Örtliche Schauer und Baader im Anzug

Ende Juni wird’s oft ungemütlich. Hitze und Starkregen oder Kälte und Starkregen. Auf dem Lande versucht man vielleicht heute noch mancherorts, den „Bilmesschnitter“- Korndämon zu bannen, damit er die Halme nicht umlegt. Vielleicht müsste auch an den Regendämon gedacht werden, damit er die Menschen nicht umlegt. Im Bitteren Felde fallen sie leicht.
1990, etwa fünf Uhr in der Frühe, bei zu dieser Zeit im Juni bereits recht hellem Tageslicht, lief der Dichter, Performer und Kleidungskünstler Matthias Baader Holst in Berlin Ecke Oranienburger Straße / Friedrichstraße in eine Straßenbahn und verstarb am 30. Juni an den Folgen dieses Unfalls. Bis dahin Koma. So die – hier und da leicht voneinander abweichenden – Auskünfte.
Der 30. Juni 1990 war der Tag der Währungsunion. Heute, noch keine 25 Jahre danach, ereignete sich der Brexit. Damals ein „Rein!“, jetzt ein „Raus!“ Dass die Wählerstimmen sich schließlich in der Waagschale summierten, die das Gewicht des Pro-Brexit schwerer werden ließen, ihm den Zugewinn und das Mehr brachten, passierte möglicherweise zur selben Stunde, nachts, zwischen vier und fünf Uhr, die für Baader Holst 24 Jahre zuvor eine schwarze Stunde geworden war. Die Farbe des heutigen Freitags wird hier und da ebenfalls so gesehen; ein Schwarzer Freitag sei es. Und die Atmosphäre fühlt sich nach Kurz-Vor-Dem-Weltenende an.
Vorsichtshalber könnte man einen Baum pflanzen. Kommt das Weltenende nicht, kann der Baum trotzdem stehenbleiben, falls es mit ihm dann was geworden ist, er wurzeln konnte und zu wachsen beginnen. Welchen Baum hätte man für Baader ausgesucht? Eine Pappel, schnell austreibend, Wurzelbrut bildend, hoch aufschießend, eine wankende Plastik mit immer regen Blättern. Nimmt Baaders Tod einen auf merkliche Weise mit, dann vielleicht auch, weil dieser Tod ein früher war.
Es wäre womöglich schade, aus welchen Gründen auch immer zu spät zu sein, am 7. Oktober 2017 handlungs-, aktionsunfähig, nicht reagieren könnend mit Text, Inszenierung, bewusstem Schweigen oder andersartig auf die von Baader in die Welt gesetzte Bitterfelder Inspiration. In „boheme und diktatur in der ddr“ ist seine Aktion beschrieben:
„In einer Szene steht BAADER grinsend vor einem Denkmal in Bitterfeld. Erbaut von einem übereifrigen Deutsch-Lehrer, irgendwann in den 60er Jahren, der seinen Schüler aufgibt, „Briefe an die Jugend des Jahres 2017“ zu schreiben, die er dann in einer Kassette in die Betonmauer einläßt. „Erst zu öffnen im Jahr 2017, dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution“, verheißt eine kupfergetriebene Plakette. Ein riskantes Verfallsdatum, das Holst zu einer Performance inspiriert. In der Messingschale des Denkmals entzündet er ein kleines Feuer. Mit großen Gesten deklamiert der Untergrund-Poet im Flammenschein seine Verse. Entrückt, einsam, einzig. Ein dadaistischer Olympionik, ein hakenschlagendes Opferlamm.“ *1
Das Bittere Feld. Der Bitterfelder Kornmann geht durch und bricht eine Schneise. Irrlicht oder Aufhocker. Lautes Getrappel, ein Hoch und Runter in Treppenhäusern, auf Fensterbrettern, in Rinnen, das Hin und Her auf Pflaster und Asphalt. Die Zeiteinheiten hetzen sich zu Tode fast in ihrem Bemühen, schnell genug zu sein, dem Weltenende zuvor zu kommen, den 7. Oktober 2017 schon vor dem 7. Oktober 2016 zu erreichen, den Punkt auf dem Zeitstrahl vorzuziehen, an dem die Kassette mit den „Briefen an die Jugend des Jahres 2017“ geöffnet werden muss. Ein Raum solle sich auftun, eine Kapsel, eine Offenbarung sich vollziehen, einen Tick früher, noch ehe dieses Gebilde etwas später der Wetterdämon, der Korndämon, der JederzeitdasEndebringendeDämon packen, entreißen, der Welt entfremden könnte. Im März wird die Uhr vorgestellt. Im Oktober zurück. Aber immer nur eine Stunde. Da ist man keinen Schritt vorangekommen. Das wird vielleicht nicht genügen. Was soll die Oktoberrevolution an ihrem 100. Jahrestag von uns denken?
