Dieses türkische Zuhause, gehütet von einer schnurrbärtigen Berliner Mousafira

Kerem

Hava kurşun gibi ağir

Bağir bağir bağiriyorum

Nazim Hikmet

 

Jemand kommt die Straße herauf und zählt. Was zählst du?, frage ich. Ich zähle nicht, so die Antwort. Ich spreche die Zahlworte aus, damit ich höre, wie sie klingen. Nicht alle Tage klingen sie gleich. Nicht alle Tage wird von Freundschaft gesungen mit dem gleichen Lied. Nicht alle Tage gibt es das gleiche Zuhause. Alles ist zugleich, was es ist und auch, was es nicht ist. Du gehörst nicht zu diesem Land. Und doch hast du seine Grenze in dir. Und doch wird es auch von dir gemacht. So, wie das Licht leuchtet, weil es dunkelt, wo das Licht nicht ist. Die Dunkelheit ist immer anders. Und in einer Erscheinung der Dunkelheit bist du, deshalb kann Licht sein, irgendwo. Eins … Zwei … Drei … Vier … Fünf … Tak tak. Toc toc. Tic tac. Taktik und Straktik. Schiefe Absätze erzählen von allerlei Wegen … Sechs … Sieben … Acht … Neun … Zehn … Kalimeramerhaba.

Als ich in Athen lebte, lebte ich auch ein wenig in der Türkei. Ich lebte in Ägypten und Syrien, in Pakistan und Indien, in Deutschland und in Albanien, sogar auf den Philippinen lebte ich, als ich in Athen lebte, und auch in Australien, in Holland, in Israel und Frankreich, in Japan und China und in vielen anderen Ländern. Forget me not. Kalimeramerhaba.

Es gab nicht nur einen Wunschbaum, es gab viele. Lerne Sprachen sagte er und wusste, warum. Er hatte den Krieg mitgemacht. Lerne Sprachen sagte er, lange vor der Zeit. Lange, bevor ich in den Ländern wohnte, die Länder mir innewohnten. Lerne Sprachen. Er wusste, warum. Er war ein Deserteur. Er hatte überlebt, still, ohne sich zu zeigen. Nicht, ohne zu sprechen. Lerne Sprachen. Doch keine brachte er mir bei. Es blieb dabei. Lerne Sprachen. Zwei Worte, wie man sie sich merkt durch Wiederholung. Esperanto, sagte er, lerne Esperanto. Wo und wie, das sagte er nicht. Er hatte möglicherweise den Sinn dafür verloren, dass wir in einem Land lebten, in dem Sprache dazu gut war zu schweigen, das Wort in der Stille zu verbergen und abzuwarten. Auch wenn man darüber starb. Der eine schrie es, der andere rief es, der nächste schwieg es. Er ist schwer, dieser Wind / schwer wie Blei / Ich schrei. Gegen die Wand. Over the Bridge. Sprachen lerne. Er hatte möglicherweise den Sinn dafür gewonnen. Kalimeramerhaba.

Eines Tages kam einer, der Kelim-Teppiche hatte und sie verkaufen wollte. Ein Haus wird ein Zuhause, wenn es einen Teppich hat. Wenn es keinen Teppich hat, bleibt es ein kühlerer Ort. Weil die Hausfrauen die Teppiche nicht saubermachen müssen und ihre Körper sich deswegen nicht erhitzen. Kelim-Teppiche in Kontrastfarben, Kelim-Teppiche in bräunlichen Farbtönen, bunte Kelim-Teppiche, alte Kelim-Teppiche in matten, ausgebluteten Farben, die alles Neusein verloren, die Menschenleben und Licht in sich aufgenommen haben und dafür überschüssige Farbe abgaben. Ich würde wohl keinen brauchen, sagte ich mir, denn meine Blicke hatten die Ornamente gesehen, gebildet von Kette und Schuss. Im Inneren Zuhause liegen so viele Kelim-Teppiche, wie ich will. Das Gelb leuchtend, wie von Schöllkraut und Safran, das Rot von Granatäpfeln braun wie Meerestierblut, das Blau – geriebener Stein und Kornblumenstern, das Grün wird erdacht von einem Geist, nachdem er sich aus der Zuckerdose des Menschengeschlechts bedient hat und seinen Schwarzen Tee geschlürft und zufrieden ist. All we are living … living in a box. Geh nicht zu den Hausfrauen, sie sind furchtsam, sie schließen die Tür ab, wenn du nahst. Sie verriegeln sie, wenn du klopfst. Sie verriegeln sie zweimal, wenn du rufst. Kalimeramerhaba.

