Folgend der Laufmasche durch die Häkelschrift der untermächtigen Überwäsche

 

Dieser Irrglaube, wir könnten von anderen ernsthaft erwarten,
sich so zu geben, dass wir sie endlich erträglich fänden …,
darin liegt einer der Gründe für unsere Vernichtung.
Pavlos Angelopoulos, 1987

 

Über Matthias Baader-Holst zu schreiben, würde für mich keinen Sinn machen, bezöge ich mich ausschließlich auf die Vergangenheit: wieso weshalb warum ist er in eine Straßenbahn gelaufen, wie sah er aus, wie agierte er, was hatte er zu sagen, wie hoch war seine Gasrechnung, hatte die Gasrechnung etwas damit zu tun, dass er des öfteren mit Gasmaske in Erscheinung trat? Ich ließe mich besser fragen, mir sagen: HAT sein fortwährendes In-Erscheinung-Treten, des öfteren mit Gasmaske, etwas zu tun mit den Gasmaskenträgern vom 26.9. oder vom 9.10.2012, Athen, mit dem unbewaffneten Mädchen im roten Shirt vom 25.9.2012, Madrid, traktiert vom Polizeiknüppel, in den Klammergriff genommen und weggeschleift. Wenn sie will, die ganze Welt, sie kann es sich anschauen, Tag für Tag, was dieser Baader mit ihr zu schaffen hat.

Es könnte mir gefallen, über Sofia in den Spree-Athener Sophienhöfen zu schreiben am Tag, als Sanya aus Sofia nach Berlin kam. Es könnte mir gefallen, über Nelson Mandela und das Mandala zu schreiben. Es könnte mir gefallen, den Broiler wieder neben dem Boiler zu verzehren. Es könnte mir gefallen, über Baader und mich zu schreiben, wir standen am Kastanienbaum, der in Blüte stand, Baader und ich in den Gardinen-Brautschleier gewickelt, unter der Krone des Anne-Frank-Baums. Am Tag, als ich darüber schrieb, geriet Anne Marie Frank in meinen Text, am Tag, als der Kastanienbaum seine Früchte abwarf wie Geschosse, am Tag, als die Gummigeschosse gegen die Protestierenden abgefeuert wurden in Madrid, an Tagen, als die Protestierenden ferngehalten wurden von den Parlamenten, an Tagen, als die Parlamente die Protestierenden verrieten, an Tagen, als der Sturm ging, an Tagen, als Anne Marie Frank in Auschwitz-Birkenau war, in der Zeit des jüdischen Neujahrsfests, in der Zeit von Jom Kippur, in der Zeit des Laubhüttenfests, in der Zeit, als die stachligen Schalen der Kastanienfrüchte aufbrachen, wenn sie aufschlugen auf dem Boden, in der Zeit, da Medea im Lande Medien sich umdrehen musste, um endlich einen Blick zurück zu schicken zu ihren von ihrer Hand ermordeten Kindern. Medea trug ein langes Kleid. Medea ging ich an. Baader trug einen Tarnanzug und wurde dadurch auffällig, zwei Polizisten hielten ihn an wegen seiner „Überangezogenheit“, am Tag, als der Eintritt in die Museen frei war, so frei wie ein Eintritt zur Demonstration, und Baader trägt wieder den Tarnanzug und ich noch einmal den Baaderbrautanzug. Ich hab all das in der Hand und nichts als meine SAG-Maske einzubüßen.