Heute Abend find ich mich in der Friedrichstraße. Heute Abend werd ich mit der Bahn gefahren sein. Tödliche Kreuzwege wechseln wie Wetter ihren Ort. Sie verschmähen den einen und den andern, den holen sie fort. Nach dort. Und von dort herüber spricht die Zeit ein nicht berechenbares Wort. Lass regnen, Baader, lass unwettern, lass uns Zuflucht suchen müssen und brettern, die Papiere am Körper, durchgeweicht, unleserlich, nur zu deuten, stets bereit, es nicht genau wissen zu können oder überhaupt nicht. Wem nichts zustoßen will, der kann sich immer noch kranklachen.
Wohin legen sich wohl die Ähren, die Fahnen … Das steht nicht vorn an den Straßenbahnen.

*1 „boheme und diktatur in der ddr“, Katalog zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 4. September bis 16. Dezember 1997, Verlag Fannei & Walz Berlin; Fallbeil statt Beifall Brachialromantische Revolte gegen das „Sinnregime“: „Matthias“ BAADER Holst als radikaler Punkdichter und dadaistischer Terrorist, S. 259 bis 268

Die ganz andere Aufteilung der Welt

Das Paradies auf Erden können wir jetzt schon haben. Nicht nur eines, sondern mehrere. Viele. Für jeden das ihm genehme, entsprechende.
Die vielen Einzelabstimmungen über Jahre und Jahrzehnte hinweg über dies und das und jenes sind unnütze Zeitverschwendung und das damit verbundene Leiden des Menschen an verschiedensten Unzulänglichkeiten und Zumutungen dauert unnötig lange an. Zum Glück auf Erden könnte man schon alsbald gelangen.
Warum erst Brexit ja oder nein, Kindergeld ja oder nein, Raucherlokale ja oder nein, Hundedies und -das ja oder nein, Atomkraft ja oder nein, Fracking ja oder nein, Plastiktüten ja oder nein, Grundgehalt, Kopftuch, Handschlag, Grexit, Ochi, Buchpreisbindung, Integration, Hinterhof- und Baumscheibenbegrünung, TTIP, Sterbehilfe, Schulsystem, Wasserprivatisierung, Schürfrechte, Bezahlklos in der Schule, Bauchfreiheit, Friedhofbebauung, Krawattenzwang usw. usf.?
All diese Abstimmungen sind möglicherweise ohnehin Kokolores. Gestern las ich in einem Beitrag: “Am vergangenen Freitag haben 51 von 59 Leitern der Stadtteilschulen das Hamburger Schulsystem mit seinen zwei Säulen Gymnasium und Stadtteilschule für gescheitert erklärt.“
Jetzt urteilen schon Leitern über Schulfragen! Ich erinnere mich, dass es vor Jahrzehnten in Griechenland bei einer Wahl hieß, dass selbst Tote zur Abstimmung gegangen seien. 2013 war das über Simbabwe zu lesen. Unmögliche Zustände!
Einmal sagte mir jemand: “Durch Dicke fühle ich mich bedrängt.” Diese unerträgliche Qual! Dieses Leid! Dieses ewige Unerlöstsein! Wie traurig!! Nichts konnte dem bisher abhelfen. Was immer schon alles in der Welt geschrieben, gelesen, vorgelesen, aufgeklärt und analysiert wurde, wie viel Schulunterricht, Workshops, Seminare es auch immer schon gab – weiterhin gibt es Menschen, für die es unvorstellbar ist, mit bestimmten anderen Menschen zusammen zu leben, neben ihnen in Verkehrsmitteln zu sitzen oder im Restaurant an einem Tisch, beim Arzt im Wartezimmer oder im selben Hotel ein Zimmer zu bewohnen. Oder Menschen, die – könnten sie wählen – niemals mit einem dickeren Erdenbürger zusammen gesehen werden wollen. Oder mit einem Einarmigen. Oder mit einem Mandeläugigen. Oder mit einem Weißhaarigen. Oder mit einem Pelzmantel- oder Jesuslatschen-Träger. Oder mit einem Kariertbehemdeten oder Langnasigen oder Androgynen, Ungeschminkten, Geschminkten, neben einem Politiker oder Weltmeister oder neben einem Außerirdischen. Nein, nicht neben dem!