Die Kelim-Teppiche des Inneren Zuhause bleiben eingerollt. Sie warten lange im Dunkeln, denn irgendwo wird mehr Licht gebraucht. Dort, in meinem türkischen Zuhause, so weit entrückt, dass diese Entfernung Sehnsucht erzeugt. Der eine ist geblieben, der andere ist gekommen, der nächste gegangen. An der Wand entlang. Durch die Wand. Over the Bridge. Besame mucho. Compris? Kaputt! Arrivederci. Zapzarap. Abrakadabra. Que sera … Ti amo! Otschi tschornyje. Mon amour. Shukran. Meintest du vielleicht: Schuhkrem schäkern schussern? Sprachen lerne. Mutabor. Kalimeramerhaba.

Im dritten Sommermonat gibt es türkische Aprikosen, klein und aromatisch, vorher die etwas größeren aus Frankreich, im Juli. Noch ist nicht August. Noch wird der Sommer nicht schon bald wieder zuende sein. Noch träumen wir von diesen Aprikosen und erwarten sie. Noch binden meine Gedanken ein blaues Band an den Zweig des Wunschbaums. Kalimeramerhaba.

Der Kanarienvogel kam geflogen über Griechenland, über Israel, über die Türkei. Rosa Eskenazy, die Geliebte des Sultans Kemal Atatürk, sang Rembetiko. Laura saß in der Mansarde, ihr blondes Haar füllte den kleinen Raum und machte ihn zu einem Palast. Die Mutter meines Vaters, sagte sie, war Physikerin; sie lebte in Izmir, sie lehrte, sie forschte. Renas Großeltern kamen von dort. Petri, der Eismann kam von dort. Aber geboren wurde er in Thessaloniki. Ein Kirschbaum stand im Garten. Und viele andere Bäume. Und viele andere Menschen waren. Und viel Zuhause. Webstühle gingen. Melonen platzten. Aprikosen waren kleiner als Nüsse. Pino saß auf dem Stuhl. Geh-Komm. Hier-Da. Pino Noir-Pino Blanche. Pina Bausch. Herr Bauschke zeichnet Porträt. Eva und Silke, Silke und Daniela, Daniela und Daniel, Daniel und der Löwe, der Löwe und die Maus. Die Zaza und der Tzitzikas. Die Worte wurden gesagt. Die Worte wurden eingewebt. Die Worte wurden gemalt. Die Worte wurden gesungen. Warum kreuzen sie unsere Wege, warum deiner den meinen, warum fahren heut im Hafen viele Kräne hin und her? Sag mir, warum ich gehn muss, sag mir, warum. Sprachen lerne. Um sie zu wissen. Damit spielt man Stille Post. Kein Wort verlieren. Reden wie ein Wasserfall. Schweigen wie ein Grab. Es singt das Santouri. Das Sprechen übernimmt die Luft. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Das Wort nimmt Klang auf. Das Rad die Fahrt. Kalimeramerhaba.

Mein Kanarienvogel, wie laut dein Lied ward, so stark, dass die grelle Farbe schnell wie ein fliehender Schatten aus dem Kelim wich, dass diese Welt stiller wurde, dass Halil Karaduman zu hören war, Yaşar Kemal und Nazim Hikmet … Bleib dran, Löwe! Zwanzig … Einundzwanzig … Zweiundzwanzig … Das nächste Sternbild ist aufgezogen. Es schneit in der Nacht. Schwarzer Tee und Zuckerpulver. Und heute Abend / da will ich singen / nur singen / In dieser Nacht fällt leis der Schnee / Und nicht mal der Wind erhebt sich / In diesem kurzen Moment / als dich trennt / eine Kugel vom Leben. Eine Kugel verbindet dich dem Schnee, dieses Licht liegt auf dem Weg, dieses Dunkel auf dem Kelim, in den Farben die Worte, in den Worten das Lied, im Lied der Atem, im Atem der Raum, im Raum ein einziger Stern, dieses Zuhause meiner Lichtjahre entfernten türkischen Namen. Das Herz hat zahllose Innentaschen. Das Land wird fortgeschafft. Verbracht hinter die Sieben Berge und dort deponiert im Hinterhof der Zeitalter. Gleich hat man Alaska erreicht. Den Gletschern gab man Namen. Die Gletscher können kalben, heißt es. Wir waren schon mal weiter. Forget me not. Kalimeramerhaba.

