Das Ultimative Ja zum Alphabet der Blüten

“Ja”, schrieben etliche Medien in Deutschland in den letzten Tagen, heißt: “Nai”. Der von mir sehr verehrte Professor Hans Eideneier würde es möglicherweise so schreiben: “Nä”.
Beides hat, für mein Gefühl, etwas für sich. Im “Nä” steckt davon etwas: Nähe. Im “Nai” steckt der Name “Ina”. Wie schön für mich, man muss die Buchstaben nur verdrehen. Ich muss mich aber nicht festlegen. Beides ist möglich, “Nai” und “Nä”. Weshalb sollte ich auf eines verzichten, wenn mir beides zur Verfügung steht. Das Inaversum kann beides gut gebrauchen. Selbst als Inäversum oder Naiversum.
Am Ostersonntag diesen Jahres saß ich in einem Raum, in dem ein Mensch aus Deutschland und ein Mensch aus Griechenland miteinander ins Gespräch gekommen waren. Zunächst ging es um den Mittelfinger von Jannis Varoufakis und dieses oder jenes, was dieser Finger ausgelöst habe, eigentlich oder im Grunde. Allmählich veränderte sich der Charakter des Gesprächs. Es wurde zunehmend angespannter, es beherrschte den Raum, es war keine andere Unterhaltung mehr möglich. Hin und wieder sagte der Mensch aus Griechenland: “Wir Griechen”, oder er sagte: “Ich bin ja Grieche und …”, oder: “Ich als Grieche”. Und der Mensch aus Deutschland erklärte: “Das ist für mich sehr problematisch, wenn du sagst “Ich als Grieche”, denn damit meinst du jedesmal: Du Deutscher. Ich fühle mich angegriffen.” Der Grieche fragte: “Wie soll ich mich denn nennen? Und wie soll ich mein Land nennen, wenn ich nicht Griechenland sagen soll?”
Es ging eine ganze Weile so hin und her. Es ging darum, sich als Europäer zu empfinden, eigentlich. “Deutscher” oder “Grieche”, “Griechenland” oder “Deutschland”, diese Wörter würden alles nur einschränken und immer einen von beiden in die Position eines Gegners drängen. Der Grieche würde, indem er sagt “ich als Grieche” immer zugleich auch sagen “du Deutscher”.
Es ergab sich daraus, dass man über keines der beiden Länder eigentlich mehr sprechen könne oder solle, sondern über Europa, über Afrika, über Notleidende in Afrika, denen ginge es noch viel schlimmer als den Menschen in Griechenland.
Der ganze Kontinent Afrika und speziell die misshandelten Feministinnen stand gegen Europa. Und das am Ostersonntag. An dem ein Mensch aus Griechenland einem Menschen aus Deutschland das Leben schwermachte, weil er sagte: “Ich als Grieche”.
“Lächerlich”, mischte ich mich schließlich ein, “worauf es hinausläuft: dass einer aus Griechenland nicht mehr sagen soll: Ich – Grieche, oder: Griechenland; sondern – um des Wohlbehagens willen besser: Europäer.” Imaste dio. Das allerdings forderte der Deutsche. Sonst ginge es ihm schlecht. Im wahrsten Sinne des Wortes war die ganze Welt “verrückt”. Es fielen die Worte “ich” und “du”, und ich dachte, dass aber auch das problematisch wird. Wenn “Grieche” und “Deutscher” die Europäer entzweit, dann wird auch jedes “ich” den Gesprächspartner ins “du” verweisen. Und jedes “du” jeden ins “ich”. Oh weh! Auch das würde zu einer fürchterlich tiiiiiiiiefen Kluft zwischen zwei Menschen führen, wenn beide nicht mehr jeder entweder nur noch “du” oder entweder nur noch “ich” sagen, sondern “ich” und “du” und damit unweigerlich eine Unterscheidung vornähmen. Um Himmelswillen: ein “du” und ein “ich”, ein “Grieche” und ein “Deutscher”, ein “Europäer” und ein “Weltbürger”, ein Feminist und ein Androist, ein Hüben und ein Drüben. Mauern Mauern Mauern. Und der Grieche ist schuld, weil er sagt “Ich bin Grieche”. Oder: “Griechenland”. Sich abgrenzt, überhaupt, vom Deutschen, von Europa, von der Welt. Alles habe in der Sprache seinen Kern. Was damit nicht alles angerichtet werden kann. Griechenland sollte man gar nicht mehr so nennen, ein Grieche sich nicht ständig so. Das sei das Problem, in dem überhaupt der Konflikt zwischen den beiden Ländern seine Ursache hat.
Wir sollten also besser nicht sagen: Deutschland, Polen, Japan, Rumänien, Spanien …? Das brächte jeweils alle andern gegen einen auf? Wer “ich” sagt, ist schuld, wer “du” sagt, genauso?
Verflixt und zugenäht, meinte ich. Zum Glück ist es noch nicht so weit, dass jeder, der “Griechenland” sagt, als Übeltäter ins Lager muss, weil er irgendeine deutsche Volksseele beschädigt. Derzeit ist so jemand allerhöchstens die Nervensäge, und dem Präsidenten des Europaparlements drohte mehrfach der Kragen zu platzen wegen solcher Nervensägen. Die vielen kaputten Hemden!!!! Das wird erst teuer!!!
“Lächerlich”, das wiederhole ich. Wenn alle Klugheit, in der ein Studium der Sprache gipfelt, mündet z.B. in die Forderung: “Lass das mal sein mit diesem Griechenland und Grieche, finde doch besser ein anderes Wort, du verursachst Probleme dadurch, einen Konflikt, Entzweiung”, wenn das die Folge eines Studiums der Kraft der Sprache ist, dann war entweder der Dozent ein Alien oder vom Studierenden hat eines Tages ein Geist Besitz ergriffen, für den gilt: “Griechenland? Was soll das sein? Braucht man das? Kann man das essen?”