In Brüssel soll angeblich eine Maßnahme ergriffen worden sein, die meiner Meinung nach nicht weit genug geht: Bei der Passkontrolle am Flughafen gäbe es zwei Reihen. Nur! In der einen sollen sich diejenigen anstellen, die hellhäutig sind, in der anderen diejenigen, die einen dunkleren Teint haben. Ich kann das kaum glauben. Viel zu kompliziert! Es ist doch sehr schwierig, sich selbst einzuordnen. Wann ist man hell, welche Hauttonabstufungen gehören zu: HELL, wann gehört man zu DUNKEL? Um einschätzen zu können, ob das Handgepäck genügend klein ist, um als Handgepäck kostenlos mitgenommen werden zu dürfen, gibt es ein Gestell am Flughafen, da kann man das Handgepäck reinstecken und sehen, ob es zu groß ist oder eben nicht. Eindeutige Sache. Prima. Desgleichen gibt es die schon halbwegs gute Erfindung des Stichtags. Diejenigen, die bis dann und dann geboren sind, zählen zu denen, die bereits eingeschult werden können, die einen Tag später geboren wurden, müssen eben noch warten, wenn ich nicht irre. Ob das an allen Schulen oder generell noch strikt gilt, weiß ich nicht. Falls es ein flexibleres System gibt, mag das auch gut sein. Ob in Brüssel am Flughafen – vorausgesetzt, das stimmt überhaupt mit den zwei Reihen – ein Hauttonabgleichmustertableau vorhanden ist, nachdem man feststellen kann, ob man hell genug oder dunkel genug für die eine oder andere Reihe ist?
Diese Entscheidungssysteme sind im Ansatz gut, aber es resultieren Probleme daraus, erhebliche. Zwei-Klassen-Systeme zum Beispiel. Langweilig. Sie bringen viel Unglück. Im Grunde leiden die Menschen daran, dass sie eingeordnet werden. Das löst Zorn aus, Proteste, Hass, unnötige Unruhen, Gefühle von Bedrohung und anderes mehr, das vielen Menschen keine Freude bereitet. Sie entwickeln Aversionen. Auch gegen die Systeme. Und dann muss man umständlich gewaltsam gegen sie vorgehen, um sie zur Ruhe zu bringen. Das ist viel zu mühselig. Mir persönlich hat es nie gefallen, wenn mir gesagt wurde: du bist so und so und darfst hier nicht rein, gehörst hier nicht her, musst da oder dorthin, bist das und das. Ich würde die Zuordnungsentscheidung gern selbst treffen. Ich hätte gern die Wahl und davon reichlich.
In Spiegel online gibt es heute einen Beitrag, durch den es ermöglicht werden könnte, dass Menschen nicht nur eine Entscheidung darüber treffen, ob sie für oder den Brexit sind, sondern sie finden dort Antworten auf Fragen vorgegeben, gleich 10 Stück, und so gar Begründungen und Überlegungen dazu, warum man diese oder jene Antwort geben wollen würde oder diesen oder jenen Gedanken äußern. Die Idee ist sehr gut. Aber das Angebot recht mager. Spiegel Online hält die Menschheit zu knapp im Hinblick auf die Versorgung mit Meinungsbildungsvorlagen. Ein Beispiel mehr. Ich erkenne den guten Vorsatz, die eifrige Bemühung, aber in der Ausführung der Idee …, da hapert es noch gewaltig. Könnte ich jetzt wählen, würde ich sagen: Nie wieder Spiegel Online!, und ich könnte meine Meinung sogar noch einmal ändern. Eine andere Wahl treffen. Beliebig oft.
Für jeden könne keine Extrawurst gebraten werden, heißt es. Aber das wäre – im übertragenen Sinne – womöglich die Lösung!
Man soll die Menschen nicht scannen, verorten, lokalisieren, vermessen, abwiegen, aushorchen, sie einordnen und ihnen dieses und jenes zuweisen, sondern man soll die Menschen nach Herzenslust wählen lassen! Nicht nur, wie sie leben wollen, sondern vor allem: mit wem.