Unser Brautmantelkleid war, ist die Decke, unter der die Herbeigerufenen nach wie vor stecken, Gelittene und Untragbare, Verzagte und Verdammte, gut ausgestattet mit diesem Crazy Baader Holst Patchwork – zu werden ein Patchword: der blaue Gottesmuttermantel, der Mantel des Christophorus, Novalis’ lange Haare und seine Mantelknöpfe, der Hemdkragen des Friedrich Hölderlin, le Chiffon Rouge, das Tuch des Jannis Ritsos, der Bakuninslip, der Schurz eines Tarzan, der Pelzmantel des Joseph Beuys, der Stock des St. Patrik in den Händen Artauds und dessen Stummer Schrei – aufgefangen vom Stummen Schrei Edvard Munchs -, ein Zylinderhut von Magritte, Majakowskis XXL-Hose im Wolkenwind, die Schuh- und Kofferberge von Auschwitz, Sophie Scholls Seitenscheitel und die Weiße Rose und die Weißen Rosen von Athen, die Nana Mouskouri herbei sang, Manolis Glezos’ Fahne und die Weiße Rose der Sophie Scholl in den Händen des Falk Harnack in Athen, die Ketten Günter Wallraffs in Athen, Andreas Baaders Jeansanzug, die Flieger-Kappe Johannes Baaders, Frank Lanzendörfers Lederjacke, der Kleiderstoff der Anna Achmatowa, Heiner Müllers Brille, Inge Müllers fast knielange Kinderstrümpfe, Rotkäppchens Korb, Wawerzineks Hebammentasche, Jan Faktors Armbanduhr, Elke Erbs bodenlange Röcke und Schlüsselbänder um der Autorin Hals, die Jesuslatschen, Schlipse, Badekappen, Rasierklingen, Emaillebroschen, Häkchen und Ösen, Bernsteinketten, die Heftpflaster, die Scheuerlappen, das Häkelgarn, der rote Wischmopp, der Baader zur Perücke wurde, Bert Papenfuß’ Springerstiefel, Johannes Jansens weiße Herrenhemden, Gregor Kunz’ Lederband oder Bänder „und dann wieder nicht“, Frida Kahlos Blusen, Wolfgang Hilbigs Umhängetasche, Adolf Endlers Bart, Tilo Köhlers blaues T-Shirt, Gert Hofs selbstgestrickte Unterwäsche, Christel Seidel-Zaprassis’ Klöppelspitzen, Leggings, Palästinensertücher, Militärmäntel, Batikblusen, Büstenhalter, Schlenkerbeutel, V-Pullover, Hosenträger, Geheimnisträger, Gummistiefel, Nylonkittel, Malimo, Rosa Extra, Mondos, Chinafrottee, Assi-Jacken, Konsumjeans, Bundeswehrparka, das Mantelfutter, die unerschöpfliche, bodenlose Frechheit, dieses Sammelsurium, diese Lumpenkiste mit allem, was auf keine Kuhhaut mehr ging und das es in keinem schlechten Russenfilm gab. Darin lag, liegt Baaders Macht. Er machte, macht damit, darum und daraus permanent Aktion, Theater, Welle, Tugend, seinen Schmerzbau.

Häufig erschien er im Tarnanzug oder Turnanzug und mit Gasmaske. So auch zu einer Szenischen Lesung des Stückes „Sondeur“ von Jannis Ritsos, die mehrere Autoren und Autorinnen + 1 männliches Baby in einem Kino in Dresden anlässlich des 80. Geburtstages des griechischen Dichters veranstalteten. Baader wechselte generell gern seine Kostümierung, wie auch ich an diesem Tag im Frühling 1989. Von der Taucherin wurde ich zur Pilotin mit Badekappe, zur Rennfahrerin mit Pelzkragen, und im letzten Bild sollte ich als Braut erscheinen. Man hatte mir allerdings abgeraten, eine Feinstrumpfhose mit String-Tanga-Print, die mir aus Athen, also aus dem kapitalistischen Ausland geschickt worden war, zu tragen und meine Beine zu zeigen. Ich sollte auf keinen Fall in dieser Aufmachung auf die Bühne gehen. Das bekümmerte mich sehr. Die Gründe konnte ich nur ahnen: Vielleicht hätte mein Aufputz gegen die Brandschutzregeln oder gegen die Hygienebestimmungen verstoßen. Ich war in der sechsten Woche schwanger und meinte, ich sei um den verrücktesten Augenblick meines bis dahin währenden Mädchendaseins gebracht. Während das Publikum im Saal dem Dokumentarfilm über Ritsos folgte – Sag Himmel, auch wenn keiner ist -, stand ich, die unglückliche DiesesTagsNachtBraut, einige Meter hinter der Leinwand und vergoss vor Wut salzige Tränen, die String-Tanga-Print-Feinstrumpfhose in der Hand. Baader erfasste die Situation, setzte die Gasmaske ab und zog sich diese Strumpfhose über den Kopf. Dann zog er mich am Brautschleier, führte mich hin und her, als müssten wir einen Gang zum Altar proben, und dann ging er mit mir noch weiter. Draußen roch es nach lackiertem Holz und Gärung. Baader beugte sich über mich, er nahm mir mit seinen Spinnennetzhäkelfingern den weißen Schleier ab, zog seine Jacke aus und hängte sie mir über. Er wickelte den meterlangen Plauener Gardinen-Tüll um sich, um mich und um den Stamm einer Kastanie und begann zu sprechen. Wir waren abwesend, ich ging in seiner Rede unter und auf. Er zelebrierte diese Messe. Er wollte mir den Helga-Hahnemann-Behandlungsstuhl verschaffen, den Gynäkologenstuhl des Doktor Mengele. Er sezierte aus dem Wort Urinal meinen Namen und steckte ihn mir zwischen die Lippen. Bevor sie dich anzeigen, hab ich dich auszuführen. Über uns die Fülle der Blütenkerzen, es streuten sich weiße Blätter auf uns mit Spuren von Karminrot, ich bekam ein Baader-Holst-Gamma-Eule-Nachtfalter-Tatoo, ich bekam den Schlag mit der Grünen Rose und hatte noch tagelang Schmerzen am Halse.