Sezen Aksu, an deinem 62. Geburtstag las ich, dass ein neues Blau entdeckt wurde, schon 2009, aber es geriet in Vergessenheit. Irgendwann wurde alles entdeckt und geriet wieder in Vergessenheit. Auch Rosa Eskenazy. Und wir, kurz bevor wir geboren werden, vergessen alles Weltwissen und brauchen, sobald wir entbunden sind, ein ganzes Leben, uns dessen wieder zu erinnern. Als würde es immer schneien, dass der Schnee sich auf die Erde legt und auf den Schnee der Kelim-Teppich. Mit jedem Wort werden wir wiedergeboren. Schreibe ich deinen Namen. Mutabor. Im Haus ist es etwas kühler. Die Bänder flattern im Wind, durch das Zuhause rollte ein Stern. Gegen die Wand. Crossing the Bridge. Jede Hand will ihn fassen, doch er ist unfassbar. Alle sitzen auf dem blanken Boden. Alle warten auf die kleinen Aprikosen mit den kleinen Kernen. Alle zählen. Alle vergewissern sich des Klangs der Worte. Obwohl alle schweigen. Obwohl es in allen ruft: Herein, wenn’s kein Schnitter ist! Sie hören. Sie schärfen ihre Sinne. Bahar, der Herbstfrühling kommt nach diesem Sommerschnee. Khan, wilde Erdhummeln kreisen über dem See, unter dem Wasserspiegel das Kind, das die Luft anhalten muss. Erol, quer gehst du, dieses Insekt aus deiner Sammlung hat die längsten Fühler, die man sich vorstellen kann. Ganz sicher wurden damit die Verse geschrieben. An die Wand. Over the Bridge. Kalimeramerhaba.

Bringt Fische, bringt Zitronen, bringt Zimt, bringt Nelken, bringt Kümmel, bringt den Teppich, bringt die Bänder, lasst Kleider machen, lasst Stühle stehen, lasst Seltsames geschehen, lasst Farbe sich vertiefen, lasst eine Zaubersalbe in einem Schraubglas sein, lasst das Haus wachsen, lasst die Türen sich öffnen, lasst Rosmarin, Jasmin und Aprikosen, Oliven und Feigen herfinden, lasst ein reines Tuch bereitliegen, lasst etwas Altstaub auf einem Bord, lasst etwas Altasche im Kamin, lasst etwas vergorene Neumilch im Krug für das Milchmädchen und für Tewje, den Milchmann, lasst etwas da, was von anderswo kommt, um ganz und gar und anders wach zu bleiben, scheret euch nicht um das Neudunkel, immer wieder will es werden zur Althülle des Neulichts. Jeder Ausnahmezustand ist zugleich Einnahmezustand. Kalimeramerhaba.

Die Mousafira streckt ihre Beinchen. Die Mousafira zwirbelt ihre Bartspitzen. Die Mousafira reibt Lauras Blond in die Fasern, um Laura zu erinnern. Die Mousafira vertut ihre Zeit nicht. Ihr türkisches Zuhause schläft nie. Ihr Berliner Einbrecher schläft nie. Ihr Athener Einbrecher schläft nie. Ihr Istanbul-Zuhause wohnt. Es ist nichts mehr im Keller. Die Worte sind nicht in Wohnhaft. Eileen im Büro. Omi Mama im Haus. Mimi Mia am Fenster. Mami am Zaun. Omi am Schrank. Osman im Zug. Mia Mimi im Bett. Nina Mimi Ina im Sandkasten. Zülfü im Garten. Nevzat, Ferhat, Göksun im Bus. Taner am Tor. Ciğdem im Badehaus. Mama Omi Mia am Klettergerüst. Ina an Moni. Moni an Mia. Mia an Mimi. Mimi an Nina. Nina an Ina. Ina an Moni. Na Moni. Moni im Sandkasten. Cem im Flugzeug. Renan im Kino. Ermine am Baum. Ali Lilo am Beet. Tafi Gino Gina am Platz. Lilo im lila Kleid. Sema im Lied. Das Taxi am Taksim. Gingi in den Küchen. Memed im Hafen. Ein Schiff wird kommen. Ein Schiff ohne Kanonen. Vergiss mich nicht … Kalimeramerhaba.

Jemand geht die Straße hinunter und zählt. Was hast du erzählt … Diese Ohren haben Wände. Sur mes cahier d’écolier / Sur mon pupître et les arbres / Sur le sable sur la neige / J’écris ton nom / Ey Özgürlük … Ob wohl Licht brennt im Istanbuler Goethe-Institut, in diesen Nächten? Ob das Dunkel sich vertieft, der Lesesaal zum Wartesaal wird allen Büchern, gefüllt mit streitbaren Worten, die ihren Klang verbergen, sich zurücknehmen, dass große Stille werden kann. Ob etwas darin sich eingeschlossen hat und zählt? Keftedes bewacht, Loukoumia bewacht, Kourambiedes, Baklava bewacht. Zwei Türen lasst offen für das Lied, eine Tür nach vorgestern, eine Tür nach übermorgen. Der Teppich entrollt sich, von dort her rollt er sich auf bis hier. Gegen die Wand. Over the Bridge. Kali nichta – Gute Nacht, mein junges Athen, mein vielaltriges Istanbul, mein Baby Berlin. Kalimeramerhaba

22. Juli 29016