Für den Brüsseler Flughafen schlage ich deshalb vor: eine Reihe für hellhäutige, eine für dunkelhäutige Menschen und eine gemischte, wo sich alle anstellen können, die in dieser am liebsten stehen würden. Ich wüsste tatsächlich gern, wie die Wahl ausfallen würde! Es kann ja nicht weiter schwierig sein, dieses Hautton-Passkontroll-System-Modell in Brüssel zu realisieren. Schokoladen mit unterschiedlich starkem Kakaogehalt gibt es ja auch: weiße, sehr dunkle, hellere, dunklere. Gegenüber Schokoladentafeln sind Menschen sogar weitestgehend begünstigt, denn Menschen können sich die Schokolade wählen, die ihnen zusagt. Schokoladentafeln müssen sich so machen lassen und einordnen lassen und verpacken und bezeichnen lassen, wie der Mensch es will. Die Menschen haben ein riesiges Glück, dass sie nicht von Schokoladentafeln, Stehleitern, Trittleitern, ausziehbaren Leitern, Bibliotheksleitern, Halbleitern, Schornsteinfegerleitern, Hühnerleitern, Feuerleitern, Strickleitern befehligt und dirgiert werden, würde ich meinen. Aber wer weiß, vielleicht ist das längst der Fall und mir ist es nur nicht bewusst geworden.
Gut gefällt mir Nikos Engonopoulos’ Gedicht “Das Alphabet der Blüten”. Jeder Vers eine Frage und eine Entscheidung. Das oder das? Das. Da kann man das Entscheiden schon mal üben. Engonopoulos dachte weit voraus. Im wirklichen Leben ginge es dann so vor sich, dass zuerst grob entschieden wird, dann feiner.
Menschen entscheiden gern. Angeblich sind sie lieber gegen etwas als für. Macht nichts. Wenn man weiß, was man nicht will, wird sich über kurz oder lang schon herausstellen, was dem, was man will, näher kommt. Es kann dann immer detaillierter betrachtet und entschieden werden. Kein Problem. Wenn es dem Weltfrieden, dem friedensstiftenden Getrennt-Voneinander-Sein des Menschen dient, ist es gut, denn die Menschen werden überglücklicher sein. Dünne brauchen nicht gezwungenermaßen zusammen zu sein mit Dicken. Leicht Übergewichtige nicht mit stark Übergewichtigen. Menschen ohne Sommersprossen nicht mit Sommersprossigen und nicht mit Sprossenwänden. Menschen mit wenigen Haaren nicht mit Wuschelköpfen, Kraushaarige nicht mit Glatthaarigen, Schwimmer nicht mit Nichtschwimmern, Hundeliebhaber nicht mit Hundehassern, Menschen mit Bluthochdruck nicht mit Papageienzüchtern, Bienenzüchter nicht mit Christen, Geologen nicht mit Hooligans, Nazis nicht mit Legastenikern, Sehende nicht mit Nichtschwimmern und und und … Welche Vielfalt in der Ausschließlichkeit!!! Aber damit nicht genug. Für diejenigen, die dünn sind und das Zusammensein mit Dicken glücklich machen würde, mit Sommersprossigen, Krebskranken, Schmetterlingsforschern, Hyperaktiven usw., für all diejenigen wird es Misch-Sektoren geben, für die sie sich entscheiden können. Für jede erdenkliche Spielart des für Menschen erträglichen Zusammenlebens einen Sektor! Und – als Sondergeschenk an die Menschheit: Jeder kann seine Entscheidung ändern und jederzeit in einen anderen Sektor wechseln.