Meine Schwangerschaft verlief hervorragend. Wahrscheinlich wegen seiner Ermutigung zur Überangezogenheit, wegen dieser Berührung mit dem Nagel des Kleinen Fingers, wegen dieser gemeinsamen Vorgeschichte im Zelt aus Bügelvlies, wegen des Nähkästchens, in das wir unsere Plaudereien gesagt hatten, im September 1985, als die Badewanne in der Prenzlauer Allee zur Baaderwanne geworden war und sich nicht wieder rückverwandeln ließ, wegen der Gasschutztür, die ich ins Spiel gebracht hatte und an deren rostiger Drehrosette Baader seine Finger färbte. Es gab Goldbroiler im Stehen neben dem Boiler und Nacht für Nacht Janna Bitschewskaja, kalte Mandarinen im Kühlschrank, Erbsen mit Rauchfleisch, kein Handwasch-, dafür aber zwei Spülbecken und ein Einzelbett. Es gab Milchbrötchen und Schriften aus Milch und den Tintenkiller und die Korrekturflüssigkeit. Vom Zeiss-Großplanetarium herüber richtete sich etwas auf uns, über dessen Strahl wir in den Innenraum des gesprengten Gasometers gelangten, wo wir die Dokumente vergruben und die Hände einer in des anderen Taschen. Wir befingerten die Löcher, die geplatzten Nähte, die Velour-, Krepp- und Packpapierstreifen. Wir besiegelten unser stilles Einvernehmen mit etwas Ofenrohrfarbe.

Ich bin keinem anderen Menschen begegnet, der sich dermaßen konsequent keiner Kleiderordnung unterwarf, der so aus der Reihe tanzte und jegliche Eitelkeit verunmöglichte, der Klamotten so aus- und anzog, er besaß eigentlich keine Klamotten, sondern er nahm sich ihrer für eine Weile an, sie tauchten irgendwann bei ihm auf und verschwanden irgendwann wieder. Im Grunde war er immer nur nackt und der Demokratischste von allen in dieser Republik. Er untergrub das Diktat der Bekleidungsindustrie stets und ständig. Er war für knapp eine Woche mein persönliches Mode-Institut, mein Exquisit, mein Intershop, mein Natascha-Laden. Er baute mir ein Tipi. Er rief mich „Squaw!“ Er sprach: „Howgh!“ Er verschnitt die Webpelzmusterstücke, die ich im Koffer hatte. Er benutzte Nahttrenner, Einfädler und Kopierrädchen. Er kritzelte in meinen Zeichnungen herum. Er versuchte sich als Rabindranath Tagore. Er leckte das Kohle- und das Butterbrot- und das Millimeter- und das Achatpapier und die Sonderbriefmarken von den Weltfestspielen. Er entwarf ein Schnittmuster für einen Klimtkussmantel. Er zweckentfremdete den Kapselheber. Er demonstrierte mit Reißbrettstiften, Pusteröhrchen und Fixativ, wie man sich unmöglich macht. Er fragte nach Buchbinderleinen und Hasenleim, nach Jutta, Gutta, Ochsengalle. Er ließ sich das Wort Sprelacart wieder und wieder auf der Zunge zergehen. Er widerfuhr mir. Er tätowierte meinen Knetgummi mit der Radiernadel. Er sprang aus dem Anzug, erbot sich mir als Lichttisch, pauste sich durch, applizierte seinen Lebendgeruch mit Kreuz- und Hexenstich in meinen Ausweis. Er verschwand. Er ließ das Wasser laufen. Er tauchte wieder auf.