Von allen Mails, die ich in einem Zeitraum von drei Jahren erhielt, in denen es darum ging, Griechenland zu unterstützen, kam öfter als jede andere Mail mit diesem Anliegen diejenige bei mir an, die zu einem Crowdfunding einlud. Keine Mail, in der es darum gegegangen war, eine Petition zu unterschreiben, einen öffentlichen Protest zu formulieren, zu einer Demo zu gehen, für die Freilassung eines Journalisten zu stimmen … was auch immer …, keine andere Mail war so häufig bei mir eingetroffen wie die, in der zugesagt wurde: würde man einen so oder so großen Eurobetrag einzahlen, damit eine Milliardengesamtsumme erreicht werden könne, dann erhielte man einen Feta-Salat oder eine Flasche Ouzo oder dieses oder jenes, etwas also zum Verschnabulieren, zum Anfassen. Gewiss, die Menschen brauchen zu trinken und zu essen, sonst verhungern sie; dann könnten sie gar keine Unterstützung mehr gewähren. Sonst geht’s ihnen hier in Deutschland auch bald so wie Menschen in Griechenland. Es kam zu Beratungen darüber, ob man diese Crowdfunding-Aktion mit dem Feta-Käse unterstützen solle, die Mail weiterverbreiten.
Ich dachte an die Episode zu DDR-Zeiten in Berlin, als in einer Straßenbahn ein Fahrgast die anderen Fahrgäste anging: “In Afrika sterben die Kinder. Und ihr fahrt Straßenbahn.”
Das Wort “Feta” wird unterschiedlich ausgesprochen. Ich hörte es mit langem “e”, wodurch der Käse zum Feten-Feta wurde. The big party. Oder, sehr selten, mit kurzem “e”, wodurch der Käse fett wurde. Wer will das schon. Machen wir Party oder werden wir fett? Das scheint von großer Bedeutung zu sein. Das gesprochene … nein, genauer: das so oder so ausgesprochene Wort – davon hängt eigentlich alles ab. Wie wir uns fühlen müssen, in welche Position wir gedrängt werden. Wie furchtbar, wenn ein Grieche “Griechenland” sagt, und noch dazu, dass dieses Griechenland seine Heimat ist …! Zuhilf zuhilf! “Du bringst uns ja alle in Gefahr!”, hörte ich den Alien-Geist flüstern, diese Illusion von Heimat – das ist gefäääääährlich. Zuhilf zuhilf, Herr Aliengeist! Die einen sagen “Feeta” und die anderen “Fetta”, die einen “Ne”, die andern “Nä”, die Fünfzehnten womöglich “Näääääääääää”, und ein winziges Stimmchen wird fragen: “Heißt es vielleicht: Nähe?” und ein anderes Stimmchen: “Heißt Nai vielleicht Nee, Nein, Njet, Nada, Nada Brahma oder was?” und ein anderes Stimmchen meldet sich womöglich und ruft: “Wir müssen den Griechen die Pistole auf die Brust setzen: Raus mit der Sprache!”
Es ist wieder Sonntag, ein ganzes Vierteljahr später. Das Inaversum sagt: Ja, Griechin. Ja, Grieche. Ja, Griechenland. Mal sehen, was die Kanzlerin sagt. “Ja” oder “Nein”, Top oder Flop, Sein oder Nichtsein. Von einem einzigen Wort einer einzigen Frau, von der Betonung wahrscheinlich oder davon, welchen Klang das technische Equipment in diesen wenigen entscheidenden Sekunden der Stimme der Kanzlerin verleiht, davon, wie das Licht sich in diesem Augenblick auf die Blätter legt, die sich im Wind bewegen, von einem Atemhauch, einem Lidschlag Gottes und davon, welche Regung das im Augenlid der Kanzlerin verursacht oder nicht, davon scheinen ganze Völker abhängig zu sein, Aufstieg oder Fall, Werden oder Vergehen, Griechenland oder Deutschland, Ja oder Nein oder Nai oder Nä … Die Große Schicksalssekunde fixiert die Welt mit ihrem Blick aus dem Auge des Heiligen Alien. Mein Schicksal häng ganz allein ab von Nikos Engonopoulos’ Gedicht:

Das Alphabet der Blüten

die Poesie oder den Ruhm?
die Poesie
die Geldbörse oder das Leben?
das Leben
Christus oder Barrabas?
Christus
Galatia oder eine Hütte?
Galatia
die Kunst oder den Tod?
die Kunst
den Krieg oder den Frieden?
den Frieden

Hero oder Leandros?
Hero
das Fleisch oder die Gebeine?
das Fleisch
der Frau oder den Mann?
die Frau
die Zeichnung oder die Farbe?
die Farbe
die Liebe oder die Gleichgültigkeit?
die Liebe
den Haß oder die Gleichgültigkeit?
den Haß
den Krieg oder den Frieden?
den Krieg

jetzt oder ewig?
ewig
diesen oder jenen?
diesen
dich oder jenen?
dich
das Alpha oder das O mega?
das Alpha
die Bewegung oder die Ankunft?
die Bewegung
die Freude oder die Trauer?
die Freude
die Trauer oder die Langeweile?
die Trauer
den Menschen oder die Sehnsucht?
die Sehnsucht
den Krieg oder den Frieden?
den Frieden

geliebt werden oder lieben?
daß ich liebe