Also: Machen wir’s kurz und nehmen die Aufteilung der Welt in Sektoren vor! Um dann zügig zum Entscheidungsprozess überzugehen. Es wird eine Weile dauern, bis alle Vorlieben und Abneigungen erfasst und aufgelistet sind. Falls ich dafür zuständig sein sollte, wird es noch ein wenig längern dauern, denn ich gebe mir immer große Mühe, möglichst alles zu beachten. Aber womöglich ist das gut und auch ein Aspekt der Menschheitsrettung, die doch noch glücken könnte. Wenn jegliches Bedürfnis des Menschen bekannt ist, erfolgt die Sektorenanlage auf den Kontinenten. Ich würde nicht darüber nachdenken, ob man statt der Erde lieber den Mond einteilen sollte oder den Mars, sondern ich würde gleich mit dem Planeten Erde anfangen. Auf dem Mars werden sich die meisten Probleme ohnehin nur fortsetzen. Das “Wie und wo der Mensch leben möchte” ist zumeist zweitrangig. Jemand, der nicht mit Diabetikern oder Schneckenexperten zusammensein will, wird froh sein, ihnen entkommen zu können, und sei es, dass er dafür in einen Sektor in Äquatornähe oder auf Grönland zieht. Wenn es ihm da nicht behagt, kann er ja in einen anderen Sektor wechseln, unter einer Bedingung: Dann auf Erden kein Gemaule mehr über Diabetiker, wenn notwendigerweise in Ausweichsektoren auch ein paar von denen registriert sind! Ist das gänzlich inakzeptabel, bliebe dann doch der Mars als absolute Ausweichmöglichkeit. Wer seine Aversionen gegen Dicke nicht loswird, hat – falls sich kein zusätzlicher Dicken-Ausweichsektor auf Erden finden sollte – irgendwann die Möglichkeit, nach hinter dem Pluto zu wechseln, denke ich mir. Es gibt noch reichlich Raum im All. Der Allmächtige hat Vorsorge getroffen. Sektoren, die in der Sahelzone liegen, könnten zudem akklimatisiert werden. Wie das bezahlt werden soll? Ganz einfach mit dem Geld, das andernfalls in Rüstung fehlinvestiert würde. Dieses Geschieße auf Erden, Entlauben, Begasen, Bombardieren, Veröden führt ohnehin nur in die Irre. Oder man stellt einfach Massen von Geld her. Es ist kinderleicht. Man braucht einfach Papier oder ein Material anderer Art und irgendwas, das darauf eine Zahl oder Zeichen abbildet. Man kann das auch virtuell machen. Dann muss man z.B. das Geld-Papier nicht mal mehr in die Hand nehmen. Das mit dem Geld ist eines der geringsten Probleme. Es geht auch mit Muscheln, Murmeln, Knochen, Steinchen, Kastanien und Eicheln, Knöpfen, Bohnen. Vorerst ist es schwieriger, für alle, die um nichts in der Welt einen passenden Sektor auf Erden finden können, weil es mit der künstlichen Akklimatisierung noch nicht so weit ist, eine Lösung herbeizuzaubern.
Ich persönlich bin derzeit mit Planet Lyrik bestens bedient. Ein Mensch weniger, der Entscheidungsschwierigkeiten hat. Ab und zu kommt der Kleine Prinz vorbei. Wir nähern uns dem Ziel: Glückliches All. Würde man in Brüssel den Quatsch mit der Hellhäutigen- und Dunkelhäutigen-Passkontroll-Anstellreihe sein lassen oder erst gar nicht damit anfangen, dann ginge es noch viel schneller, dass der Mensch endlich erlöst würde davon, falsch eingeordnet zu werden. Es läuft ohnehin wieder nur darauf hinaus, dass man irgendwann feststellt, dass niemand überhaupt die Idee hatte oder daran mitgewirkt hat, so eine Idee zu realisieren. Teilt uns nicht ein, Verdammte dieser Erde, sondern lasst einen jeden sich aufteilen!

© Ina Kutulas, am Tag der Brexit-Abstimmung

Schuldiger Erdbeermond am Weltflüchtlingstag

Der für den 24. Juni anstehende Johannistag folgt auf die Sommersonnenwende am 21. Juni. Zwischen Sommersonnenwende und Johanni mit Johannesfeuern, Sonnenfeuern wird Europa die Entscheidung über Brexit ja oder Brexit nein wohl mehr beschäftigen. Wende ja oder nein. Den einzelnen Europäer interessiert vielleicht in diesen Tagen, ob es regnet oder nicht, ob die Schafskälte endlich vorbei ist, Glühwürmchen fliegen, auch Johannisbeeren auf dem Markt sind, ob beim Fußball ein Tor fällt oder nicht, ob man den Erdbeermond, Junimond nicht verpasst, ob man zuhause sein muss oder nicht, besser geblieben wäre oder nicht, ob man richtig angezogen ist oder falsch, ob bei Gewitter ins Wasser gegangen wird oder auf gar keinen Fall und was man bei Gewitter macht in einem Boot. Was kauft man sich jetzt für die Überfahrt und den Weltuntergang? Das Projekt Wohnung, Location, Zuhause hängt in der Luft, Bilder noch an Nägeln, Leben am seidenen Faden. Was könnte man noch gebrauchen? Wo ist was schief gewickelt und noch gerade zu rücken? Wer hat gerufen? The answer my friend …
Viele Schuldhaber machen sich einfach ständig schuldig. Zwar gab es schon immer welche – Nachbarn, Verwandte, Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln und Gebäuden z.B., Immobilienbesitzer, Lehrer –, aber 2010 wurden es ruckartig mehr. Seitdem kein Ende abzusehen. „Wo endet das?“, fragte deshalb gestern jemand. Man könnte erstmal sagen: Im Niemandsland, damit überhaupt eine Antwort da ist. Wie wenn man dem Hund was hinschmeißen muss, damit er reflexartig zunächst danach schnappt.