Er ging an die Quelle. Er stellte sich schützend vor die Briefe an die Jugend des Jahres 2017. Er entfachte Feuer. Er war mehr als eigen. Man schaue ihn sich an. Das wird uns blühen. Man werfe einen Blick in die Dreizeitigkeit. Noch fünf Jahre, dann werden wir hinüber sein. Baader passt gut nach Griechenland. Er ist darin aufgehoben, und Griechenlands Unterangezogenheit findet in ihm seine Entsprechung. Die Athener Gasmasken riechen nach seinem Atem. Die Vertreibung der Klamotten-Nazis nahm durch ihn einen Neuanfang. Kleider machen nach wie vor Leute im Herz-Ghetto, das den Menschen von einer Kammer in die andere Kammer schickt. Athenwitz, Athenbelsen, Athenwald, Athenhausen, Athenblinka.

Matthias, oh Haupt, atme durch, zieh dich aus, geh baadern, voll Blut und Wunden, folgend deiner ureigenen Matthäus-Passion, überbringe deine Fruchtblase den Parlamentariern, lege deine Eierkuchen ihnen zu Füßen, du Lumpenstrumpf, und lass sie sich daran sättigen, bis ihnen die Augen übergehen. Dein Hunger regiere. Komm an die Magnetische Tafel. Vermählen wir uns erneut bei diesem Mahl. Lass uns baad-duschen im Sag-Gas, ins Totgesagte komm und schau, ich lass mich deine Fresse halten und halt du mir die Klappe, die Schleierschleppe, die Treue, den Brustmaulkorb, ausgestopft mit stinkenden, schimmligen Fußlappen. Ich verzehr deinen Pustekuchen. An deinem unsichtbaren Faden die Welt hängt. Wer wen abschleppt – du wirst es mir sagen, gestern, immer wieder, unter den Kastaniengestirnen, hinter dem Berg aus Grünen Rosen, unter der Saugglocke deiner dahergesagten Worte, hinter der Gasmaske im Nebel deines Fixativ.

 
Berlin, Oktober 2012
© Ina Kutulas

Die Kanzlerin spaziert nie einfach so von hier nach da und zurück

 

Das Café „Dionysos“ mit exklusivem Blick auf die Akropolis ist an diesem neunten Tag im November leer und sehr gut beheizt. „Viele Leute haben das nicht“, kommentiert Chris, „die können diesen Winter das Heizöl nicht bezahlen.“ Für meine Denkarbeit war die Zeit im zum Kühlschrank gewordenen Zimmer tödlich. „Kalt kalt kalt“, das Einzige, was mir durch den Kopf ging, selbst sechs Grad plus genügten nicht, eine Vorstellung von Wärme aufkommen zu lassen. Teile des Gesichts schmerzten, von den Händen zog die Schneide bis zu den Ellbogen hinauf. Knut Hamsun, „Hunger“. Ich weiß, wovon du sprichst. Und das Mal davor war es noch ärger, die Limonade zum Block gefroren, die Flasche zersprungen, vier Wochen verbrachte ich die Nachmittage und Abende unter der Federbettdecke. Dass ich Marquez las, blieb mir in Erinnerung. Aber was genau, welches seiner Bücher? Das Wasser war abgestellt, damit die Leitungen nicht platzten, jeden Abend gegen sechs Uhr füllte die Mutter der Vermieterin einen 20-Liter-Eimer für mich. In der nächsten Wohnung wurde es nicht besser. Manchmal ging ich von acht bis elf Uhr abends durch die Straßen der kleinen Ortschaft, weil es draußen im Schnee wärmer war als drinnen. Ich sah die hell erleuchteten Fenster und dachte: „Dort haben sie’s warm.“ Ich setzte mich in der Bahnhofshalle eine Weile auf die Bank. Aber selbst das Holz war kalt. Trotzdem ging ich jeden dritten Tag wieder hin und blieb etwa eine Viertelstunde dort. Ein Mädchen hielt der Bahnhofskatze einen Finger vor’s Maul: „Beiß beiß beiß!“ Ich versuchte, an das zu denken, was ich gelesen hatte. Uta dann eines Tages: „Komm zu mir bis zum Frühling.“ Bei ihr wohnte ich länger als sechs Wochen. Abends betrachteten wir vom Schlafplatz aus die Sterne. Morgens gingen wir zusammen zur Arbeit. Tagsüber sahen wir uns kaum, außer in der Mittagspause. Im Speisesaal war es warm. Man sagte: „Mahlzeit“, wenn man sich zu den anderen an den Tisch setzte. Im Atelier und in der Weberei war es warm. So auch in der Lohnbuchhaltung, in der Kaderleitung und in der Buchhandlung im Ort. In den Schulen war es bestimmt auch warm. In der Bäckerei war es manchmal sogar heiß. Aber im Hinterhaus spürte ich davon nichts. Manchmal klagte die Mutter der Vermieterin darüber, dass man ihr alles weggenommen hatte, und ich hörte ihr zu. Bei ihr im Flur war es auch warm. In keiner der Wohnungen gab es ein WC mit Spülung. Ende des 20. Jahrhunderts. Jetzt leben wir im 21. Jahrhundert. Die Menschen fällen Bäume, Olivenbäume, Akazien, Pappeln, Maulbeerbäume, Feigenbäume, Kiefern und noch andere Bäume, um mit dem Holz Feuer im Kamin machen zu können, damit überhaupt noch irgendwas geht. Es hängt natürlich davon ab, ob es einen Kamin in der Wohnung gibt. Oder die ganze Familie zieht, wie vor 50 Jahren, wieder in die Küche, wo gekocht wird und wo es deshalb einigermaßen warm ist. „Denen es vorher gut ging, denen geht’s jetzt auch noch gut“, sagt Friederiki. Ich kenne nicht die Namen aller Bäume. Bliebe mir aber mehr Zeit und gäbe es jemanden, der sich auskennt, würde ich sie irgendwann wissen, egal, ob das jemanden interessiert oder nicht. „Es ist nicht genug zu wissen.“

