachsenen offenbar doch ein gleiches Verhalten an den Tag legten, gleich im Hinblick auf diese Tatsache, dass sie ihre heranwachsenden Kinder immer wieder gemahnten: „Nicht … Nicht … Nicht … Nein, befass dich nicht damit, nein, hör bloß nicht auf den, gib nichts auf das, was der sagt!“ Eine Erziehung, die darauf orientierte, sich fern zu halten von diesem und jenem, auf das nichts zu geben, was außerhalb der Familie gesagt wird, sich mit diesem und jenem nicht auseinander zu setzen, es nicht zu lesen, sich dazu nichts erzählen zu lassen, es nicht mal zur Kenntnis zu nehmen, sondern sich zu verschließen. Den Kindern zu erklären: „Gefährliche Gedanken, falsche, allerorten. Lass sie nicht an dich heran!“
Ich habe inzwischen viele junge Leute zwischen 20 und 35 erlebt, die davon sprachen, von diesem „Nicht … Nicht … Nicht …“. Die Interesselosigkeit im Hinblick auf andere Ansichten, die Unfähigkeit und Motivationslosigkeit, sich mit diesen auseinanderzusetzen, dieses Nicht-einmal-Ahnen-dass …, sie ließen diese Generation mutlos, orientierungslos und unträumerisch werden wie keine zuvor. Sie gilt vor allem deshalb als eine verlorene, nicht, weil das Land für alle Zeit verschuldet ist. Sondern weil dieser Generation die Erfahrung von Gemeinschaftlichkeit unmöglich gemacht wurde. So stelle ich mir das Ende der Welt vor. Wenn jeder „andere“ mein Feind ist und auch mein Zuhause nicht mehr existiert, nicht einmal mehr in meinen Träumen. Beladen mit dem unheilvollen Geschenk der gänzlichen Verweigerung gegenüber „anderen“, mit dieser Last aus Angst, Aversion und Abwehr, die immer wieder zum „Nein“ führt, nicht aber zu Konstruktivität, zur Handlung, zum Sich-die-Nächte-um-die-Ohren-Schlagen in einem Langzeitprojekt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und beladen mit der zweiten Last: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit … Eine fatale Paarung von Verweigerung und Verweigertsein. Diese Last und die andere Last wird mitgetragen, nach überall, auch in Städte, die ihre Mauer losgeworden sind. Auch in Länder, die jetzt Mauern hochziehn.
Diejenigen, die die große Ausnahme darstellen, tun das eigentlich Undenkbare: Sie schreiben, machen Filme, machen Musik, bauen, installieren was, malen, und jeden Tag singen sie: „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. Ich habe sie nicht verächtlich erlebt, keine riesige Kluft aufreißend zwischen Theodorakis und Hatzidakis beispielsweise oder dem einen Sänger und dem anderen, zwischen dem einen Autor oder Filmemacher und dem anderen. Sie sind in aller Poesie zuhause, in aller Musik, und käme ich ihnen mit Marlene Dietrich – sie würden auch zu ihr etwas zu sagen haben, sie würden mir zeigen, dass diese Marlene Dietrich schon längst in ihrem Traum eine Rolle spielt, dass sie performt auf einer Bühne, zusammen mit Theodorakis, damit das Unvorstellbare einen Augenblick wahr sein kann. In ihren Träumen ist es wahr. In ihren Träumen gibt es auch eine Marlene Dietrich schon immer in Griechenland. Es sind die Kinder von Eltern, die auf wundersame Weise aufgeschlossen blieben. Ob sie Flüchtlinge waren oder nicht. Ob ihnen zugehört wurde oder nicht. Ob mit ihnen geteilt wurde oder nicht. Sie hatten Teil an der Welt. Sie erzählten ihren Kindern nicht, dass diese Welt sich auf Lug und Betrug gründe. Sondern sie erzählten ihnen von der Vielfalt des Lebens, die es gibt trotz der Lüge und des Betrugs, trotz des Todes und der Demütigung, trotz der Langweile, trotz allen Mordens.
Oft versammelt sich ein Teil dieser insgesamt nicht fassbaren Vielfalt schon im Erlebnisraum eines einzelnen Menschen, der ein Vielfaches aufnimmt und dessen Charisma davon spricht. Für Marlene Dietrich gilt das, für Mikis gilt das, für nicht wenige kreative Menschen. Wenn ich eingangs schrieb, ich könnte mir die beiden nicht zusammen vorstellen, auf einer Bühne, dann stelle ich es mir dagegen sehr wohl höchst spannend vor, hätten Marlene und Mikis heutzutage, von einer Wohnung zur anderen, miteinander telefonieren gekonnt.
Immer, vor jedem Konzert, bei dem ein Orchester spielt, erlebe ich, wenn die Musiker sich einstimmen, dass ich an die Bäume denke, aus deren Holz die Instrumente gemacht sind. Vor meinem Inneren Auge entsteht ein wirklicher Wald. Ein großes Leuchten geht vom Orchester aus, das seinen Klang zu zentrieren beginnt. Und bevor die Musik gespielt werden kann, vereinigen alle Bäume ihr Wesen in einem einzigartigen Ton, um die Menschen diesen Ton erleben zu lassen. Von diesem Ton geht alles aus. Auf Erden, in den Konzertsälen kann man ihn hören.
Wenn ich dir was wünschen könnte, Mikis, dann wäre es dieses Jahr eine Melodie, die hereinkommt durchs offene Fenster, ein Lied, das die Zeit geschrieben hat, mit einer beinah glücklichen Hand, und das hörbar wird, gesungen von Marlene Dietrich: Wenn ich mir was wünschen dürfte … Oder vielleicht besser noch: Look me over closely.

Kisses
Lili Marlina

15. August 2016