Vor Kurzem noch konnte man in Deutschland täglich erfahren, dass Griechenland und speziell die Griechen die ganze Euro-Zone in Gefahr brächten. Schulden haben und schuld sind. Pools bauen bis zum Abwinken, und der deutsche Steuerzahler soll dafür blechen. Bis zum Juli 2015 wurde das kaum relativiert. Politik und Medien rechneten und erzählten es immer wieder vor, wie unberechenbar, unverschämt, gefährlich die Griechen Nichtgriechen werden können. Ein Mann sagte am Potsdamer Platz in eine Kamera, man müsse den Griechen die Pistole auf die Brust setzen. Und kurz darauf verkündete der Politiker Thomas Strobl: „Der Grieche hat jetzt lang genug genervt.“ Als wäre ein Knopf nicht mehr gedrückt worden, reduzierten sich von da an die Schlagzeilen zu Griechenland massiv oder waren ganz und gar verschwunden. Oder wurden ersetzt durch Schlagzeilen zu den so genannten Flüchtlingen.
Während das Wort „Griechen“ eher an „kriechen“ und „Kriechtiere“ erinnert, kann einem beim Wort „Flüchtling“ eher „Schmetterling“ in den Sinn kommen. Und „Flüchtiges“. Gedanken sind flüchtig, Gesten, Gase, Geruch, Pferde sind Flüchter und werden gezüchtet. Schnell verfliegt etwas und löst sich auf. In Wolken oder Schwärmen zieht es davon. Schwerelos. Ganz leicht und lautlos. Eine Weile ist es da, dann nicht mehr. Es muss vielleicht nur gelüftet werden. Möglicherweise helfen Fön oder Heizlüfter oder ein Gebläse. Pegasus hat Flügel. Der schafft es von allein. Von Griechenland hört man kaum noch was, von Griechen eigentlich auch nicht. Wahrscheinlich haben die sich erledigt. Einen Augenblick war es fast ruhig geworden. In Berlin ließ Innensenator Henkel ein Camp am Oranienplatz räumen. Asyl wurde gefordert. Irgendwas wird immer gewollt, ausgelöst, verschuldet. Dafür braucht es eine Lösung oder Verflüchtigung.
Inzwischen werden in Europa viele einzelne Schuldhaber gefunden von sich dazu berufen fühlenden Schuldigensuchern, die Schuldhaber abstrafen, weil der Staat versage, die Regierung. Einer muss es ja tun. In den Medien ist nun täglich davon zu erfahren, dass Hass zu Worten, Worte zu Hass, Hass zu Gewalttaten führen. 2016 ist das plötzlich ganz offensichtlich.
Es bedurfte nicht erst einer energetischen Wirkung der Sommersonnenwende und des vorausgehenden Erdbeermondes, einbezüglich des Leuchtens riesiger Zahlen von Glühwürmchen, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, sondern die Erkenntnis setzte auch bei vielen Journalisten, bei Regierenden und Schlichtwegmenschen schon etwas früher ein. Allerdings noch nicht 2010 oder 2011, 2012, 2013, 2014. Da waren Worte noch Worte oder auch einfach nur Wörter. „Gefahr“, „Pleite“, „Betrüger“, „Niedergang“, „Sauvolk“, „Mentalität“. Ohne weiteres ließen sich diese Wörter immer und immer wiederholen. Als seien Wörter hauptsächlich dazu da. Vermutlich gewannen sie mit der Zeit Gewichtigkeit, reiften, gewannen Gewicht, Schwere, nicht nur auf Zungen, sondern auch als Lasten, die immer größer wurden, erdrückender. Wann würde man sich endlich davon befreien können?
Schon bald hatte man nicht mehr nur eine Krise oder zwei, drei, sondern mehr. Da durfte man schon nach Verursachern fragen. Nach Schuldigen. Denn es gilt den Schuldhaber zu finden. Ist das gelungen, wird alles wieder gut. Das weiß man, seit erkannt worden war, dass es auch mal an Iphigenie lag. Sie war schuld. Dass der Wind nicht wehte. Die Widrigkeiten sich nicht auflösten, verflüchtigten. Die Schiffe nicht ausfahren konnten. Schuld – das ist eine zweckmäßige Sache. Damit lässt sich was anfangen. Hat man erst herausgefunden, dass welche da ist, muss nur noch gewusst werden, wo sie sich anhäuft oder von wem sie angehäuft wird. Dann kann man sie dingfest machen und aus der Welt schaffen.