Ob man im Wohnviertel etwas merkt von der Krise, so die Frage. „Ich war ja da“, sagt Lotti, „ich weiß ja, wie es da riecht, wie es aussieht. Diese Fotos decken sich nicht mit dem, was ich erlebt, was ich kennen gelernt habe.“ Lotti wendet die Seiten des Buchs „Avenue Patrice Lumumba“. „Aber wann beginnen Fotos zu duften?“ Und wann, in welchem Licht, bei wie viel Grad minus beginnen meine Augen Hamsuns Hunger zu sehen, beginnt mein Geruchssinn den Duft des Jasmin als nicht mehr existent wahrzunehmen oder zu verklären, obwohl ich die Blüte direkt vor der Nase habe. Es ist kaum noch Musik zu hören. Die Schulkinder lärmen, die Glocke schlägt sehr schnell. Kaum noch Musik. Wenn immer Musik war, fällt es auf, wenn keine mehr ist. Aber den Unterschied wahrzunehmen, muss man dort gewesen sein und es erlebt haben. Oder man muss es erfahren haben, davon gehört oder es sich einfach vorstellen können. Wenn man es sich nicht vorstellen kann, gibt es keinen Unterschied. Wenn man selbst nicht da gewesen ist, weiß man es einfach nicht. Oder doch. „Griechenland verschwindet? Wie meinst du das? Die Menschen verschwinden ja nicht. Es ist dann eben so etwas wie ein kleines, armes Land in Afrika.“ Ein Platz wird sich sicher finden für jede der lächelnden Koren des Akropolis-Museums, ob sie dann in der Eremitage stehen oder ob Athen türkisch sein wird oder russisch oder deutsch oder Griechenland unter chinesischem oder kanadischem Protektorat steht oder ob es Ruganien heißt. Die Koren müssen die marmornen Granatäpfel sicher nicht aus der Hand geben, und niemand wird so dumm sein, ihnen die Hände abzuschlagen und ihnen das Lächeln aus den marmornen Gesichtern zu kratzen. Dieses Lächeln gehört ja nicht den Griechen allein. Dieses Lächeln gehört immer denen, die sich einen Kore leisten können. Es ist ganz einfach. Nichts geht verloren, so lange es als in jemandes Besitz befindlich betrachtet wird. Ein Tier gehört dem, der es zähmt und sich vertraut macht, so erfuhr der Kleine Prinz vom Fuchs. Oder gehorcht.

Durch völlig leere Straßen in der Athener Innenstadt ging Angelika Merkel an der Seite von Andonis Samaras am 26.10.2012, die protestierende Bevölkerung wurde ferngehalten, 7.000 Polizisten waren zusammengezogen worden, um die Sicherheit der deutschen Kanzlerin zu gewährleisten. Keine Stecknadel. Dass kaum Musik zu hören ist, ungewöhnlich. Dass die Straßen der Athener Innenstadt vollkommen leer waren, ungewöhnlich. Hast du persönlich die Menschen Schlange stehen sehen vor den Suppenküchen? Nein. Hast du persönlich eine einzige Mutter ihr Kind bei einem SOS-Kinderdorf abgeben sehen? Nein. Hast du persönlich teilgenommen an einer Demonstration auf dem Syndagma-Platz? Nein. Wer weiß, ob es stimmt, was man hört. Ich stand auf dem Bahnsteig der Metro-Station Syndagma-Platz und hörte die Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste! Um 14 Uhr werden diese und drei weitere Stationen des Innenstadtbereichs geschlossen. Die Belüftungsanlage ist außer Kraft.“ Oberirdisch der Platz mit den abgeschlagenen Marmorplatten der Treppenverkleidung. Ich hätte gedacht, dass der Schaden viel größer sei. Dem Augenschein nach waren die Orangen, Bohnen und Tomaten auf dem Samstagsmarkt weitaus aromatischer als in den Jahren zuvor. Können Fotos riechen? Ist die Wirklichkeit eher zu lesen, wenn du sie verstummen lässt in deinen Fingern? Schreib alles auf. Fotografiere. Sing. Geh auf die Straße. Zieh dich aus. Spring. Weiche der Zukunft aus. Verspeise das Lied. Ernähre dich von deiner Markise. Iss das Schwein deines Nachbarn. Du bist Terrorist, wenn du einen Job willst. „Heute Abend“, sagte Kostas, „werde ich dabei sein, vor dem Parlament. Du weißt nicht, was hier los ist. Ich hab die Juntazeit miterlebt. Das hier ist schlimmer als zur Zeit der Junta.“ Wenn du dich nur nicht täuschst. Wenn du nur nicht irrst. Wenn du nur die Wahrheit sagen würdest. Wenn du die Wahrheit kennen würdest. Wenn du hier wärest, mit eigenen Augen sehen könntest, wenn du bliebest, wenn du nicht bleiben könntest, wenn du ausweichen müsstest, wenn du in dein Unglück rennen müsstest. „Manche sind seltsam geworden“, so der Dichter, „die sagen mir: Du hast ja Arbeit, du kannst mich absolut nicht verstehen, von mir bekommst du gar nichts, weder einen Text noch eine Zeichnung. Du weißt ja nicht, wie es mir geht … Und andere sagen gar nichts mehr.“ Im Parlament treten sie ans Rednerpult, einer nach dem anderen und sprechen. Kaum einer, der nicht etwas mehr Redezeit verlangt. Dieser Herr: „Griechenland ist nicht Iphigenie.“ Meint er Iphigenie, bevor sie geopfert wurde, Iphigenie im Augenblick, da sie geopfert wird, oder Iphigenie, die entrückt weiter existiert, anderswo, eine Zeitlang, übergangsweise. Die Medien berichten davon, dass bei den Protestversammlungen Tränengas und Blendgranaten zum Einsatz kommen. Die dort waren, haben anderes zu berichten. Wem kann man glauben. Ich glaube denen, die dort waren und in Panik gerieten. Ich glaube denen, die sich nicht mehr jeden Tag rasieren. Ich glaube denen, die sich noch nicht rasieren müssen. Ich glaube denen, die den Zahnarzt nicht mehr bezahlen können. Ich glaube denen, die immer geschrieben haben. Ich glaube denen, die viele Lieder in- und auswendig wissen. Ich glaube denen, die sagen, sie hätten sich geirrt. In ihnen, letztendlich, erkennt Griechenland sich wieder. Aber vielleicht irre ich. Vielleicht war ich nie dort. Vielleicht war es der zehnte Novembertag. Und vielleicht war es erst der elfte, an dem ich ankam, als ich abflog und meinte, nichts gesehen zu haben mit meinen Augen. Die kleine Kanzlerin hebt die Hand.

Berlin, 14. November 2012
© Ina Kutulas

Am anderen Ufer der Elbe liegt China

 