Und wer stellt professionell Fragen danach und findet die Antworten? Journalisten. Medien kommen ihrer Informationspflicht nach, ganz einfach. Wer sonst? Journalisten und Berichterstatter sind dazu da. Das ist deren Beruf. Die werden dafür bezahlt. Andere müssen mit anderer Arbeit ihr Geld verdienen. Die haben keine Zeit zu recherchieren, Artikel zu schreiben und Fernsehbeiträge zu machen für die Gesamtbevölkerung. Wann sollten ein Straßenbahnfahrer oder ein Elektriker, Bäcker, ein Galerist oder eine Kitaerzieherin, eine Arzt, ein Geologe, ein Erdbeermond-Erforscher, ein Zootierpfleger, ein Professor für Astrophysik, ein Versicherungsfachmann das schaffen? Sie haben bereits genug damit zu tun, Artikel zu lesen und sich über das Fernsehen zu informieren, wenn ihnen die Zeit dafür reicht.
Also: Journalisten, an die Arbeit! Berichte werden gebraucht. Aufklärung. Details. Informationen. „Wie konnte es dazu kommen?“ Der „Focus“ hatte Antworten, hatte eine Aphrodite mit Stinkefinger auf die Titelseite der Ausgabe vom 22. Februar 2010 geklatscht, eine entsprechende Schlagzeile dazu („Betrüger in der Euro-Familie – Bringt uns GRIECHENLAND um unser Geld – und was ist mit Spanien, Portugal, Italien?“) und drei passende Artikel ins Heft: „2000 Jahre Niedergang“, „Gefährlich für die Weltwirtschaft“, „Die Griechenland-Pleite“. Verallgemeinerungen und Stigmatisierungen im Hinblick auf Griechenland und die Griechen folgten daraufhin Tag für Tag. An wie vielen Fingern waren die Stimmen abzuzählen, die in den Medien sich bemerkbar gemacht und Einhalt gefordert hätten? An den so genannten Stammtischen, querbeet durch alle Bevölkerungsschichten? In Regierungskreisen?

Fünf Jahre später. Im Juli 2015 stand auf dem „Focus“-Titel: „KEINEN CENT MEHR! – Wie Griechenland sich selbst, Europa und die Welt in Gefahr bringt“. Inzwischen stöhnte Deutschland unter den Griechen, den Lasten, allen Belastungen und Unwägbarkeiten und dem Wissen darüber, dass diese Qual offenbar kein Ende nehmen würde, weil die Verschuldung Griechenlands kein Ende zu nehmen versprach, sondern eher noch größer zu werden drohte und somit auch diese Schuld, Europa das eingebrockt zu haben. Die da, ganz unten an diesem Europa dran, so weit seitlich unten, dass man sich fragen konnte, ob die überhaupt zu Europa gehören. Man konnte es auch so sehen: Nein, die gehören nicht dazu, die können eigentlich weg. Grexit. Wär nicht so schlimm. Brexit ist schlimmer. Vielleicht weil das Wort mit „B“ statt mit „G“ beginnt. Manchmal ist das so in der Welt der Worte und des Lautwertes von Buchstaben.
Michael Klonovsky, der Verfasser des „Focus“-Beitrags „2000 Jahre Niedergang“ (2010) ist nicht mehr beim „Focus“, sondern seit Kurzem – wie er sich selbst bezeichnete – Spin Doctor, publizistischer Berater von Frauke Petry (AfD-Chefin). Und er tat kund: „Anders als ich in meiner Philippika behauptet habe, sind die Griechen nämlich das seriöseste, kulturell, wirtschaftlich und kulinarisch fortgeschrittenste Volk Europas, und fast alle Hellenen stammen in direkter Linie von Solon oder Perikles ab.“ Man höre und staune. Michael Klonovsky kann noch ganz anders. 2010 war er jung und hatte womöglich das Geld nötig. Dazu gesellte sich Erfahrung. Auch ein Einzelner kann was ausrichten.