Herbert L. bin ich bisher leider nur dreimal begegnet. Das erste Mal in Dresden, da, wo er wohnte, und es hing ein Seil im Eingangsbereich von einer sehr hohen Decke herunter, und ein Kind fasste es und schwang hin und her, und ich dachte: So etwas gibt es also auch in dieser Republik, alle Achtung! Das zweite Mal traf eine Postkarte ein mit der Frage, wo man in Griechenland am besten mit dem Rad das Land erkunden könnte. Vielleicht irre ich mich, aber ich meine mich zu erinnern, dass Herbert L. in Griechenland mit dem Rad herumfahren wollte, und dass er nie auf den Gedanken gekommen wäre, dass das schwierig werden könnte. Auf solche Gedanken kam ich. Aber wir Menschen haben sehr unterschiedliche Erfahrungen. Ich glaube, ich sah Herbert L. vor meinem geistigen Auge mit einer Pudelmütze mit Bommel. Männer, die ihre Ohren schützen, können nicht unbedacht handeln, meine ich. Das dritte Mal traf ich Herbert L. 2011. Wir sahen zusammen einen Film und unterhielten uns und später saßen wir zusammen in seinem Auto, und ich glaube, es lag dort etwas Stroh herum, es war in einem der Sommermonate – oder irre ich, Herbert?, und du hast in deinem Auto ab und zu trockenes Gras transportiert. Für deinen Vater? – Herberts Vater lebt im Altersheim. Einmal, als Herbert mit seinem Vater an der Elbe spazieren ging, zeigte der Vater über den Fluss hin zum anderen Ufer und sagte: „Da drüben … liegt China.“ Pause. Dann, bedacht: „Aber das verstehen die Leute in meinem Altersheim nicht.“

Für mich ist diese Aussage eine der schönsten Liebeserklärungen an das Leben, in vielerlei Hinsicht. Nicht nur, weil der Name Ina sich reimt auf China. Das ist noch das Wenigste.

Mein Kollege Gregor Kunz zitierte einmal seine Kollegin Barbara Köhler: „Der Elbe in Dresden sieht man den Atlantik nicht an.“ So jedenfalls meine ich es zu erinnern. Ich kann mich irren. Aber es war auf jeden Fall nicht: „Wer weiß, ob man die dicken Einleitungsrohre noch sieht.“ Ich freue mich auf die korrigierenden Worte von Gregor Kunz oder Barbara Köhler … oder Tilo Köhler. Sie haben etwas zu sagen. Es geschehe! Wann auch immer. Zeit ist genug. Am anderen Ufer der Elbe liegt China. Winke winke. Eure Ina!

© Ina Kutulas

Für Gert Hof

 

Zum Jahreswechsel – Immer wieder

2012 dachte ich immer wieder an Gert. Im Januar, als er starb. Im Februar zur Beerdigung – es war ein kalter Tag, in der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs ließ Wanja das letzte Lied hören „Hurt“ von Johnny Cash:

… If I could start again,
A million miles away,
I will keep myself,
I would find a way …

Die beiden Herren vom Personal öffneten die Flügeltür. Es fielen riesige Schneeflocken aus dem Himmel und bedeckten das dunkle Grün ringsum. Ansonsten war alles ganz schwarz. Einer war mit einem riesigen roten Schal gekommen. Rob trug große Ringe und stand eine Weile für sich. Im Februar waren wir bei Mikis und hörten seine Sinfonien. Im März, während ich „Medea“ von Mikis hörte, als ich las und las und las, was in Griechenland vor sich geht. Im April, als ich Griechenland vor mir sah und Gert in Griechenland, als ich „Medea“ von Mikis hörte und mich erinnerte an Hamburg. Im Mai, der mich erinnerte an unseren Aufenthalt auf Rhodos, 2006, als Gert mit riesengroßen Schritten allein weit voraus ging bis ans Ende der Mole. In diesem unbeschreiblichen Juni, der mich erinnerte an Gert mit einem Halm in der Hand. Im Juli, der mich erinnerte an einen Tag, als wir uns zufällig in die Arme liefen, auf der Greifswalder Straße, 2010, Gert suchte sein Auto. Im August, als wir mit Bella im Nuthe-Urstromtal drehten für „Medea“. Im September, der mich erinnerte an die Fahrt mit dem Schiff. Im Oktober, der mich erinnerte an das erste Mal, als ich Gert überhaupt sah – kurz, 1999, in der Passionskirche – und an New York, als Gert über den Millennium-Event Berlin nachdachte. Im November, der mich erinnerte. Und jetzt, im Dezember, der mich erinnerte. Vor zwölf Jahren rasten die Bilder durch uns hindurch, die unser Weg sein sollten für so viele Jahre, wie ein Jahr Monate hat. Jetzt sind es bald dreizehn. Das Jahr Gert verlängert sich. Ich wüsste gern, wie du die Sache siehst, Syndrofos Avli … Griechenland, wo das Meerwasser von Varkisa nachts sich mühte, schwarz zu bleiben; in Limnos stach uns die Sonne am frühen Nachmittag fast besinnungslos, Kopfschmerz, Minze statt Aspirin. Wanjas Satz, der immer wieder zitiert wurde: „Papa, sei nicht traurig.“ Und immer wieder Temperamine aus Dosen oder auch nicht. „I will keep myself“. I will find a way. See you, Gert.

———————————

Das an die Nieren geht 

gewidmet Gert Hof
 

DAS. Das an die Nieren geht. Und wenn im Rachen des Alls eine Zunge sich spitzt. Hervor schnellt sie, Erdengötter zu greifen. Drei … Zwei … Eins … Zero. Diesen Kuss der ganzen Welt. Satt ist zu essen vom Durst. Wer kosten will vom groben Brot der Wahrheit, muss Märchen verschlungen haben.

Einmal wird sein … Aus dem Schlaf schreckte der Junge mit dem weißen Gesicht und vernahm das Kratzen und Schürfen. Aus dem Schlaf drang das Wachen wie aus Falten das Tal, unerhört. Draußen wuchs wohl das Gebirge der elften Stunde. Es lauern unter dem Bett, wie man weiß, keine Eintagsfliegen. Da juckte es das Kind im Rückenmark. Es lief durchs Zimmer ungeachtet aller Finsternis und riss das Fenster auf. In diesem Augenblick zertrümmerte des Sturmes Stille die Krone des Süßkirschbaums und eine Zacke des dunkelsten Sterns schlug dem Jungen das Auge aus. Flog eine Krähe herbei und sprach, bis sie gealtert war und von Rede leer und aufgesaugt wurde von schlehblauer Farbe, tintenvergällt.

Einmal wird sein. Der Junge mit dem weißen Gesicht warf sich zurück in sein Bett, dem aber das Fenster nun anverwandelt war. So glitt das Kind in den Äther und wusste eine klaffende Wunde in der Welt. Fortan kannten den Jungen die Engel der höheren Ordnung, und wenn sie gut gelaunt waren, dann riefen sie ihn bei seinem Namen. Waren sie aber missmutig, dann forderten sie die Dinge des Unmöglichen ein. Einmal wird sein.

Das Nichtermüdende Wasser sollte der Junge mit dem weißen Gesicht und dem Reptilienauge suchen gehen. Und sollte, so er es gefunden hatte, einen Krug davon tragen durch die ganze Welt und nicht einen einzigen Tropfen davon verschütten, und – angekommen am hohen Berg der Bescheidenheit, der hinüberragt an die Sohle des Ur-Ozeans – selbst leeren den Krug, um beraubt zu sein allen Schlafs und gequält von sämtlichen Träumen, die nun keine Seele mehr finden, sie heimsuchen zu können. Denn das Nichtermüdende Wasser war feuriges Elixier, das an die Nieren geht. Dem brenn ich die Augen aus – so klang dieses Hecheln.

Solche Art, Licht zu machen, ist Wachtraumgeburt. Und was wachend geträumt wird, zischelt, wie man weiß, unerhörter noch als das im Schlaf Erschaute. Der Äußere Raum schlägt um, das Innere stülpt sich über sein Selbst. Fasst das ein Meer, bewehrt mit Himmelsspiegeln. Taucher aus Taucha, einmal wird sein, das Wrack der Titanic jagt dich aus Venus’ Bahnen in die Arenen des Saturn. Musik schlaucht Atemstoff. Blendwerk trifft Augenlicht. Wird so der Stahl gehärtet und gelichtstrahlt der Dachstuhl der Welt. Im Höhlenschwarz hast du Gesicht gezeigt. Hell wurde es, weiß wie Blüten von Kirschen. Oder wie von Kirschblüten nicht. Wie Salzlake, die rinnt hinab an Orangenbaumstämmen.

Und wieder die Prüfungen der Götter. Und die Prüfungen der Menschen. Mit gleißenden Zinken sollst die Sphärenäcker du durchpflügen, sprudelnde Sterne säen, die Glutfelder wässern mit Sonnenschmelze und Stroh verspinnen zu Gold.

Darüber kann ich nur lachen, sagt der Junge mit dem schneefarbenen Gesicht. Und ersteigt die Sternentreppe. Und stößt die Tür auf zum Raum, wo im Ofen die Sonne verbrennt. Und trinkt von Wasser und Licht, um sterben, sich erden zu können und wieder zu werden. Einmal wird sein. Denn er weiß eine Krähe, die Augen aushackt, und einen Adler, der Leber frisst, und seinen geflügelten Drachen, dessen Feuerzunge den Wächtern des Eisernen Turms an die Nieren geht.

Berlin, Januar 2012
© Ina Kutulas