Das erfährt man jetzt immer öfter. Worte können Waffen werden … Es brauchte seit 2010 bis zu dieser Erkenntnis, die nun da ist, nachdem die Worte bereits Waffen geworden waren, niedergestochen, geschossen und geprügelt wird, ins Gesicht gespuckt, Hand angelegt. „Wie konnte es soweit kommen?“, das findet man kaum noch formuliert, denn wer kann und will sich jetzt bei dieser Frage aufhalten, wo die Zeit drängt, wo jeden Moment die letzte Stunde geschlagen haben könnte, wo bereits klar ist, dass es soweit ist und längst über den Punkt hinaus, das überhaupt erstmal feststellen zu können. Auch mit dem „Wo endet das?“ ist sich schlecht zu beschäftigen, da kaum eine Antwort gefunden werden kann auf das „Wozu muss man das wissen?“. Im Niemandsland unter dem Erdbeermond hilft einem das kein Stück weiter.
Inzwischen sind Erklärungen da, ist gelernt worden – nicht nur von Michael Klonovsky, sondern hunderttausendfach: Gefahr kommt. Von außen. Sie reichert sich an, sättigt die Luft, die hier geatmet wird, verleibt sich Menschen hier ein. Und kommt alsbald von innen. Das merkt man dann, das wird irgendwann mal deutlich spürbar. Journalisten allerdings sind etwas schneller, vorinformiert, so dass sie die Menschen vorbereiten und einstimmen können, damit die sich nicht wundern, durcheinanderkommen und nachher gar nicht mehr wissen, wo es langgeht. Man könnte sagen: Von Journalisten lernen, heißt Siegen lernen, den kürzesten Weg einschlagen, wenn die Zeit drängt und Luft und Land knapp werden, womöglich.
Seit etwa einem Jahr sind die Flüchtlinge Schuldhaber, meist, und nach wie vor die Griechen, aber auch Politiker, die Medien, Hooligans, Gläubige, Paranoide, Parteien, die Reichen und die Armen, die Mittelschicht, die Über- und die Untergewichtigen, die Geborenen und die Ungeborenen, Sterbliche, Unsterbliche.
Schon allein die Flüchtlinge würden genügen, um viele Schuldhaber zu haben, die gefunden werden können. Momentan bieten sie sich etwas mehr an als die Griechen. Sie fallen stärker auf. Sie bleiben nicht einfach in ihren Ländern und verrecken da, sondern sie tragen ihre Gesichter hierher und schauen Menschen an aus ihren Augen. Das ist der Böse Blick. Viele viele Male der Böse Blick. Es heißt z.B.: „Die EU-Grenzschutzagentur Frontex rechnet in diesem Jahr mit 300.000 Flüchtlingen.“ 65 Millionen Flüchtlinge gebe es auf Erden insgesamt. Auch ist zu erfahren: „Deutschland verzeichnete bereits Anfang Dezember offiziell eine Million Flüchtlinge in diesem Jahr.“ Es könnte einem unheimlich werden. Aber wer nicht aufgehört hat, Gedichte zu lesen, dem wird vielleicht das Herz weit, denn Gedichte wirken Wunder gegen den Bösen Blick und geben ein unbegrenztes Raumgefühl, dem Niemandsland einen Namen, einen Platz.

Die kürzeste Nacht des Jahres naht. Dazu hat’s einen vollen Mond. Erdbeermond, Junimond. Der macht die kürzeste Nacht hell. Boote schaukeln, Boote kentern, Boote sinken, Boote landen.

Heute, am 20. Juni, dem Weltflüchtlingstag, erinnerte ich mich an Konstantinos Kavafis’ Gedicht „Warten auf die Barbaren“. Es beginnt mit:
„Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?
Auf die Barbaren, die heute kommen.“

Und das Gedicht endet so:
„Warum jetzt plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?
(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren
Sich die Straßen und Plätze so schnell, und
Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?
Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht
Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenze gekommen
Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.
Und nun, was sollen wir ohne Barbaren tun?
Diese Menschen waren immerhin eine Lösung.“

Wer Gedichte liest, hat viele Länder.
Wer zu denen gehören möchte, die viele Länder haben, der könnte das ganze Gedicht lesen. Johannes, der Täufer, hat seinen Tag und seine Nacht. Einen Erdbeermond gibt es nur alle 70 Jahre. Gedichte immer. Jeden Menschen nur einmal. Die Erdbeere kam aus Übersee. Sie war immerhin eine Lösung. Sie könnte überhaupt schuld sein.

© Ina Kutulas, 20.6.2016